Zahme Zeitung: Der «Guardian» schwimmt im Mainstream
Noch vor wenigen Jahren wäre der Befund schmeichelhafter ausgefallen. Doch jetzt, anlässlich seines zweihundertsten Geburtstags, muss sich der britische «Guardian» Wankelmut und Opportunismus ins Stammbuch schreiben lassen. Peter Stäuber über linke Kritik am linksliberalen Leitblatt.
«200 Jahre Wahrheitssuche» – so lautet der Slogan des «Guardian» zu seinem zweihundertsten Geburtstag. Die renommierte britische Zeitung, die im Mai 1821 als «The Manchester Guardian» ihre erste Ausgabe druckte, feiert sich dieser Tage als eine meinungsstarke, unabhängige Zeitung, die niemandem Rechenschaft schuldet ausser der Öffentlichkeit. Ihre Mission sei es, «die Mächtigen zur Verantwortung zu ziehen, ungeachtet der Konsequenzen», schreibt Chefredakteurin Katharine Viner in einem längeren Artikel zum Jubiläum – und nicht selten würden die «Guardian»-Recherchen den Zorn mächtiger Interessenvertreter provozieren, darunter die Polizei, Politiker und Geheimdienste.
Tatsächlich kann der «Guardian» auf eine beeindruckende Tradition der investigativen Recherche zurückblicken. Seine Berichterstattung hat immer wieder Aufsehen erregt, Debatten angestossen und Politiker unter Zugzwang gesetzt. Besonders mit dem Beginn des digitalen Zeitalters wurde die Publikation zu einer wichtigen Anlaufstelle für Whistleblower – nicht zuletzt aufgrund ihrer globalen Bedeutung (siehe Kasten). Allein im vergangenen Jahrzehnt hat die Zeitung etliche Fälle von institutionellem Machtmissbrauch, dubiosen Finanz-Tricksereien und schweren Verfehlungen der Regierung ans Tageslicht gebracht.
Zu den Highlights zählt der Abhörskandal von 2011, als der «Guardian» aufdeckte, dass Murdoch-Journalisten rechtswidrig Sprachnachrichten von Promis und Privatpersonen abgehört hatten. Die Affäre erschütterte die britische Presse wie kein Ereignis zuvor. Sie führte zur Schliessung des Revolverblatts «News of the World» und zur Inhaftierung seines ehemaligen Chefredakteurs. Auch bei den Enthüllungen der sogenannten Panama- und den Paradise-Papers über Steuerhinterziehung war der «Guardian» federführend beteiligt. Ebenso deckten seine Journalisten auf, dass der britische Staat illegal Terror-Verdächtige in Länder auslieferte, wo sie gefoltert wurden. Und schliesslich sorgte die Zeitung dafür, dass der Whistleblower Edward Snowden 2013 seine Insider-Informationen über die Massenüberwachung der US-amerikanischen und britischen Geheimdienste an die Öffentlichkeit brachte – einer der grössten Überwachungsskandale überhaupt.
Dass der «Guardian» solche Enthüllungen publizieren kann und damit immer wieder aufs Neue seine Unabhängigkeit von politischen Interessen und Akteuren dokumentiert, ist auch seinem Finanzierungsmodell geschuldet.
Im Unterschied zu den anderen grossen britischen Zeitungen wird er nicht von Medienmogulen verlegt, wie etwa die «Times» und die «Sun» von Rupert Murdoch, oder der «Telegraph» der Gebrüder Barclay, die den Chefredakteuren stets auf die Finger schauen.
Der «Guardian» gehört dem Scott Trust Limited, einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung, deren einziger Zweck darin besteht, die finanzielle Zukunft des «Guardian» und der Sonntagszeitung «The Observer» sicherzustellen. Das Stiftungsvermögen, über das der Scott Trust verfügt, beläuft sich auf rund eine Milliarde Pfund. Der Vorstand des Unternehmens hält sich aus allen redaktionellen Entscheidungen zurück: «Der Trust hat offiziell keine Meinungen», schreibt der langjährige (1995–2015) Chefredakteur Alan Rusbridger in der New York Review of Books. Er selbst habe den Vorsitzenden des Scott Trusts zuweilen um Rat gebeten – «aber es stand mir frei, diesen zu ignorieren, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen.» Als manche Parlamentsabgeordneten den Trust zu überreden versuchten, die Berichterstattung über die Snowden-Enthüllungen zu stoppen, erwiderte dieser, dass er «buchstäblich keinerlei Befugnis habe zu intervenieren».
