Raus aus dem goldenen Käfig
Die preisgekrönte Radiojournalistin Nicoletta Cimmino machte sich bei Radio SRF zuletzt als «Echo der Zeit»-Moderatorin einen Namen. Seit Kurzem arbeitet sie selbstständig. Im MEDIENWOCHE-Porträt nennt sie die Gründe für den Neuanfang und gibt einen Einblick in ihren Werdegang, der geprägt war von italienischen Sommern, der Leidenschaft für den Journalismus und der Suche nach Heimat.
Am Anfang jeder beruflichen Selbständigkeit steht ein Gefühl sowohl von Freiheit wie auch von Ungewissheit. Nicoletta Cimmino befindet sich gerade in diesem Zustand. Nach langen Jahren als festangestellte Radiojournalistin hat sie beschlossen, dem Journalismus zwar treu zu bleiben, aber fortan freischaffend tätig zu sein. «Ich weiss nicht, ob das gut kommt, ob ich mich durchschlagen kann, ob ich genug Aufträge haben werde», sagt sie. «Da ist kein doppelter Boden.»
Ich treffe die 47-Jährige bereits eine Viertelstunde vor dem vereinbarten Zeitpunkt beim Landesmuseum in Zürich an. «Wer unpünktlich ist, stiehlt jemandem seine Zeit», sagte sie kürzlich im Podcast «Kulturstammtisch». Sie nimmt Sonnenbrille und Maske ab und lächelt. Die Begrüssung ist herzlich, auch wenn wir uns das erste Mal begegnen.
«Ich finde es so provinziell, wenn man in der kleinen Schweiz, wo alles so nah beieinander liegt, einen derart grossen Wert darauf legt, woher man genau kommt.»
Im Museumscafé reden wir bei Lachsbrötchen und hausgemachtem Eistee über Biel, wo die Journalistin mit ihrer zwölfjährigen Tochter und deren Katze lebt. In einer Altbauwohnung mit hohen Decken und altem Parkett, um die Ecke Museen, die sie regelmässig besucht. Sie schätzt die zweisprachige Stadt wegen der zahlbaren Wohnungen, dem See, der Weltoffenheit. Vor allem aber ist sie dort geboren, und als ihre Tochter zu Welt kam, zog es sie dorthin zurück, wo auch ihre Mutter und Schwester lebten. Aber sie mag auch Zürich, wo sie zehn Jahre lang in Wiedikon lebte.
Überhaupt könne sie sich überall vorstellen zu wohnen, sagt Nicoletta Cimmino – auch in New York, in Paris oder in Italien. «Ich finde es so provinziell, wenn man in der kleinen Schweiz, wo alles so nah beieinander liegt, einen derart grossen Wert darauf legt, woher man genau kommt.» Vielleicht, überlegt sie dann, habe ihre Einstellung auch damit zu tun, dass sie nicht nur Schweizerin, sondern auch Italienerin sei. «Ich habe von klein auf gesehen, dass es ausserhalb der Schweiz wirklich ganz andere Lebensrealitäten gibt.»
Zum Zeitpunkt des Gesprächs ist Cimmino seit einem Monat selbstständig. Nach 17 Jahren als Radiojournalistin beim SRF, zuletzt während fünf Jahren als Moderatorin der politischen Hintergrundsendung «Echo der Zeit». Das erste Mal in ihrem Berufsleben arbeitet sie nicht in vom Arbeitgeber vorgegebenen Strukturen, sondern ist auf sich allein gestellt. Manchmal erschrecke sie, erzählt sie, wenn ihr Gegenüber sage: «Das ist so mutig, dass du dich selbstständig machst!» Dann frage sie sich, ob sie leichtsinnig sei. «Aber dann denke ich: Andere sind Coiffeuse oder Taxifahrer auf eigene Rechnung. Denen sagt man ja auch nicht, wie wahnsinnig mutig sie sind.» Nicoletta Cimmino möchte keine fremden Erwartungen mehr erfüllen. «Ich mache jetzt mein eigenes Ding», sagt sie, die sich aus ihrer Kindheit in eigenen Worten eine «innere Rebellin» bewahrt hat.
Unterstützen Sie unabhängigen und kritischen Medienjournalismus. Werden Sie jetzt Gönner/in.
Journalismus braucht Herzblut, Zeit – und Geld. Mit einem Gönner-Abo helfen Sie, unseren unabhängigen Medienjournalismus nachhaltig zu finanzieren. Ihr Beitrag fliesst ausschliesslich in die redaktionelle und journalistische Arbeit der MEDIENWOCHE.
