KenFM, Rubikon, Tichys Einblick: Warum «alternative Medien» ein Millionenpublikum finden
Sogenannte alternative Medien mit verschwörungstheoretischem Einschlag erfreuen sich immer grösserer Beliebtheit. Ihren Erfolg verdanken sie einem einfachen Schema: Ein Kern Wahrheit wird in einen Teig aus Halb- und Unwahrheiten gerollt. Warum dieses Vorgehen so wirksam ist und wie journalistische Medien damit umgehen können, besprechen Christian Caspar und Marko Ković in unserem Podcast «Das Monokel».
Mit der Geburt des World Wide Web in den 1990er Jahren keimte die Hoffnung auf, dass ein goldenes Zeitalter der Demokratie angebrochen sei. Plötzlich nämlich schien das, was lange Zeit als philosophisches Ideal galt, endlich Realität zu werden: Zum ersten Mal hatte nun jede und jeder die Möglichkeit, am öffentlichen Diskurs aktiv teilzunehmen.
Die überkommene Aufteilung in privilegierte Massenmedien, zu denen nur Eliten Zugang haben, und den Rest der Bevölkerung als passive Rezipienten, schien aufgebrochen. Das Internet sollte das demokratische Spielfeld ebnen und endlich auch jenen eine Stimme gegeben, die bisher stumm waren.
Ganz so rosig hat sich die Lage bekanntlich nicht entwickelt. Aber das Internet hat dennoch eine gewisse Demokratisierung des öffentlichen Diskurses möglich gemacht. Klassische journalistische Medienorganisationen sind auch heute noch die wichtigsten Ankerpunkte im öffentlichen Diskurs – aber die Stimmen, die mitreden und ein Publikum finden, sind vielfältiger geworden. Neue journalistische Angebote, kleinere und grössere Blogs, Social Media-Persönlichkeiten, Diskussionsforen, Newsletter, YouTube-Kanäle, Podcasts – das Internet hat all diese neuen Formate und Inhalte ermöglicht.
Zu dieser neuen, pluralistischen Öffentlichkeit gehören auch sogenannte alternative Medien.
Gemeint sind damit, wie der Kommunikationswissenschaftler Wolfgang Schweiger in seinem Buch «Der (des)informierte Bürger im Netz» beschreibt: Nachrichtenportale, die keine Anbindung zu klassischen Medienorganisationen haben, nicht nach klassischen journalistischen oder medienethischen Standards arbeiten und schwerpunktmässig meinungsbetonte Berichterstattung zu aktuellen Ereignissen produzieren.
Alternative Medien können in weltanschaulicher Hinsicht grundsätzlich sehr vielfältig sein. Gemein ist ihnen, wie die Philosophin Nancy Fraser in ihrem Aufsatz «Rethinking the Public Sphere» argumentiert, dass sie den als dominant wahrgenommenen öffentlichen Diskurs anfechten und in einer Art Gegenöffentlichkeit ihre Gegendiskurse herstellen. In den vergangenen Jahrzehnten gab es beispielsweise feministische, LGBTQ-, Anti-Atom-, sozialistische, umweltschutzbezogene und zahlreiche weitere Gegenöffentlichkeiten, die über Magazine, Newsletter, Radiosendungen und dergleichen funktioniert haben.
Die heutigen alternativen Medien haben aber einen anderen Einschlag als die früheren linken Gegenöffentlichkeiten.
Diese Publikationen und Plattformen sind mit der Zeit entweder eingegangen oder dümpeln mit beschränkter Reichweite vor sich hin – auch darum, weil ein Teil der Forderungen dieser einstigen Gegenöffentlichkeiten erfüllt sind. In Studien nicht zuletzt im Kontext der Coronavirus-Pandemie zeigt sich, dass die reichweitenstarken alternativen Medien von heute durchaus auch eher rechtspopulistisches Gedankengut portieren, vor allem aber einen verschwörungstheoretischen, mit Desinformation und Halbwahrheiten gespickten Duktus pflegen.
Zu dieser neuen Riege der Alternativmedien zählen Portale und Magazine wie «KenFM», «Compact», «Rubikon», «Tichys Einblick», «Achse des Guten», «Sputnik News» oder «RT Deutsch». Bekannte Schweizer Adressen sind beispielsweise das Magazin «Zeitpunkt», «Klagemauer TV» oder das «Alpenparlament». Mit Ausnahme der russischen Staatssender «Sputnik News» und «RT Deutsch» handelt es sich dabei um autonome Plattformen, die in erster Linie dank der Unterstützung ihrer Publika funktionieren.
Die Art und Weise, wie diese neuen alternativen Medien operieren, kann exemplarisch an einem Artikel bei «Tichys Einblick» aufgezeigt werden.
