von Oliver Classen

Medienschelte des Nestlé-Chefs: Der gekränkte König von Vevey

Im Nachgang zur Konzernverantwortungsinitiative KVI übt der Verwaltungsratspräsident von Nestlé massive Medienkritik in einem Gastkommentar in der NZZ. Dabei hat die Berichterstattung der Schweizer Medien massgeblich zur Ablehnung der KVI beigetragen. Paul Bulckes Klagelied offenbart zwar ein höchst problematisches Demokratie- und Medienverständnis. Zugleich windet er Schweizer Presse und TV aber ein Kränzchen – wenn auch unfreiwillig.

Es gibt drei Dinge, die auch den abgebrühtesten Top-Manager – häufig in Kombination – irgendwann aus der Ruhe bringen: substanzielle Börsenverluste, akute Imageprobleme und medial heftig kritisiert oder gänzlich ignoriert zu werden. Die letzten beiden Punkte haben einen der mächtigsten Firmenlenker der Welt zu einem Pamphlet provoziert, dessen Grundthese nachweislich falsch und dessen Hauptbotschaft, gelinde gesagt, bedenklich ist. Mit seinem am 24. Dezember 2020 von der NZZ publizierten Gastkommentar machte Paul Bulcke der Schweizer Öffentlichkeit ein äusserst zweifelhaftes Weihnachtsgeschenk. Was von Nestlés VR-Präsident und oberstem Kommunikator als Befreiungsschlag gedacht war, erweist sich als Bärendienst für den nicht erst seit der KVI mit Reputationsproblemen kämpfenden Nahrungsmittelriesen.

Was Bulcke besonders frustriert und getroffen hat, ist die hohe Zustimmung, welche das Ende November knapp am Ständemehr gescheiterte Volksbegehren in Städten mit Konzernhauptsitzen erreicht hat, so auch in «seinem» Vevey. «Man nahm unsere Meinung dort entweder nicht zur Kenntnis – oder man glaubte uns nicht.» Schuld daran seien die Medien, denn sowohl bei kleinen Lokalzeitungen als auch bei der grossen SRG stosse man «auf Skepsis und Misstrauen». Im KVI-Kontext zumindest ist das eine glatte Lüge. Dies belegt der Abstimmungsmonitor der Forschungsstelle für Öffentlichkeit und Gesellschaft der Universität Zürich. Die Tonalität der Berichterstattung über die umstrittene Initiative war demnach überwiegend negativ, also im Sinne von Nestlé, Economiesuisse und Karin Keller-Suter.

Bulcke unterstellt Journalisten und Wählerschaft pauschal eine spezifisch schweizerische «Wahrnehmungsstörung».

Dazu beigetragen hat auch Bulcke, gezielt und höchstpersönlich. Durch Stellungnahmen, Interviews und, wichtiger noch, ausführliche Hintergrundgespräche mit Chefredaktionen und Ressortleitungen, so belegterweise bei «Blick» und NZZ. Als einer der wichtigsten Anzeigenkunden konnte er seine «Alternative Corporate Facts» dort weitgehend widerspruchslos verbreiten. In der NZZ lobbyiert er aber nicht nur gegen mehr rechtsverbindliche Unternehmensverantwortung, sondern unterstellt Journalisten und Wählerschaft pauschal eine spezifisch schweizerische «Wahrnehmungsstörung».

In jener für enttäuschte Sonnenkönige typischen Mischung aus Larmoyanz und Aggressivität beklagt er nicht nur, dass «Wirtschaftsskeptiker offenbar besser ankommen». Bulcke denunziert die mehrheitsfähigen Menschenrechtsanliegen der KVI-Allianz als blosse Aluhut-Esoterik. Er beschwert sich auch allen Ernstes darüber, «wie schwierig es geworden ist, unsere Aktivitäten in die Medien zu bringen».

Bulckes Schelte zeigt den Geist einer globalisierten Wirtschaftsaristokratie, die Medien als reine Verlautbarungsdienstleister betrachten.

Wäre ich Pressesprecher von Nestlé, wäre es mir spätestens beim letzten Satz eiskalt den Rücken runtergelaufen. Und zwar gleich zwei Mal: Einerseits sähe ich – bei einem sooo unzufriedenen Oberboss – meinen Job in höchster Gefahr. Zudem würde es mir bei jedem Journalistenkontakt fortan die Schamesröte ins Gesicht treiben. Denn Bulckes Schelte zeigt den Geist einer globalisierten Wirtschaftsaristokratie, die Medien nicht als Wachhunde der Demokratie (auch gegenüber Konzerninteressen), sondern als reine Verlautbarungsdienstleister betrachten. Egal, ob es sich dabei um Arbeitsrecht, Klimapolitik oder Produktinnovationen handelt. Denn je grösser die Machtkonzentration bei einzelnen Marktakteuren, desto grösser die Notwendigkeit der Machtkontrolle durch möglichst viele Medienakteure.

Was also als fundamentale Kritik gemeint war, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als unfreiwilliges Kompliment an unsere doch immer noch relativ unabhängige vierte Gewalt. In Bulckes Kritik steckt aber noch eine weitere gute Nachricht. Im Gegensatz zu vielen anderen Managern von Grossunternehmen, die ihr kommunikatives Heil längst im Corporate Publishing und aufwändigen Firmenmagazinen suchen, scheint Nestlé für seine Botschaften weiter auf die Reichweite und Glaubwürdigkeit traditioneller Verlagshäuser und gebührenfinanzierter Sender zu setzen. Jetzt muss man in Vevey und anderen Schweizer Konzernzentralen nur noch begreifen und beherzigen, dass Unabhängigkeit und Glaubwürdigkeit zwei Seiten der gleichen Medien-Medaille sind.