Medienkompetenz: Neues Lehrmittel, wenig Koordination
Journalismus braucht Medienbildung, damit Qualität erkannt und geschätzt wird. Medienbildung in der Volksschule ist jedoch noch kaum auf publizistische Medienkompetenz ausgerichtet. Das will nun der Verlegerverband mit einem neuen Lehrmittel ändern.
Die Medienkompetenz von Jugendlichen fördern: Das ist das Ziel von «Was lese ich?», einem neuen Online-Lehrmittel des Verbands Schweizer Medien (VSM). Jugendliche sollen lernen, mit verschiedenen Informationskanälen bewusst umzugehen, Reportagen von Interviews zu unterscheiden und die Qualität von Meldungen einzuschätzen.
Die Förderung der Medienkompetenz ist im digitalen Zeitalter eine omnipräsente Forderung. Medienkompetenz für einen souveränen Umgang mit Computern und Smartphones. Medienkompetenz, damit sich junge Menschen auf Social Media anständig verhalten. Medienkompetenz als Gegenmittel zu Falschinformationen im Internet. Der Begriff Medienkompetenz hat mit der Popularisierung des Internets und digitaler Technologien an Bedeutung gewonnen – und ist gleichzeitig verwässert worden. So wurde der publizistische Aspekt von Medienkompetenz – das Wissen und Lernen über Journalismus – in den Hintergrund gedrängt.
So stand auch in der Debatte um Falschinformationen nicht der Journalismus im Fokus, sondern Social-Media-Plattformen, deren algorithmische und finanzielle Anreizsysteme die Verbreitung ungeprüfter Falschmeldungen mit Clickbait-Titeln favorisieren. Zwar hat der problematische Begriff «Fake News» in der Trump-Ära einen beispiellosen Aufstieg erlebt. Trump verwendet «Fake News» jedoch als politischen Kampfbegriff gegen etablierte Medienangebote, die unbequeme Wahrheiten aufdecken. Damit diskreditiert er strategisch die Glaubwürdigkeit von seriösem Journalismus, der ihm und seinen Skandalen mit seiner Wachhund-Funktion gefährlich wird.
Wer Journalismus für unsere Demokratie für relevant hält, sieht eine düstere Zukunft.
Der digitale Wandel hat dem Schweizer Journalismus auf dem Werbemarkt gnadenlose Konkurrenz aus dem Silicon Valley beschert. Inzwischen beherrschen Google und Facebook bereits 75 Prozent des Schweizer Online-Werbemarkts. Die vom Bundesrat geplante Unterstützung von Online-Medien im Umfang von 120 Millionen Franken wird diesem massiven Strukturwandel vermutlich wenig entgegensetzen können.
Wer Journalismus für unsere Demokratie für relevant hält, sieht eine düstere Zukunft. Zumal unklar ist, wie viele junge Menschen, die mit Social Media und einer digitalen Gratiskultur aufgewachsen sind, bereit sein werden, für gut recherchierten Journalismus Geld auszugeben. Das Jahrbuch «Qualität der Medien» stellt Jahr für Jahr fest, dass der Anteil der «Newsdeprivierten» steigt: junge Menschen, die sich nicht für regionale und nationale News interessieren. Ob sich junge Menschen vor dem digitalen Zeitalter tatsächlich deutlich mehr über das Zeitgeschehen im In- und Ausland informierten, sei dahingestellt. Unbestritten ist, dass Demokratie auf qualitativ guten Journalismus angewiesen ist. Dieser kann nur erkannt werden, wenn Medienbildung auch Journalismusbildung beinhaltet.
Die meisten bisherigen Lehrmittel vermitteln in erster Linie ein Grundwissen zu digitalen Medien.
Im neuen Lehrplan 21 erhält «Medien und Informatik» einen besonderen Stellenwert in der Volksschule. Daraus entsteht auch ein Markt für Lehrmittel. Ein neues didaktisches Highlight ist das MIA-Stickerheft für die 1. und 2. Primarklasse aus dem hep-Verlag: Das Sticker-Sammelheft enthält Wimmelbilder und QR-Codes mit altersgerechten Hörbeiträgen und Aufgaben zu Medien- und Digitalthemen. Der Lehrmittelverlag Zürich gibt seit 2009 das Lehrmittel «Medienkompass» heraus und seit 2018 das etwas übersichtlichere Lehrmittel «connected – Medien und Informatik». Erschienen sind bereits drei didaktisch gut aufbereitete connected-Bände. Alle erwähnten Lehrmittel sind in erster Linie auf ein Grundwissen zu digitalen Medien ausgerichtet: zum Beispiel Suchmaschinen, erste Schritte im Programmieren, Bildsprache, Umgang mit Social Media und Big Data kurz erklärt. Nützliche Grundlagen, um auch Journalismus im digitalen Zeitalter besser zu verstehen – jedoch weit weg von publizistischer Medienkompetenz.