Am 15. Dezember wurde dort die Kolumne «Die verlorenen Lektionen von Tamiflu und anderen Impfstoffen» veröffentlicht. Der Artikel greift einen kritischen Beitrag in der renommierten medizinischen Fachzeitschrift BMJ auf. Die Chefredaktorin beanstandet in ihrem Artikel, dass wir in der aktuellen Pandemie eine ähnliche Episode wie damals in der Vogelgrippe-Pandemie erleben: Mit einem therapeutischen Arzneimittel werden Milliarden verdient, aber das Arzneimittel stellt sich später als unwirksam heraus. 2009 gab es einen Hype um das Arzneimittel Tamiflu von Roche, 2020 um das Arzneimittel Remdesivir von Gilead Sciences – und beide haben sich als im Wesentlichen unwirksam herausgestellt. Die BMJ-Chefredaktorin mahnt darum, dass auch bei den Coronavirus-Impfungen alle Studienergebnisse vollständig und kritisch zu prüfen seien und die Zulassungsbehörden sich nicht durch PR-Hypes beeinflussen lassen dürfen. Diese Forderung des BMJ ist die rationale Sicht der evidenzbasierten Medizin.
Bei «Tichys Einblick» erhält der BMJ-Artikel einen subtilen, aber wirksamen Desinformations-Spin: In Titel und Lead wird Tamiflu als Impfung beschrieben. Doch Tamiflu ist (genauso wie Remdesivir) keine Impfung, sondern ein Arzneimittel, das nach der Ansteckung eingenommen werden sollte. So wird jedoch der Eindruck erweckt, dass es früher schon Pandemie-Impfungen gegeben habe, die unwirksam waren – und darum auch die jetzigen Impfungen unwirksam sein müssen.
In der Kolumne bei «Tichys Einblick» wird auch die Influenza-Impfung Pandemrix erwähnt, die 2009 bei der Schweinegrippe zum Einsatz kam. Der Autor empört sich darüber, dass Pandermix einen Teil der Geimpften schwer erkranken liess: Sie würden lebenslänglich an Narkolepsie leiden. Es stimmt, dass Pandermix (ein wirksamer Impfstoff) wegen einer Autoimmun-Reaktion das Narkolepsie-Risiko erhöhen konnte. Doch der Schaden war bei den geimpften Menschen aber nicht insofern nicht lebenslang, als das Narkolepsie-Risiko gemäss mehreren systematischen Untersuchungen durch Pandemrix nur bis maximal zwei Jahre lang erhöht war. (Aber natürlich ist jeder vermeidbare Narkolepsie-Fall bedauernswert.)
Dieser Artikel bei «Tichys Einblick» zeigt exemplarisch die Erfolgsformel der neuen alternativen Medien auf. Im Kern wird etwas Wahres aufgegriffen (ein Artikel in der Fachzeitschrift BMJ). Dieser wahre Kern wird aber verzerrt wiedergegeben und mit Halb- oder Unwahrheiten angereichert (Tamiflu sei eine Impfung). Dann werden weitere im Kern wahre Fakten hinzugezogen (Pandemrix hat das Narkolepsie-Risiko erhöht), die dann einerseits auch wieder mit Desinformation versehen werden (Pandemrix habe lebenslängliche Schäden verursacht), andererseits aber mit der eigentlichen Thematik nichts zu tun haben (die Wirksamkeit von Pandemrix ist wissenschaftlich unumstritten).
Auf dieser Grundlage lassen sich dann wunderbar Emotionen bewirtschaften: Die verzerrten und teilweise frei erfundenen Puzzleteile ergeben im Ganzen zwar kein sinnvolles Bild. Aber nicht zuletzt, weil sie einen Kern Wahrheit enthalten, eignen sich sehr gut als Grundlage für Wut und Empörung.
Die neuen alternativen Medien sind also nicht Plattformen für offensichtlichen Humbug à la Flache Erde-Theorie und Reptiloiden-Verschwörung. Sie greifen im Kern wahre und durchaus problematische Dinge auf und verweben sie mit Narrativen, die mit der Realität nur noch wenig zu tun haben. Das macht sie so erfolgreich und gefährlich.
Was tun, um dem Schaden der alternativen Medien und ihrer Desinformation beizukommen?
Wir sollten den Ball an die journalistischen Medien zurückspielen. Einerseits müssen sich diese kritisch mit den alternativen Medien auseinandersetzen und aufzeigen, wo und wie dort Fakten mit gefährlicher Fiktion vermischt werden. Andererseits sollten sich die journalistischen Medien selber stärker dem «Kerngeschäft» der alternativen Medien widmen: der Gesellschaftskritik.
Im öffentlichen Diskurs ist fundierte Gesellschafts- und Machtkritik unabdingbar. Alternative Medien liefern eine solche, aber sie ist reichlich irrational. Indem sich journalistische Medien wieder stärker ihrer Kritikfunktion widmen, nehmen sie den alternativen Medien den Wind aus den Segeln – und bauen nebenbei auch wieder Vertrauen in der Bevölkerung auf.
Bild: Andrej Lišakov auf Unsplash
Maurizio von Büren 22. Dezember 2020, 20:24
Dieser Artikel bei «Tichys Einblick» zeigt exemplarisch die Erfolgsformel der neuen alternativen Medien auf.“
Also sitzen die Übeltäter vor ihren Bildschirmen und entwerfen, einem Giftmischer gleich, ein durch im richtigen Verhältnis gemixtes Gebräu bestehend aus, einem Teil Wahrheit, einem Teil Desinformation, einem Schuss Emotion einer Prise Verzerrung noch etwas Bosheit – et voila, fertig ist der demagogische Erguss.
