von Benjamin von Wyl

The Good, The Bad & The Ugly XXXIX

Memoriav, TX Group, Kleinbasler Zeitung

The Good – Der neue Archivschatz Memobase

Seit dieser Woche eröffnet die generalüberholte Suchplattform memobase.ch ganz neue Möglichkeiten, um sich durchs «audiovisuelle Erbe der Schweiz» zu wühlen. Memobase versammelt hunderttausende Fernseh-, Radiobeiträge und Fotos aus allen möglichen Schweizer Medienarchiven. Für manches, etwa die Rundschau-Reportage von 1969 über eine Rockerkommune, braucht man ein Login der SRF-Mediendatenbank FARO.

Doch über 100’000 Medien sind frei verfügbar. Kaum je lud eine Online-Suchmaske so sehr zum Schmökern ein: «Frauen Unterbäch» ins Suchfeld tippen und schon ist man beim Filmwochenschau-Beitrag zum «Frauenstimmrecht in Unterbäch» von 1957. Schränkt man nun in der Leiste links auf die Jahre «1931–1940» ein, kommt man zu einem Beitrag über die Tabakernte im Wallis von 1940. Für Journalist:innen werden damit Materialien, die sie bisher mit Aufwand sichten mussten, geradezu spielerisch greifbar. Dank dem neuen Memobase kann man auch im stressigen Tagesgeschäft seine Artikel um historische Zeitzeug:innenstimmen bereichern. Oder schlicht Stunden verplempern … Oh, die Deadline!

The Bad – Wird der Eat.ch-Preis bald von Belgrad verschickt?

«Für deine herausragende Arbeit» erhalten dutzende Tamedia-Journalist:innen im Rahmen der internen «Abo-Awards» einen 100-Franken-Gutschein von Eat.ch, weil ihre Artikel besonders viele neue Abos generierten oder eine hohe Verweildauer hatten. Der Mutterkonzern TX Group wiederum plant für das ganze Unternehmen, was bei «20 Minuten» bereits der Fall ist: die Auslagerung von HR- und Finanzaufgaben nach Belgrad, wie die «Republik» berichtet. Wie kann eine Personalabteilung, die Bedürfnisse von Mitarbeitenden kennen und deren Fähigkeiten einschätzen muss, über 1250 Kilometer und eine Sprachbarriere hinweg funktionieren? TX-Group-Sprecher Michele Paparone erklärt gegenüber der MEDIENWOCHE, dass «Dienstleistungen, die nahe an den Mitarbeitenden sind» weiterhin «lokal erbracht» werden. Was hingegen nach Belgrad umziehen soll, ist die Datenanalyse: «Einzelne Aspekte der technischen Plattform, auf der die Personalien und HR-Datensätze gespeichert sind», könne die TX Group «lokationsunabhängig» betreuen.

Gegenwärtig sucht das Belgrader Team einen «Senior HR Data Analyst». Beim Lesen der Stellenausschreibung kann einem die Lust aufs Auswandern überkommen: Während Tamedia in der Schweiz vor vier Jahren die Papierkörbe wegsparte, bietet die TX Group in Belgrad «work-life balance», flexible Arbeitszeit, sowie «beer evenings, yearly retreats» und eine «fun atmosphere». Wer weiss, vielleicht entscheiden schon nächstes Jahr ausgeglichene Belgrader:innen, welche überlasteten Zürcher:innen Eat.ch-Gutscheine und ein Danke «für deine herausragende Arbeit» erhalten.

The Ugly – Ach, wie gern würde ich die «Kleinbasler Zeitung» lieben…

Die «Kleinbasler Zeitung» berichtet aus meinem Quartier, wie aus einer guten alten Zeit, die es wahrscheinlich niemals gegeben hat. Einmal im Monat erscheint sie, Auflage 46’000, die fünfköpfige Redaktion sitzt über der Modeboutique des Verlegers. Es gibt Texte übers Stadtleben, historische Verbrechen und das neuste aus dem Zoo. Die Gratiszeitung hat tolle Formate: Die Kolumne «Mir hänn jetz e Katz», wo «Gluggsi, der Maudi» in Mundart über Gefühlshöhen und Tiefen der Katzenhaltung schreibt. Noch besser ist «Auf ein Bier mit …». Dort porträtiert ein Redaktor ältere Herren – meist Stammgäste des Restaurants «Schoofegg», bei der Redaktion gleich um die Ecke.