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Ein Weltblatt
Der «Guardian» ist eine wichtige linksliberale Stimme unter den britischen Medien. Nebst einschlägigen Recherchen, sei es über Korruption in der Unternehmenswelt oder institutionellen Rassismus, berichtet die Zeitung immer wieder ausführlich über britische Sozial- und Gesundheitspolitik. Zudem gibt er linken Kolumnisten eine regelmässige Plattform, darunter Owen Jones und George Monbiot.
Seine Bedeutung geht über die Landesgrenzen hinaus. In den vergangenen Jahren hat sich der «Guardian» als globale Online-Publikation etabliert: «Guardian US», mit einem grossen Redaktionsbüro in New York, wurde 2011 lanciert, zwei Jahre später kam der «Guardian Australia» hinzu. Der «Guardian» zählt weltweit zu den meistgelesenen englischsprachigen Nachrichtenportalen: Mit über 315 Millionen Leser*innen pro Monat kommt er in einem internationalen Ranking gleich hinter der BBC, CNN, der «New York Times», «Mail Online» und «Yahoo Finance». Die Guardian Media Group, die den «Guardian» und den «Observer» herausgibt, beschäftigt derzeit rund 1500 Angestellte, davon über 800 in den Redaktionen. (Allerdings kündigte sie im Sommer einen Stellenabbau von 180 Jobs an.)
Bis 1961 wurde der «Manchester Guardian» in der nordenglischen Stadt publiziert, dann folgte der Umzug nach London. 2008 wurde ein neues, modernes Redaktionsgebäude gleich hinter dem Bahnhof King's Cross eröffnet. 2015 trat Katharine Viner als erste Frau den Posten als Chefredakteurin an – sie wurde eingesetzt, nachdem sich eine Mehrheit der Mitarbeiter*innen in einer Abstimmung für sie ausgesprochen hatten. Viner, die seit 1997 bei der Zeitung arbeitet, war zuvor verantwortlich für den Aufbau des «Guardian Australia».
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Die Sonderstellung des «Guardian» innerhalb der britischen Medien hat auch damit zu tun, dass er ein linksliberales Blatt inmitten einer konservativ dominierten Presselandschaft ist. Das bringt ihm nicht nur Freunde. In den Worten von Paul Dacre, bis 2018 Chefredakteur der konservativen «Daily Mail», verbindet der «Guardian» «widerliche Selbst-Verherrlichung und moralische Überlegenheit mit einer tief sitzenden Verachtung für den Rest der Presse».
Allerdings wird der «Guardian» auch von links attackiert. Die Zeitung sei «nie ein verlässlicher Verbündeter sozialistischer oder anti-imperialistischer Stimmen» gewesen, und er habe für die Linke niemals «jene Funktion ausgeübt, die die ‹Mail› oder der ‹Telegraph› für die Wähler auf der rechten Seite ausüben», schreibt der Medienwissenschaftler Des Freedman, Herausgeber des neuen Buches «Capitalism’s Conscience: 200 Years of the Guardian» (2021). Freedman, der an der Goldsmiths Universität in London unterrichtet, hat eine kritische Analyse des «Guardian»-Journalismus vorgelegt, die sich aus Beiträgen von Akademiker*innen wie auch ehemaligen Guardian-Journalisten zusammensetzt.
Nie sorgte der «Guardian» bei der britischen Linken für mehr Frustration als während der Zeit des Parteilinken Jeremy Corbyn als Labour-Vorsitzender von 2015 bis 2019.
Gary Younge, der bis 2020 Auslandskorrespondent und Kolumnist beim «Guardian» war, bezeichnet die Publikation als eine Vertreterin des «liberalen Establishments, die nicht besonders links ist, obwohl sie in bestimmten Momenten jene Position einnehmen kann». Während der Corbyn-Jahre sei die Zeitung «zusammen mit dem Rest der Presse im Mainstream» geschwommen. Das habe er in den Redaktionsräumen gemerkt, wo es «rufschädigend war, Corbyn nicht fertigzumachen». Nahm man ihn als Labour-Vorsitzenden ernst, habe man riskiert, selbst nicht ernst genommen zu werden, schreibt Younge.
Selbstverständlich sei die Redaktion des «Guardian» keine Diktatur, sagt Des Freedman im Gespräch mit der Medienwoche. Niemand habe den Journalisten gesagt, was sie zu schreiben haben. «Aber dennoch gab es einige sehr einflussreiche Akteure in leitenden Positionen, die Corbyn gegenüber feindlich eingestellt waren – und diese übertönten jene Stimmen, die in Erfahrung bringen wollen, weshalb Corbyn ein bedeutendes Phänomen ist», sagt Freedman. «Und genau das ist so unglaublich: Es fehlte völlig an der Neugier an diesem Phänomen – dass ein vormaliger Hinterbänkler auf einmal Premierminister werden könnte.»
