von Nick Lüthi

Parasitäres Paraphrasieren als problematische Praxis

Artikel aus anderen Medien zusammenzufassen geht schnell und kostet wenig. Darum findet sich besonders auf gratis Online-Portalen eine Vielzahl abgeschriebener Artikel. Das ist nicht verboten, solange sauber zitiert wird. Dennoch bleibt ein Unbehagen ob der parasitären Praxis. Das Problem sieht auch der Verlegerverband und will darum seine Mitglieder sensibilisieren.

Sonntag ist Abschreibtag. Wenn trotz Nachrichtenflaute die Online-Redaktionen den Output hoch halten müssen, dann hilft der Blick zur Konkurrenz. Und in den Sonntagsblättern finden sich oft attraktive Recherchen und exklusive Hintergrundgeschichten. Mit vergleichsweise bescheidenem Aufwand lassen die sich zusammenfassen und auf der eigenen Plattform veröffentlichen.

So geht das Sonntag für Sonntag. Wenn etwa die «NZZ am Sonntag» eine aufwändige und exklusive Recherche in ihrem Hintergrund-Ressort publiziert, finden sich nur Stunden später mehr oder weniger akkurate Zusammenschriebe des Originals auf News-Plattformen wie «20min.ch», «blick.ch» oder «Nau.ch». Ob der überraschende Einblick in das Wirken des windigen Waffenhändlers Heinrich Thomet oder die Story eines 31-jährigen Briten, der ungebremst ein Vermögen im Zürcher Casino verzockt: Beide aufwändig recherchierten Eigenleistungen der «NZZ am Sonntag», um zwei Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit zu nennen, fanden in komprimierter Form schnell den Weg hinter der Paywall hervor auf die Gratis-Portale. Der Redaktor, der die Thomet-Recherche für «blick.ch» zusammenfasste, erklärt sein Vorgehen so: «Als Nachtredaktor bin ich angewiesen, interessante Stücke mit sauberer Quellenangabe zusammenzuschreiben. Auch wir werden ja von anderen Portalen und Blättern zitiert. Unsere Story war noch mit eigenem Material angereichert.»

Der Aufwand ist weit geringer, einen anderswo bereits veröffentlichten Text zusammenzufassen, als einen Stoff selbst von Grund auf zu erarbeiten.

So wird natürlich nicht nur am Sonntag gearbeitet. Jeder Tag ist Abschreibtag. Solange die Quelle sauber deklariert wird, tut damit niemand etwas Verbotenes, sondern grundsätzlich sogar etwas sehr Nützliches. Information verbreitet sich erst durch Vervielfältigung. Dennoch bleibt ein fahler Nachgeschmack zurück. Das liegt vor allem an der Systematik der Abschreiberei. Der Aufwand ist weit geringer, einen anderswo bereits veröffentlichten Text zusammenzufassen, als einen Stoff selbst von Grund auf zu erarbeiten. Deshalb liegt die Versuchung nahe, sich regelmässig und kostenfrei am Buffet der Konkurrenz zu bedienen.

In welchem Mass das genau geschieht, lässt sich nicht im Detail eruieren. Ein Blick in die Schweizer Mediendatenbank SMD gibt aber Hinweise auf die Grössenordnung. So veröffentlichte beispielsweise das News-Portal «Nau.ch» in den letzten 365 Tagen rund 200 Artikel, in denen die NZZ als einzige Quelle genannt wird. Eine Sprecherin von «Nau.ch» erklärt den Umgang mit Artikeln aus anderen Medien so: «Generell übernehmen wir Fakten nur als ersten Schritt und bauen unsere Eigenrecherche dann darauf auf.» Oft bleibt es aber beim ersten Schritt.

Wenn darauf hingewiesen wird, der Link führe zu einem kostenpflichtigen Artikel, wirkt dies mehr als Warnung denn als Empfehlung.

Auch wenn es ein Autor, eine Autorin als Kompliment auffassen kann, dass andere Medien den Artikel für abschreibwürdig halten, bringt diese Form der Würdigung weder Ruhm noch Geld. Im Gegenteil. Wer nach dem betreffenden Thema sucht, findet in der Regel zuerst die Kopie. Da diese zeitlich nach dem Original erstellt wurde, gilt sie als aktueller und wird bei der Suche entsprechend prominenter angezeigt. Und selbst wenn die Kopie mittels Link freundlicherweise auf das Original verweist, gibt es keinen Grund, die Quelle zu konsultieren, da schon alles Wichtige im Zusammenschrieb steht. Wenn zudem noch darauf hingewiesen wird, der Link führe zu einem kostenpflichtigen Artikel, wirkt dies mehr als Warnung denn als Empfehlung.