Ich möchte die «Kleinbasler Zeitung» lieben – doch leider ist sie hoffnungslos reaktionär! Das war schon immer so, aber noch keine Ausgabe war so vorgestrig wie die vom 20. Mai: Begleitet vom Schriftzug «Isch das no unser Basel?» zeigt sie ein leeres, noch nicht mal verspraytes Tramhäuschen auf dem Titel. Die Antwort gibt Seite 3. «Das isch nümm myy Stadt …» – so startet eine dreiviertel Seite anonymer und gehässiger Fasnachtsverse: gegen «Drägg», Demonstrationen und Parkplatzvernichtung. Aber vor allem gegen obdachlose Bettler:innen aus Osteuropa. Der anonyme Schreiber verbreitet dabei auch Falschinformationen, etwa, dass diese in Hotels schlafen dürfen oder dass ja niemand Kritik hören wolle. Dabei war die Stimmung schon vor diesen Versen aufgeheizt bis rassistisch. Just ein paar Tage vor Erscheinen der «Kleinbasler Zeitung» beantragte die Regierung ohnehin die Wiedereinführung eines Bettelverbots.

Leserbeiträge

Bebbi 22. Mai 2021, 18:09

Vorsicht mit der generellen Abqualifizierung von Exponenten einer Kleinbasler Gesellschaft als «rassistisch» und «reaktionär», was beides leicht in die Tasten von meist universitär gebildeten und gutbürgerlichen «Linken» fliesst (mit Heiligenschein): Der laut Artikel über die «Kleinbasler Zeitung» mit fasnachtsnahen Versen garnierte Text deutet auf kleinbürgerliche Exponenten der Kleinbasler Gesellschaft, die im Zentrum in eben diesem «Lamm», der Ochsen- und Rheingasse sowie im Claraquartier Biertisch-Stammgäste, Wortführer von Geschäfts- oder Kleingewerbe-Betreiber sind (meist hinter Hand und wie im Artikel anonym). 

Nicht unbedingt von Kultur beleckt, aber mit Witz von grobem bis ätzendem Sinn ausgestattet, dessen Pointen nur zu oft sich auf Kosten von Minderheiten oder Andersartigen bedient und darum auch Zuspruch findet. Bei ihnen ist ein «Näger» eben ein Neger und ein «Mohrenkopf» eine dunkle Schokoladen-Süssigkeit. «Rassisten», wie in den USA, sind sie daher trotz der allerwenigen Ausnahmen nicht, zumal ein solcher US-Rassismus aus lebendiger Sklaven-Vergangeneheit hier keine Kultur ist. 

Hingegen «reaktionär» sind sie schon. Aber im Wortsinn von Beharren am Gewohnten, das ihnen mehr und mehr bedrängt wird und abhanden kommt: die eigene Heimat (der Stallgeruch, die familiären oder Cliquen-Bierschenken), das Wohlgeordnete des öffentlichen Raumes, die Verknappung und Verdrängung von günstigem Wohnraum und die merkliche Zunahme von anderen Ethnien und Sprachen. Ihre Saturiertheit ist ihnen nicht bewusst, wie ebenso, dass sie diese ausgerechnet jenen verdanken, die sie ausgrenzen: den Putzfrauen, den Hilfsarbeitern, den Alterspflegenden, den Bauarbeitern und den Immigranten, die ihnen die ungeliebten Dreckarbeiten abnehmen.