Damit lief die Berichterstattung auch der erklärten Mission des «Guardian» zuwider: stets die Fakten darzulegen. Seit der ersten Ausgabe des «Guardian» im Jahr 1821 sei es sein Zweck, den Leser*innen die Tatsachen zu übermitteln, damit sie sich eine Meinung bilden können, schreibt Katharine Viner. Laut Freedman hatte der «Guardian» diesen Vorsatz bei seiner Corbyn-Berichterstattung offenbar vergessen:
«Er hat nicht die Fakten aufgedeckt und jenes Interesse gezeigt, die wir von einer liberalen Zeitung erwarten können.»
Auch ist die Berichterstattung des «Guardian» zu Sicherheitsfragen und Geheimdiensten in den vergangenen Jahren zahmer geworden. Die Investigativjournalisten Matt Kennard und Mark Curtis legen in ihrem Kapitel dar, wie die Nachrichtendienste den «Guardian» nach den Snowden-Enthüllungen unter Druck setzten, um weitere peinliche Leaks zu verhindern. 2013 war der «Guardian» die «einzige grössere Zeitung, auf die sich Whistleblower in den US-amerikanischen und britischen Geheimdiensten verlassen konnten», um ihre Dokumente an die Öffentlichkeit zu bringen – für die Sicherheitsdienste eine unhaltbare Situation.
So machten sie sich daran, die unbequeme Zeitung an die Kandare zu nehmen. Berüchtigt ist die Episode, als Mitarbeiter des britischen Nachrichtendiensts GCHQ, der für die Massenüberwachung verantwortlich war, im «Guardian»-Büro auftauchten und die Redakteure zwangen, die Harddisks mit den Snowden-Dokumenten mit Hammer und Bohrern zu zertrümmern. Es war eine symbolische Aktion – Kopien des Materials waren längst bei der «New York Times». Aber die Machtdemonstration machte offensichtlich Eindruck: In der Folge bemühte sich der «Guardian», diesen Institutionen nicht mehr zu sehr auf die Füsse zu treten.
So fügte er sich zunehmend den Weisungen der Sicherheitsdienste, insbesondere dem Defence and Security Media Advisory Committee (DSMA), abgekürzt «D-Notice-Komitee». Diese Institution ist ein zentrales Instrument für den britischen Sicherheitsapparat, um über die Presse Einfluss auszuüben, sagt Freedman. Das Komitee, das vom Verteidigungsministerium geführt wird und in dem auch eine Handvoll Journalisten sitzen, hat den Zweck, «versehentliche Veröffentlichung von Informationen zu verhindern, die britische Militär und Geheimoperationen gefährden würden», wie es auf der Website heisst. Ist eine Zeitung im Besitz bestimmter geheimer Informationen, kann das Gremium eine «D-Notice» ausgeben, um von der Veröffentlichung abzuraten – keine verbindliche Anordnung, aber eine Aufforderung, der die meisten Zeitungen Folge leisten. Nach der Snowden-Enthüllung beispielsweise gab das Komitee eine D-Notice gegen die Berichterstattung aus – mit der Folge, dass fast alle Zeitungen wie auch die BBC nur am Rand, wenn überhaupt, vom Skandal berichteten.
Der «Guardian», der sich immer wieder quer stellte, war ein Aussenseiter. Aber wenige Wochen nach der Snowden-Affäre meldete das D-Notice-Komitee, dass der «Dialog [mit dem Guardian] vernünftig ist und sich bessert.» Die Annäherung gipfelte darin, dass der «Guardian» selbst ein Redaktionsmitglied ins Komitee entsandte. Seither hat die Zeitung immer wieder gefällige Geschichten über den Sicherheitsapparat publiziert – etwa Interviews mit dem Chef des Inlandgeheimdiensts oder dem der Anti-Terror-Einheit bei der Londoner Polizei. Zudem haben viele erfahrene Geheimdienst-Reporter wie Richard Norton-Taylor oder Ian Cobain die Zeitung mittlerweile verlassen. Des Freedman stellt darum fest:
«In den vergangenen fünf Jahren haben die Sicherheitsdienste den ‹Guardian› unter ihre Fittiche genommen».