Nicoletta Cimmino wächst in einem Wohnblock neben Wald und Wiesen im Bieler Vorort Brügg auf. Der Vater, aus dem Piemont, arbeitet in einer Fabrik, die Mutter ist Hausfrau und später Teilzeit-Sekretärin. Als Kind spielt sie mit der älteren Schwester draussen, sitzt nie still, die Türen der meist ausländischen Nachbarn stehen offen. Was ihre Eltern ihr mitgeben: vorurteilslos auf andere Menschen zugehen, die Liebe zu Büchern und zu Italien. Zweimal pro Jahr verreist die vierköpfige Familie in das Heimatland des Vaters.
«Ja, ich bin Schweizerin, aber mich verbindet auch ganz viel mit Italien. Ich muss, ja ich kann mich gar nicht für eine Seite entscheiden.»
«In Italien schien schon immer alles viel grösser als ich», schreibt Cimmino 2019 in ihrer ersten Kolumne für «Die Zeit». «Die Wassermelonen. Der Himmel. Das Glück. Denn: Waren wir im Süden, verwandelte sich meine komplizierte Familie. Und zwar zum Guten.» Und auch: «Ich habe mit Italien Frieden geschlossen, wie man als Erwachsener Frieden schliesst mit den eigenen, zutiefst fehlbaren Eltern. Ich betrachte das Land mit jener Demut und Dankbarkeit, die sich in der Regel einstellt, wenn man liebt, ohne zu urteilen.»
Als sie den Artikel für die «Zeit» schreibt, spürt sie das erste Mal: «Ja, ich bin Schweizerin, aber mich verbindet auch ganz viel mit Italien. Ich muss, ja ich kann mich gar nicht für eine Seite entscheiden. Das gehört alles zu mir.» Das dominante Gefühl ihrer Kindheit, erinnert sie sich, sei Heimweh gewesen. Paradox, sagt sie, denn sie sei ja stets daheim gewesen. Aber dieses Gefühl, nicht zu wissen, wohin man gehöre, habe sie stets begleitet.
Nicoletta Cimmino hat sich einen Namen in der Schweizer Medienwelt gemacht. Und doch kommt sie sich darin vor wie eine Exotin – in dreifacher Hinsicht: als «Arbeiterkind», mit Migrationshintergrund, ohne Hochschulabschluss. «Ich habe lange damit gehadert, dass ich nicht aufs Gymnasium gegangen bin», sagt sie. «Heute denke ich: Ich kann jungen Menschen wie meiner Tochter ein Vorbild sein, weil ich es ohne den Weg, den man vielleicht gehen müsste, ‹zu etwas gebracht› habe.» Sie empfinde es ausserdem als Vorteil, auch einen Zugang zu Leuten aus sogenannten «einfachen» Verhältnissen zu haben. «Ich kann mich in allen gesellschaftlichen Schichten bewegen, ohne gross aufzufallen.» Dann wird sie nachdenklich. «Aber mein Weg hätte auch kürzer sein dürfen. Ich habe wirklich sehr viel gearbeitet und keine Geschenke bekommen. Ich musste mir meine Anerkennung erkämpfen.»
«Ich finde bis heute so spannend am Journalismus, dass man das Recht hat, Geschichten zu erfragen und diese dann weiterzuerzählen.»
Als Sekundarschülerin beginnt Nicoletta Cimmino auf Empfehlung eines Lehrers, für die Jugendredaktion des «Bieler Tagblatt» zu schreiben. Mit 15 Jahren ist sie nach dem Schulabschluss aber zu jung für ein Volontariat im Journalismus. Widerwillig entscheidet sie sich für die Handelsschule, arbeitet anschliessend zwei Jahre lang als kaufmännische Angestellte in einer Privatklinik. «Ich habe das Naheliegendste gemacht – und war todunglücklich», erinnert sich Cimmino. Dann endlich die Erlösung: Eine Zusage auf eine Initiativbewerbung für ein Volontariat beim zweisprachigen Bieler Lokalradio «Canal 3».
Cimmino berichtet über Sitzungen des Stadtrats und immer wiederkehrende Quartierfeste. Die damals 23-Jährige blüht auf. «Ich finde bis heute so spannend am Journalismus, dass man das Recht hat, Geschichten zu erfragen und diese dann weiterzuerzählen», sagt Cimmino. Nach anderthalb Jahren bewirbt sie sich beim Zürcher «Radio 24» und erhält die Zusage. Vom damaligen Chef Roger Schawinski lernt sie, sich etwas zu trauen, ehrgeizig zu sein, sich nach oben zu orientieren, gross zu denken. «Das hat etwas Amerikanisches und gefällt mir.»