Doch die Autoren solcher dumpfen, tumben Reaktionen eloquent-moralisch in die «Drägg»-Ecke zu stellen, ist kontraproduktiv: Die sehen sich so nur bestätigt in ihrem Gefühl «ungehört» zu sein und werden daher um so lauter und dümmer «reagieren». Das ist Dünger auf dem Nährboden von Fremdenhass und Faschismus. Zumal es diese Typen immer und überall gibt – eine gefährliche Form der Dummheit, dergegenüber selbst die allmächtigste Gottheit machtlos ist… 

Erneut haben wir es in der jüngsten Vergangenheit der zivilisierten Menschheit erlebt, wozu dies führen kann, wenn die Ursachen, die den «schweigende Mehrheiten» Auftrieb geben, nicht ernst genommen werden. Die Befindlichkeiten der vernachlässigten Bevölkerungsteile in den USA wurde von der sogenannten Elite lange nicht ernst genommen, bis dann ein Trumpf (so sein ursprünglicher Immigranten-Name) die Weltordnung durcheinanderbrachte. 

Statt von «reaktinoärem Drägg» zu schreiben – was ja nichts kostet – täten jene Naseweise gut daran, sich genau dafür einzusetzen, dass eben dieser echte Drägg auf Strassen verschwindet. Die Schleusen für eine bislang bedenkenlos akzeptierte Entwicklung sind aufgemacht; ein Zurückbuchstabieren nicht mehr möglich. Zumal alle Bevölkerungsteile mit dem angestrebten Komfort und dem hemmungslosen Konsum dazu beigetragen haben – nicht nur die Cliquenbrüder und Kleingewerbler von den Kleinbasler Stammtischen.

Bei einem Einkauf in der Lidl-Filiale in Binningen machte ich den zufällig vorbeikommenden Filialleiter auf ein Poulet im Gestell für Damenkleider aufmerksam. «Das ist leider so», sagte er, «aber im Lidl-Kleinbasel ist dies noch schlimmer, gar der Normalfall…» Der Respekt der Konsumentenschaft korreliere mit der sozialen Zusammensetzung der Quartiere, meinte er achselzuckend…

Die Corona-Pandemie und die Schiffshavarie im Suez-Kanal hat ein paar Hinweise gegeben, wo der Hund begraben liegt: Die bedenkenlosen Komfort- und Konsumbedürfnisse haben Grenzen und sind gleichwohl nicht mehr verzichtbar. Die billigsten Flugreisen um den Erdball, die Erdbeeren aus dem Niemandsland, die auch die sofortige Verfügbarkeit von billigen Arbeitskräften selbst von den Antipoden nötig machen. Die Verzahnung von Sachzwängen, die Diskrepanz zwischen westlicher Kultur, schweizerischer Eigenart und die Anwendung derselben Rechtswohltaten selbst auf kriminelle Wirtschaftsflüchtlinge oder Kriegsverbrecher. 

Die augenfälligen Auswirkungen geschahen und geschehen in derart kurzer Zeit, dass es selbst bescheidenen Gemütern unbehaglich wird und reagieren aus ihrer Saturiertheit als Folge ihrer beschränkt gebliebenen Bildung. Im Kleinbasel Alltag und nicht nur dort sowieso allenorten vernehmbar. 

Stets manifestiert sich Unbehagen – ob selbstverschuldet oder fremden Ursprungs – in wenig adäquaten Äusserungen, wenn es von «unten» kommt. Hier gilt es genau zuzuhören und die Grenzen der Toleranz deutlich und genau zu ziehen. Aber  nicht, um das Anliegen generell als «reaktionär» abzutun, sondern dem Kern der Aussage Beachtung zu schenken. Bevor es von Kräften bewirtschaftet wird, die alles andere als eine Änderung anstreben, sondern Unbehagen als Vehikel ihrer eigenen «reaktionären» Interessen nutzen können. 

Egal was hier geschrieben wird: die Adressaten lesen das nicht, und wenn, verstehen sie es in der Ursächlichkeit nicht. Die Aufgabe einer «Gegenreaktion» besteht aber darin, hinzugehen, hinzuhören, verständlich zu sprechen und schreiben, die Quellen der «reaktionären» Ansichten zu erkennen und Konkretes zu unternehmen. Das ist politische Arbeit, Knochenarbeit, und scheint angesichts der «Grossmacht» Kapitalismus wenig erfolgversprechend. Dem Kapitalismus sind sowieso auch seine Kritiker untertan…