Eine ähnliche Entwicklung lässt sich auch bei der Presseregulierung beobachten. Der «Guardian» hatte die Debatte um Korruption und kriminelle Umtriebe in der britischen Presse mit der Aufdeckung des Murdoch-Abhörskandals zwischen 2009 und 2011 selbst angestossen. Die öffentliche Untersuchung unter dem Vorsitz des Richters Brian Leveson, die darauf folgte, machte im November 2012 eine Reihe von Vorschlägen für eine robustere Regulierung. Unter anderem forderte Leveson, dass die neue Regulierungsbehörde bei Vergehen bedeutende Strafen verhängen könne – und dass die Behörde gesetzlich verankert werden soll. Das stiess bei vielen Verlegern und Redakteuren auf Ablehnung; sie klagten, dass dies einer staatlichen Kontrolle über die Presse gleichkomme. Eine unbegründete Angst: Die Behörde, wie sie Leveson vorschwebte, wäre unabhängig von der Regierung und könnte weder von Ministern noch vom Parlament beeinflusst werden.
Der «Guardian» jedoch hielt sich weitgehend aus der Debatte raus und lehnte es ab, sich entschlossen für die robustere Regulierung einzusetzen, die Leveson empfahl – sehr zum Frust der Opfer des Abhörskandals sowie vieler seiner Leser*innen, wie Natalie Fenton in «Capitalism’s Conscience» schreibt. Ein entscheidender Grund für diesen Sinneswandel sei gewesen, dass der Rest der Presse den «Guardian» in der Folge seiner Enthüllungen mehr oder weniger als Aussätzigen behandelte. Er habe einen unausgesprochenen Kodex gebrochen, laut dem die Presse nicht über die Verfehlungen der Kollegen berichten sollen – ein «System der Omertà, an dem die New Yorker Mafia Gefallen fände», in den Worten des konservativen Journalisten Peter Oborne. Der Abhörskandal hatte das Selbstbild der britischen Presse zertrümmert und offengelegt, dass das System der Medienaufsicht kaum so einwandfrei funktioniere, wie die Branche selbst behauptete, schreibt Fenton. Und die anderen Zeitungen schäumten vor Wut. Anstatt dass der Rest der Presse den Journalisten des «Guardian» gratulierte, «ging man ihnen aus dem Weg, oder, schlimmer, schwärzte sie in Editorials an», schreibt Fenton.
Es gab handfeste Drohungen. Alan Rusbridger schreibt in seinem Buch «Breaking News» (2018), dass ihn ein führender Manager eines Zeitungskonzerns aufgefordert habe, sich wie der Rest der Presse den Vorschlägen Levesons zu widersetzen. «Wenn du nicht das tust, was wir wollen, dann will ich nicht in deiner Haut stecken», habe der Manager gesagt. Vor allem bestand laut Fenton die Sorge, dass der Guardian von potenziellen Kollaborationen mit anderen Zeitungen ausgeschlossen bleiben könnte; damals suchte die Branche nach Möglichkeiten, die finanziellen Einbussen durch sinkende Auflagen irgendwie wettzumachen, etwa durch kostensparende Zusammenarbeit.
So krebste der Guardian zurück. Die Zeitung, die zunächst als mutiger Whistleblower aufgetreten war und die Verfehlungen anderer Journalisten ans Tageslicht gebracht habe, legte seine Pfeife weg und passte sich an, schreibt Fenton. Zwar wurde 2013 eine neue Medienaufsicht gegründet, der sich aber nur die wenigsten Zeitungen unterstellten. Die grösseren Titel gründeten eine andere Organisation zur Selbstregulierung, die jedoch ähnlich zahnlos ist wie ihr Vorgänger. Der «Guardian» hat sich keinem der beiden Regulierer angeschlossen. «Die Presseregulierung ist heute genauso schwach wie vor Leveson», sagt Des Freedman. «Hätte der ‹Guardian› sich stattdessen hinter die Leveson-Vorschläge gestellt, wäre die Sache möglicherweise anders ausgegangen.»
Für Freedman ist die Episode typisch für den Guardian und die Art von Liberalismus, die er verkörpert: «Einen Moment lang führt er das Problem vor Augen, aber wenn es darum geht, eine Lösung zu finden – und wir sprechen hier nicht von einer Revolution, sondern von einer effektiven Regulierung – verliert er die Nerven.»
Urs Meier 19. Mai 2021, 14:59
Eine kritische Distanz zu Corbyn muss noch keine negative Voreingenommenheit sein. Und wenn die Linke den „Guardian“ nicht als ihren verlässlichen Verbündeten sehen konnte, spricht das auch nicht unbedingt gegen die Zeitung.