Sie arbeitet von morgens bis abends, mit hohem Tempo, insgesamt fünf Jahre lang. Nur mit einem Unterbruch für ein halbes Jahr als Fernsehmoderatorin bei TV3, über das sie schwärmt: «Das war eine der glücklichsten Zeiten meiner Karriere. Wir hatten ein unglaublich tolles Team und jeder Arbeitstag war wie ein Fest.»
—
Zur Person
Nicoletta Cimmino, geboren 1974, lebt als freie Journalistin in Biel. Nach der Handelsschule absolvierte sie 1997 ein Volontariat bei Canal 3, bevor sie für fünf Jahre zu Radio 24 nach Zürich wechselte – mit einem kurzen Abstecher ins Fernsehen (TV3).
2004 startete sie als Produzentin bei SRF 1 und blieb dem Unternehmen die nächsten 17 Jahre in verschiedenen Rollen treu. Zuerst moderierte sie die Nachrichtensendung «Info 3» , dann die Morgensendung «Heute Morgen», arbeitete anschliessend sie als Reporterin in der Inlandreaktion und machte sich zuletzt als preisgekrönte Moderatorin von «Echo der Zeit» einen Namen. Gleichzeitig produzierte sie regelmässig die Hintergrund-Sendung «Zeitblende».
Seit Mai 2021 ist die Mutter einer zwölfjährigen Tochter freischaffend in den Bereich Audio, Text und Moderation.
Es folgt die Anstellung als Produzentin bei SRF 1, damals DRS 1, in Zürich, die erste Station von 17 Jahren beim Schweizer Radio und Fernsehen. «Aber ich merkte, dass ich lieber an der Front bin, als für andere zu organisieren.»
Sie bekommt ihre Chance als Moderatorin, erst in der Nachrichtensendung «Info 3», dann in der Inlandredaktion, schliesslich im «Echo der Zeit». Sie moderiert elegant, mit Sprachwitz. Arbeitet auch inhaltlich, berichtet beispielsweise 2017 in Spanien über den Katalonien-Konflikt, führt 2019 ein kritisches Interview mit Aussenminister Ignazio Cassis über dessen Besuch der Glencore-Mine in Sambia. Und vertieft sich im Format «Zeitblende» in historische Stoffe. Zuletzt spricht sie mit dem Redenschreiber der berühmten Mauerrede von Ronald Reagan und macht daraus ein Hörstück, in dem sie mit O-Tönen spielt und das einen neuen Blick auf den damaligen amerikanischen Präsidenten erlaubt. «Nicoletta Cimmino hat eine unglaubliche Gabe, sich auf Gesprächspartner einzulassen», sagt die Produzentin Maj-Britt Horlacher, mit der sie zuletzt eng zusammenarbeitet. «Und sie begegnet ihren Kolleg:innen stets authentisch und auf Augenhöhe.»
«Das ‹Echo der Zeit› gilt als Olymp im Journalismus. Aber möchte ich auf dem Olymp alt werden?»
2019 wird Cimmino für ihre Arbeit als Moderatorin beim «Echo der Zeit» zur «Journalistin des Jahres» gekürt. Ihr Beispiel zeige, lobt Laudator Roger Schawinski, dass es für exzellenten Journalismus nicht unbedingt ein Hochschulstudium brauche. Sie freut sich sehr. Und fragt sich gleichzeitig: «Diese Figur der seriösen, kompetenten Vorzeige-Journalistin, bin das noch ich?» Während bei SRF eine aufwendige Reorganisation im Gange ist, beginnt Nicoletta Cimmino umzudenken. «Das ‹Echo der Zeit› gilt als Olymp im Journalismus. Aber möchte ich auf dem Olymp alt werden?»