Die klassischen Medien arbeiten natürlich im Gegensatz objektiv, deskriptiv und der absoluten Wahrheit verpflichtet, was exemplarisch zum Beispiel in der Berichterstattung zur Politik von Donald Trump klar zum Ausdruck gekommen ist.
Die klassischen Medien betrachten sich immer noch als heilige Kuh und bemerken durch ihre Überheblichkeit nicht, den Drift, der sie vom Ausgangspunkt ihres Ethos entfernt hat.
Klaus Schlösser 22. Dezember 2020, 21:06
Entsprechend meinem ärztlichen Wissen ist es keine Fehlinformation, wenn Tichys Einblicke schreibt, dass Narkolepsie eine dauerhafte Erkrankung ist. Ich halte Ihre Angabe, dass sie maximal 2 Jahre anhält, für eine Fehlinformation. In dem verlinkten Artikel ist zu lesen, dass in einem Zeitraum von 2 Jahren nach der Impfung die entsprechenden Narkolepsiefälle in Schweden aufgetreten sind. Alle Fallbeschreibungen, die ich in wissenschaftlichen Artikeln finden konnte, beschreiben einen zeitlich unbegrenzten Verlauf.
Vielleicht sind die Alternativen Medien doch sorgfältiger in ihrer Recherche, als Sie es hier darstellen wollen.
Marko Kovic 22. Dezember 2020, 21:27
Grüezi Herr Schlösser
Das habe ich im Text etwas unglücklich formuliert. Wenn Sie die systematischen Reviews, die verlinkt sind, lesen, sehen Sie, dass das erhöhte Narkolepsie-Risiko durch Pandemrix nicht länger als rund zwei Jahre lang gesteigert war. Die Stelle im Text passe ich an.
Mit bestem Gruss
Marko Kovic
Marcel Rieder 24. Dezember 2020, 11:06
Bitte diese Runde einmal von A bis Z zu Ende hören und mir dann genau erklären was daran gefährlich bzw. verschwörerisch ist. Ich bin ein Freund von Wahrheit und Aufklärung:
https://www.youtube.com/watch?v=4qjCGggM570&t=1858s
Lahor 06. Januar 2021, 07:33
Ein sehr manipulativer Artikel
Ich ahnte bei der Aufzählung der „verschwörerischen“ („rechtspopulistischen“) Medien, dass Tichys Einblick (oder Achse des Guten) an den Pranger gestellt würde, denn das Medium ist stark. Und siehe da, es kam wie geahnt.
Nun, was kam? Es wurde ein differenzierter Artikel gefunden, in dem ein Mittel (Tamiflu) als Impfstoff (statt Kur) fehlbezeichnet wurde, wobei dies irrelevant ist, denn es ging um ein medizinisches Produkt, welches nicht hielt, was Laien (Politiker) versprachen.
Das fällt sogar mir, einem dezidierten Impfbefürworter, auf.
Tichys Einblick ist ein wertvolles Medium, und es begeht Fehler wie Tagi oder NZZ auch. Wegen einzelner Haare in der Suppe ein Medium in den rechtspopulistischen Dreck zu ziehen ist Manipulation.
Chance verpasst. Denn es gibt sie, die rechts- wie linkspopulistischen Medien zuhauf. Ich würde mich auf Agitatoren à la Restle oder Honegger konzentrieren und aufzeigen, was diese ihren Heimmedien an Bärendiensten erweisen.
Marko Kovic 06. Januar 2021, 12:50
Ähm, mit Verlaub, das ist einfach nur Gugus. Im kritisierten Artikel von Tichys Einblick wird ziemlich klar Desinformation betrieben: Der Autor streut u.a. eine eklatante Falschinformation (Tamiflu sei eine Impfung), um damit Zweifel an Corona-Impfungen zu wecken. Dass die Strategie funktioniert, lässt sich nicht zuletzt in den empörten Kommentaren unter dem Tichys Einblick-Artikel ablesen.
Aber klar, man kann der Meinung sein, dass Wahrheit und die Realität „irrelevant“ sind. Es heisst wohl nicht umsonst, wir befänden uns im postfaktischen Zeitalter.
Lahor 06. Januar 2021, 14:20
Sie widerlegen meine Kritik an Ihrem Haar-in-der-Suppe-gefunden-Artikel nicht.
Zweifel an der Forschung sind IMMER gut, denn sie befeuern Innovation, Qualitätsbewusstsein und Wettbewerb (all das, was Linke, siehe SRF, nicht so schätzen).
Es GIBT sehr wohl rechtspopulistische „Alternativmedien“, aber gerade Tichys Einblick und Achse des Guten gehören nicht dazu. Deren Autor/innen sind qualifiziert, nicht weniger als jene von Republik, Inside Paradeplatz oder ähnliches. Stay fair.