Ist das ein Problem? Es gibt zumindest eine gewisse Problemwahrnehmung in der Branche. Die MEDIENWOCHE wurde in den letzten Monaten verschiedentlich auf die verbreitete Praxis des parasitären Paraphrasierens hingewiesen. Oft zusammen mit der Frage, ob solches Vorgehen überhaupt rechtens sei. Die Antwort liest sich recht eindeutig.

«Es mag ärgerlich sein, dass Dritte die Inhalte einer aufwändigen Recherche einfach so übernehmen können, rechtlich ist das aber wohl hinzunehmen.»
Florent Thouvenin, Professor Uni Zürich

«Es ist aus urheberrechtlicher Sicht völlig unproblematisch, die Geschichte eines andern in eigenen Worten zu erzählen», hält der Berner Jurist und Urheberrechtsspezialist Willi Egloff auf Anfrage der MEDIENWOCHE fest. Auch Florent Thouvenin, Professor am Lehrstuhl für Informations- und Kommunikationsrecht der Universität Zürich, winkt ab: «Es mag ärgerlich sein, dass Dritte die Inhalte einer aufwändigen Recherche einfach so übernehmen können, rechtlich ist das aber wohl hinzunehmen.» Die eigentlich eindeutigen Einschätzung der beiden Rechtswissenschaftler stehen unter dem Vorbehalt, dass sich in der Schweiz bisher noch kein Gericht mit dieser Frage beschäftigt hat.

Wenn das Recht keinen Hebel bietet, dann vielleicht die Ethik? Aber auch hier: Fehlanzeige. Solange es sich nicht um ein Plagiat handle, heisst es beim Presserat, stehe im Kodex und den dazugehörigen Richtlinien nichts, was Anlass dazu gäbe, hier einzugreifen.

Damit ist klar: Redaktionen, die aufwändig und attraktiv produzierte Inhalte verkaufen möchten, müssen sich damit abfinden, dass die Konkurrenz mit ein paar Handgriffen daraus Content formen darf fürs eigene Geschäft.

«So lange beide damit Geld verdienen, sehe ich kein Problem in der Textübernahme.»
Martin Oswald, CH Media

Martin Oswald von CH Media kennt das Problem und sagt im Gespräch mit der MEDIENWOCHE: «Das Zitatrecht stellt eine besondere Herausforderung dar, wenn man seine Inhalte monetarisieren will.» Allerdings sei es schwierig bis unmöglich zu beziffern, ob dadurch ein wirtschaftlicher Schaden entstehe. Tatsächlich dürfte es mit vertretbarem Aufwand kaum eruierter sein, welcher Betrag einer Bezahlpublikation verlustig geht, weil andere mit deren abgekupferten Inhalten hausieren gehen. «So lange beide damit Geld verdienen, sehe ich kein Problem in der Textübernahme», sagt Oswald und ergänzt aber: «Die Redaktion einer Bezahlseite hat natürlich wenig Freude daran, wenn kurz nach der Veröffentlichung bereits die Gratis-Konkurrenz das Thema übernimmt und veröffentlicht.»

Bei CH Media, wo Oswald derzeit als Projektleiter Digitale Transformation arbeitet, gibt es die Gratis-Konkurrenz im eigenen Haus in Form von drei Reichweitenportalen in der Ost- und Zentralschweiz – also dort, wo CH Media für seine kostenpflichtigen Online-Medien ein zahlendes Publikum sucht. «Wir sprechen uns mit ihnen ab, was sie übernehmen können», sagt Martin Oswald. Gegenstand der Absprache sei auch der Umfang der Textübernahmen. Der dürfe nicht zu lang sein, damit es noch einen Grund gibt, das Original zu lesen. Bei CH Media erhofft man sich so auch einen gewissen Teaser-Effekt für die Bezahlinhalte.

Bei der NZZ hält man «systematisches Abkupfern» zwar für «schlechten Stil», vertraut aber auf die eigene Stärke.

Dass man sich innerhalb eines Unternehmens abspricht, liegt auf der Hand. Aber wäre es nicht auch möglich, sich innerhalb der Branche auf gewisse Gepflogenheiten zu einigen? Vorausgesetzt natürlich, dass es einen Leidensdruck gibt, der zum Handeln zwingt. Dieser scheint indes nicht besonders ausgeprägt zu sein. Sowohl die NZZ als auch Tamedia, die beide ihren Erfolg zunehmend mit Bezahlinhalten suchen, sehen zu diesem spezifischen Punkt keinen Handlungsbedarf. Man setze darauf, heisst es bei Tamedia, «dass die Leserinnen und Leser über einen längeren Zeitraum erkennen, welche Redaktionen ihnen unabhängige Eigenleistungen bieten». Steigende Umsätze mit Online-Abos würden als als Beleg dafür dienen, dass dies gelinge. Bei der NZZ hält man «systematisches Abkupfern» zwar für «schlechten Stil», vertraut aber auch auf die eigene Stärke und sieht keinen Anlass, etwas zu unternehmen.

