von Marko Ković

Heikle Spekulation zum Labor-Ursprung von Corona in der NZZ

Die «Neue Zürcher Zeitung» widmet sich in einem ausführlichen Artikel der wichtigen Frage, ob ein Laborunfall am Ursprung von Sars-Cov-2 steht. Die fünf Zeitungsseiten überzeugen durch spannendes Storytelling. Doch die kritische und wissenschaftlich fundierte Einordnung der Labor-These kommt zu kurz.

Woher stammt das Virus Sars-Cov-2, das uns seit über einem Jahr beschäftigt? Die in der wissenschaftlichen Community gemeinhin akzeptierte Erklärung ist, dass das Virus aufgrund seiner genetischen Eigenschaften einen natürlichen Ursprung haben dürfte und sich von tierischen Wirten auf den Menschen übertragen hat.

Was aber, wenn alles ganz anders war? Wenn das neue Coronavirus in Tat und Wahrheit von Menschen in einem Labor erschaffen und bei einem Unfall aus dem Labor entwichen ist? Dieser Frage geht NZZ-Redaktor Marcel Gyr in seiner Reportage «Oder war es vielleicht doch ein Laborunfall? Das Rätsel um den Ausbruch der Corona-Pandemie» in der «Neuen Zürcher Zeitung» nach. (Die umfangreiche Reportage wurde unter dem Titel «Das Rätselraten um die Herkunft des Virus dauert an» auch als Comic zusammengefasst.) Um das Fazit des Artikels vorwegzunehmen:

Das angebliche «Rätsel» und die Frage aus dem Titel bleiben unbeantwortet; der Ursprung der Pandemie bleibe «weiterhin ein Rätsel.»

Das ist etwas enttäuschend. Die Frage, ob Sars-Cov-2 aus einem Labor stammt, ist ebenso wichtig wie berechtigt und lässt sich nicht einfach so als Verschwörungstheorie abtun. Biotechnologie ist heute genug weit fortgeschritten, dass Viren mittels Genmanipulation verändert und potenziell sehr gefährlich gemacht werden können. Zudem verhält sich die chinesische Regierung seit Ausbruch der Pandemie intransparent und unkooperativ. Und sie nutzt die Pandemie für einen sogar für chinesische Verhältnisse beispiellosen Propaganda-Effort. Und schliesslich gilt auch in Corona-Fragen die universale Regel: Shit happens. Überall, wo Menschen arbeiten, passieren früher oder später Unfälle.

Dreh- und Angelpunkt der NZZ-Reportage ist eine Studie der Virologin Shi Zheng-Li, der Leiterin des Instituts für Virologie in Wuhan (wo die Pandemie ihren Ursprung nahm).

Zheng-Li forscht seit Jahren zu SARS-ähnlichen Coronaviren und ist auch Co-Autorin einer wichtigen Studie vom vergangenen Jahr, in der beschrieben wird, dass das neue Coronavirus genetisch sehr grosse Ähnlichkeit mit einem Fledermaus-Coronavirus hat, das 2013 gefunden wurde.

Am Institut für Virologie Wuhan werden nicht nur Virus-Proben wie jene von 2013 gesammelt und beschrieben. Am Institut findet auch sogenannte «Gain-of-Function»-Forschung statt. Dabei werden gentechnisch manipulierte und potenziell gefährliche Viren hergestellt, um aus diesen künstlichen Viren zu schliessen, welche Mutationen in der Natur entstehen könnten. Dieses Wissen über mögliche künftige Mutationen kann helfen, auf natürliche Virus-Ausbrüche besser vorbereitet zu sein.

Hier macht es beim Journalisten Gyr Klick: Das Wuhan-Institut verfügte seit 2013 über Proben des nächsten Verwandten von Sars-CoV-2, und das Wuhan-Institut betreibt «Gain-of-Function»-Forschung. Ergo: Das Wuhan-Institut hat Sars-CoV-2 in einem «Gain-of-Function»-Experiment erschaffen – und dann kam es zu einer verheerenden Panne, die uns die Pandemie beschert hat.