Bereits ein Jahr zuvor keimen erste Zweifel auf, als die Radiojournalistin seit Langem wieder einen Artikel schreibt. Es ist ein Porträt für die «Republik» über den Bürgermeister von Palermo, der entgegen der Anordnung der Landesregierung entscheidet, die Häfen für Flüchtlinge offen zu lassen. Sie erlebe das Schreiben wie eine Offenbarung, sagt sie, auch wenn es ihr schwerfalle, weil sie das Gefühl habe, dass ein Text anders als ein flüchtiger Audiobeitrag für die Ewigkeit sei. Ein späterer Artikel für die «Zeit» handelt von der Genfer Schriftstellerin Yvette Z’Graggen und ihren Romanheldinnen: «Diese Frauen erschaffen sich ihr Leben, Entscheidung um Entscheidung, Ja um Ja, Nein um Nein. (…) Yvie, Marie, Cornelia und Florence erinnern uns daran, dass man sich die Freiheit bisweilen erkämpfen muss, in einer widerspenstigen Alltagstapferkeit. (…) Man möchte eine von ihnen sein.»
«Ich möchte meine verschiedenen Seiten zur Geltung bringen. Auch mal einen literarischen Text schreiben. Oder verrückte Podcasts machen.»
Die Journalistin merkt immer deutlicher, dass auch sie sich ihre Freiheit erkämpfen möchte. «Ich hatte keine Lust mehr, in dem wirklich schönen, angenehmen, mit sehr vielen Leuten ausgestatteten, aber nichtsdestotrotz goldenen Käfig zu bleiben.» Nicoletta Cimmino will ihre eigene Chefin werden. Im Frühjahr 2021 reicht sie die Kündigung ein. «Ich möchte meine verschiedenen Seiten zur Geltung bringen», sagt sie und lächelt, die blaugrünen Augen leuchten. «Auch mal einen literarischen Text schreiben. Oder verrückte Podcasts machen. Mehrdimensionaler im Leben stehen.»
Ende Mai heisst es das letzte Mal: «Radio SRF, Echo der Zeit mit Nicoletta Cimmino.» Anfang Juni erscheint bereits ihr erster Text als Selbstständige in der «NZZ am Sonntag». Natürlich über Italien, «unseren Sehnsuchtsort». «Mein letzter Italien-Text für sehr lange Zeit!», sagt Cimmino und lacht. Vorbei sind die Zeiten, in denen täglich um Viertel nach zehn die Redaktionssitzung rief und Punkt 18 Uhr, keine Sekunde später, die Sendung on air ging. «Jetzt kann ich meinen Alltag selbst gestalten», sagt Cimmino. Momentan arbeitet sie von ihrem Arbeitszimmer zuhause aus, merkt, wie Privates und Berufliches verschmelzen und spielt mit dem Gedanken, sich ein Atelier oder eine Bürogemeinschaft zu suchen. Erst will sie sich aber in der neuen Rolle finden. Die eigene Website ist noch nicht fertig, der Antrag auf Selbstständigkeit liegt noch bei der Ausgleichskasse.
«Früher habe ich das Herz noch viel mehr auf der Zunge getragen.»
Aufträge hat sie aber schon reichlich, 25 Jahre Berufserfahrung und ein grosses Netzwerk machen sich bezahlt. Sie moderiert Podiumsdiskussionen und Tagungen, beispielsweise das Swiss Economic Forum. Statt Radio macht sie jetzt Podcasts, ist neu Mitglied des Audio-Netzwerks Audiobande. Sie lässt sich inspirieren vom Interview-Podcast der amerikanischen Radiojournalistin Terry Gross und vom preisgekrönten Reportagen-Format «This American Life».
Ideen hat sie viele, als erstes möchte sie aber ihren «Radioslang» loswerden. «Ich kann in dem Bereich noch viel lernen», sagt sie. Überhaupt will sie bis ans Ende ihrer Karriere von Jung und Alt dazulernen. «Die Zeiten sind vorbei, in denen wir Journalist:innen in einem Elfenbeinturm unfehlbar unsere Predigten hielten und die ganze Nation das Gefühl hatte, wir seien die verkörperte Kompetenz. Wir sollten zu unseren Unzulänglichkeiten stehen.» Nicoletta Cimmino sagt, was sie denkt, wenn auch nicht mehr so temperamentvoll wie auch schon. «Früher habe ich das Herz noch viel mehr auf der Zunge getragen.»
Der hausgemachte Eistee ist ausgetrunken. Fühlt sie sich so frei, wie sie sich das erhoffte? «Ja, ich fühle mich frei», sagt Nicoletta Cimmino. «Also manchmal auch schwindelerregend frei, aber ja, ich fühle mich frei.» Diese Aussage sollte aber nicht der Titel für ihr Porträt werden, fügt sie an. Lieber sei ihr etwas mit «widerspenstig». Wobei, lenkt sie dann ein, eigentlich sei ihr alles recht und lächelt. «Das ist dein Text. Mach damit, was du möchtest.»