Die Initiative «PUMAS» bemüht sich seit 2018 genau darum. PUMAS steht für Publizistische Medienkompetenz in Ausbildung und Schule und ist eine Kooperation zwischen dem Forschungszentrum Öffentlichkeit und Gesellschaft an der Universität Zürich fög, der Schweizer Journalistenschule MAZ, dem VSM, dem Schweizer Radio und Fernsehen SRF sowie IQES/schulentwicklung.ch. Ein Pilotprojekt einer Medien-Projektwoche an Gymnasien startet im September 2021. Noch agieren die PUMAS-Kooperationspartner mit Einzelprojekten und ohne gemeinsamen Auftritt: Das fög hat die noch ausbaufähige Plattform «Newsup – Tschäggsch Medie?» lanciert, die Journalistenschule MAZ bietet für Schulen und Lehrpersonen massgeschneiderte Medienkurse an und YouNews, eine Initiative von Verlagen und SRG, ermöglicht Jugendlichen Redaktionsbesuche. Das schon ältere, jedoch weiterhin qualitativ hochstehende VSM-Lehrmittel «Lesen macht gross» ist zwar online verfügbar, jedoch mit der Ausrichtung auf PDF-Dokumente eher für die Abgabe von Arbeitsblättern geeignet.
Das neue Lehrmittel des Verlegerverbands enthält Themen, die man in den Lehrmitteln der schulnahen Verlage fast vergeblich sucht.
Ganz neu hat das Medieninstitut des VSM nun das Lehrmittel «Was lese ich? Journalismus verstehen» lanciert. «Was lese ich?» ist in Zusammenarbeit mit pädagogischen und journalistischen Fachpersonen entstanden, interaktiv und rein digital. Das kostenlose Online-Lehrmittel wurde für Schülerinnen und Schüler ab der Sekundarstufe I (7. bis 9. Klasse) entwickelt. Es enthält Themen, die man in den Lehrmitteln der schulnahen Verlage fast vergeblich sucht: journalistische Glaubwürdigkeit, Journalismus und Demokratie, journalistische Textsorten, Datenjournalismus und die Einschätzung der Qualität. «Was lese ich?» zeigt auf, was Qualitätsjournalismus ausmacht und warum er wichtig ist.
Selbstverständlich ist «Was lese ich?» im Rahmen der Interessenpolitik des VSM zu verstehen und im Produkt schwingt die Hoffnung mit, junge Menschen künftig an journalistische Bezahlprodukte heranzuführen, die vor allem textbasiert und idealerweise gedruckt sind. Das impliziert auch der Name des Lehrmittels, der in einer multimedialen Medienwelt überraschen mag.
Gleichwohl ist das Angebot für Lehrpersonen attraktiv: Das Lehrmittel ist ohne Login zugänglich und enthält gut gemachte Textinhalte, Erklärvideos, Übungen und Selbsttests. Eine separate Anleitung für Lehrpersonen verschafft Überblick. Diese können zudem direkt Klassensätze von Zeitungen und kostenlose Logins für Online-Medien bestellen. Die ideale Ergänzung ist ein kostenloser persönlicher Klassenbesuch eines Journalisten oder einer Journalistin, der Blicke hinter die Kulissen des Berufs ermöglichen soll.
Im Sinne der publizistischen Medienkompetenz für junge Menschen wäre langfristig eine bessere Kooperation wünschenswert: zwischen pädagogischen Hochschulen, den Lehrmittel-Redaktionen im Fachbereich Medien und Informatik und dem Verband Schweizer Medien. Vielleicht ein Spagat, welcher der PUMAS-Initiative in den nächsten Jahren gelingen könnte.
Helga Sterr 10. Februar 2021, 11:02
Das ist in meinen Augen so nicht ganz richtig. Gerade die klassischen Medien verteilen und verteilten z. B. Fake News rund um die Corona-Pandemie, wenn die Plattformen diese bereits gelöscht haben und es klar war, dass die Meldungen falsch sind und waren. Wo kann ich wirklich seriösen Journalismus finden, der real noch Ethik kennt? Ich empfinde aktuell die klassischen Medien als Widerhall der Social Media Channels.
Agnès Laube 12. Februar 2021, 13:21
Spannender Beitrag, der deutlich macht, was mit stärkerer Kooperation erreicht werden könnte. Als Grafikdesignerin und Journalistin möchte ich noch zwei Dinge anmerken: 1. Auch die Bildkompetenz im medialen Kontext sollte stärker gefördert werden (Bild-Text-Kommunikation). Das wird – teils auch in journalistischen Ausbildungsgängen – stark vernachlässigt. Die Plattform ‚was lese ich?‘ arbeitet – sorry! – mit grauenhaften Bildern. 2. Die Kooperation mit Grafikdesignern bzw. Bildprofis wäre sicher nützlich.