Eine aktive Rolle könnte der Verband Schweizer Medien spielen. Nach einer entsprechenden Anfrage der MEDIENWOCHE liess der Verband bei einer Anwaltskanzlei den Sachverhalt abklären. Der Befund eines Juristen liest sich nicht so eindeutig, wie die Einschätzung der beiden weiter oben zitierten Experten. Es könnte insofern eine Urheberrechtsverletzung vorliegen, «wenn eine Zustimmung für die Verwendung eines Werkes zweiter Hand fehlt und Zeitungsartikel genommen und paraphrasiert werden». Ob dieses Verhalten auch unlauter sei, müsste wohl an einem konkreten Fall geprüft werden, ergänzt der vom Verlegerverband betraute Jurist. Beim Verband heisst es, man werde nun den Kontakt zu den Mitgliedern suchen, da aufgrund der fachlichen Einschätzung «durchaus die Möglichkeit auf ein juristisches Vorgehen möglich wäre, sollten denn Ressourcen und Interessen dafür vorhanden sein respektive keine informelle Einigung möglich sein.»

Verglichen mit anderen Baustellen und Brennpunkten, erscheint die Sache mit dem Abschreiben als vernachlässigbarer Nebenschauplatz. Ein wirtschaftlicher Schaden lässt sich ebenso schlecht belegen wie ein geldwerter Nutzen im (unwahrscheinlichen) Fall einer wie auch immer gearteten Sanktionierung. Darum sei die Prognose gewagt: Es geht weiter wie bisher. Ja, der Spardruck dürfte das parasitäre Paraphrasieren sogar noch weiter begünstigen.

Leserbeiträge

Daniel Andorey 04. Dezember 2020, 11:19

Sehr gutes Thema, und Merci, dass Sie das mal aufgegriffen haben. Ganz früher im Bleizeitalter gab es so genannte „Schäri-Redaktoren“, also Redaktoren, die Texte aus anderen Zeitungen mit der Schere ausschnitten – und dann neu für eigene Kleinblatt setzen liessen. Es ist immer noch die gleiche Masche. Wobei die Sonntagszeitungen am späten Samstagabend mit ihren Vorabmeldungen selbst die Werbetrommel rühren und ihre besten Storys in Kurzform unter die Leute bringen. Die Ego-Währung ist Aufmerksamkeit. Und im übrigen: Nicht jede übernommene Meldung in der Primeur-Geilheit ist auch korrekt… auch da gäbe es viele Beispiele. Schuld ist dann nicht der Abschreiber, sagt der Abschreiber, sondern…

ceeschow 04. Dezember 2020, 11:28

Die Methode „Parpar“ ist nicht in den Medien entwickelt worden und hat in diesen, wie Juristen  und Ökonomen einstimmig festhalten, keine ökonomischen Wirkungen und ist ergo nicht justiziabel. Ethik (und so) bleibt außerhalb der Erwägungen, da Journalismus wie Politik weitgehend ethikfrei praktiziert werden und eben das an den Fakultäten der „Politik- und Medienwissenschaften“ gelehrt wird.

Apropos Wissenschaft: Per „Parpar“ kann man zu höheren Weihen aufsteigen, z.B. zur Botschafterin beim Vatikan. Man plagiiert nicht infantil  wie weiland v.u.z. Guttenberg, sondern paraphrasiert eloquent wie Frau No-Dr. Schavan.  Diese wurde von ihrer Vertrauten Angela Merkel mit dem höchste Ethik voraussetzenden Amt der deutschen Botschafterin im Vatikanstaat betraut.

Gerhard Lob 04. Dezember 2020, 15:26

Sehr schön, dass sich Nick Lüthi diesem Problem angenommen hat. Die Frage der Urheberschaft scheint mir aber von den Experten unterschätzt zu werden. Hier geht es ja um einen Content-Diebstahl. Wird dieser Diebstahl legal, indem man einfach ein paar Mal sagt, wo man diesen Text gestohlen hat? Ich habe es persönlich schon öfter erlebt, dass Texte mit copy/paste kopiert und wiederverwendet werden, indem man vielleicht dann zwei Mal die Quelle angegeben wird (gemäss dem Muster: „Laut einem Bericht der Zeitung xxx“). Es sind eben häufig nicht Zusammenfassungen oder „Paraphasierungen“, sondern Originaltexte, die einfach kopiert werden. Persönlich finde ich, dieser Praxis muss ein Riegel geschoben werden.

Klopath Tschamüll 04. Dezember 2020, 17:21

Private könnten ein Investigativcenter schaffen, wo eben recherchiert wird, ohne die Artikel zu veröffentlichen. 20minuten, nau.ch und Co. aber auch die NZZ oder der Tagi könnten dann die Artikel kaufen. Und publizieren.