Diese Hypothese wird für Gyr durch die Arbeit des Forscher*innen-Netzwerks «DRASTIC» glaubhaft gemacht. DRASTIC ist eine Gruppe teilweise anonymer Forscher*innen, die sich schon früh in der Pandemie über Twitter zusammengefunden haben, weil sie überzeugt sind, dass Sars-Cov-2 aus einem Labor entwichen sein muss.

Die Puzzleteile sind soweit stimmig und verleihen der Laborunfall-Hypothese durchaus Plausibilität.

An dieser Stelle wäre nun zu erwarten, dass Gyr sie einer kritischen Prüfung unterzieht und analysiert, was für den Laborunfall-Hergang und was für eine natürliche Entstehung spricht.

Doch Gyr schlägt einen anderen Kurs ein. Anstatt einer ergebnisoffenen und kritischen Prüfung der möglichen Erklärungen für die Entstehung von Sars-Cov-2 wird den Leser*innen eine lückenhafte, suggestive und verzerrte Sicht der Dinge präsentiert, und zwar in dreifacher Hinsicht:

Erstens wird das Selbstverständnis und die Arbeitsweise des «DRASTIC»-Netzwerks – in Gyrs Geschichte die wissenschaftliche Kronzeugin für die Laborunfall-Hypothese – nicht wirklich thematisiert. In den Texten, die die Netzwerk-Mitglieder zum Teil auch in Fachzeitschriften veröffentlichen (z.B. hier oder hier), werden nämlich gar keine wissenschaftlichen Beweise oder zumindest relevante empirische Indizien zugunsten der Labor-Hypothese präsentiert.

Die «DRASTIC»-Wissenschaftler*innen wiederholen im Wesentlichen nur das Argument, dass es grundsätzlich möglich sei, dass Sars-Cov-2 in einem Labor erschaffen worden ist.

Aber der blosse Umstand, dass etwas grundsätzlich möglich ist, ist kein Beleg, dass dem auch so ist. Die Frage ist nicht, ob Sars-Cov-2 grundsätzlich im Labor erschaffen worden sein könnte. Die Frage ist, ob es gute Gründe in Form belastbarer empirischer Evidenz gibt, an diese Hypothese zu glauben. Solche wissenschaftlichen Ergebnisse ist das DRASTIC-Netzwerk bisher schuldig geblieben.

An dieses Problem anknüpfend geht Gyr in seiner Reportage zweitens kaum und nur verzerrt auf die tatsächlich bestehende Forschung zum Ursprung von Sars-Cov-2 ein. Er erwähnt einzig eine Studie von Andersen et al. von letztem Jahr, die zum Schluss kommt, dass Sars-Cov-2 alle Anzeichen einer natürlichen Entstehung hat. Doch diesen Befund relativiert Gyr rhetorisch geschickt mit dem Hinweis, dass die Studienautor*innen einräumten, es würden keine Beweise für die Übertragung von einem Tier auf den Menschen vorliegen:

«Allerdings räumt er [Andersen] ein, dass auch keine Beweise für andere Hypothesen vorliegen, etwa für die Zoonose, wie die Übertragung von einem Tier auf den Menschen genannt wird.»

Diese Behauptung zur Studie stimmt nicht. In der Studie wird die Übertragung von Tieren auf Menschen explizit als die plausibelste Erklärung für den Ausbruch der Pandemie diskutiert, und zwar ausdrücklich im Kontrast zu der Laborunfall-Hypothese.

Mit dem Hinweis auf diese eine Studie ist für Gyr die Frage der Forschung bereits abgehakt; auf weitere und neuere Studien geht er nicht ein. Täte er es, würde sein Narrativ des Laborunfalls Schaden nehmen oder sogar wie ein Kartenhaus zusammenfallen. So gibt es beispielsweise neue Befunde zu Sars-Cov-2-verwandten Viren, die in freier Wildbahn beobachtet wurden. Und es gibt neue Befunde zur natürlichen evolutionären Entstehungsgeschichte von Sars-Cov-2.

Auch, wenn Gyr persönlich davon überzeugt sein sollte, dass die Laborunfall-Hypothese zutrifft, wäre es seine journalistische Aufgabe, die Hypothese zumindest ansatzweise in einer Advocatus-Diaboli-Übung anhand der wissenschaftlichen Literatur kritisch zu hinterfragen. Es ist ziemlich einfach, die Laborunfall-Hypothese als sehr plausibel darzustellen, wenn die vorhandene wissenschaftliche Evidenz, die gegen diese These spricht, unter den Teppich gekehrt wird.

Und drittens schmückt Gyr seine Reportage mit reichlich dramaturgischem Beigemüse, das inhaltlich nichts zur Sache tut, aber die Laborunfall-Hypothese wohl suggestiv stützen soll. Zum Beispiel hat Gyr in der ursprünglichen Version seiner Reportage auf eine Fake-News-Webseite verwiesen (in der Online-Version der Reportage sogar mit einem Link auf einen Artikel), an der der rechtspopulistische Aktivist, Podcaster und ehemalige Trump-Chefberater Steve Bannon beteiligt ist. Inhaltlich tat dies nichts zur Sache, konnte aber bei den Leser*innen den Eindruck erwecken, dass die betroffene Fake-News-Seite eine vertrauenswürdige Quelle sei.

Nach schriftlichem und telefonischem Austausch mit dem Autor hat Gyr die Online-Fassung seines Artikels nachträglich angepasst und klargestellt, dass die betroffene Webseite und ihre Betreiber Desinformation verbreiten. Auch den Link zu der Fake-News-Meldung hat Gyr entfernt.

Was bleibt unter dem Strich von der Laborunfall-Hypothese? Es ist nach wie vor grundsätzlich möglich, dass Sars-Cov-2 und die durch das Virus ausgelöste Pandemie die Folgen eines Laborunfalls sind.

Aber in der öffentlichen Debatte zu dieser wichtigen Frage sind Beiträge wie jener in der «Neuen Zürcher Zeitung», die just dort blinde Flecken haben, wo das Narrativ des Laborunfalls nicht gestützt wird, äusserst heikel.

Die wissenschaftliche Datenlage deutet gegenwärtig klar auf eine natürliche Entstehung von Sars-Cov-2 hin.

Dies auszublenden und stattdessen eine süffige Geschichte zu präsentieren, in der die Laborunfall-Hypothese als genauso plausibel wie die Hypothese der natürlichen Entstehung dargestellt wird, ist ein fast prototypisches Beispiel für «False Balance», das Problem einer falschen Ausgewogenheit.

Es mag ein nachvollziehbarer journalistischer Reflex sein, unterschiedliche Thesen im Sinne einer guten Geschichte als gleichwertig darzustellen, auch wenn eine davon auf einer mehr als dürftigen Faktenlage fusst. Aber bei wissenschaftlichen Fragestellungen sollte die wissenschaftliche Faktenlage und nicht das Storytelling im Zentrum stehen. Erst recht, wenn die Gemüter, wie jetzt in der Pandemie, bereits mehr als überhitzt sind.

Leserbeiträge

grunder@gmx.ch 20. April 2021, 12:02

Epistemologisch ist es kaum „enttäuschend“, wie der Autor schreibt, sondern folgerichtig und plausibel, dass die Ursachen und Ursprünge der aktuellen Pandemie unklar sind. Der entsprechende Tenor scheint mir eine der Qualitäten des NZZ-Arbeit.

Urs Zumbrunn 21. April 2021, 00:47

Ich habe den NZZ-Artikel so gelesen und verstanden, dass man heute immer im Hinterkopf behalten soll, dass es eine (wie auch von Herrn Ković zugestandene) massive Desinformationskampagne der chinesischen KP über Covid-19 gibt. Und auch nicht vergessen: Die Halbwertszeit von „vorhandener wissenschaftlicher Evidenz“ beträgt heutzutage maximal ein paar Wochen.

Pat Meyer 21. April 2021, 21:27

Auch die Medienwoche scheint nie etwas vom glasko smith kline Biotech-Labor in Wuhan gehört zu haben…

Marko Kovic 21. April 2021, 21:41

Guten Abend Herr Meyer

Doch, wir haben davon gehört. An den Verschwörungstheorien, dass GlaxoSmithKline etwas mit dem Institut für Virologie in Wuhan zu tun hat, ist rein gar nichts dran:

https://www.reuters.com/article/uk-factcheck-wuhan-lab-idUSKBN28R2UK

Mit bestem Gruss
Marko Kovic