von Thomas Häusermann

«Zwölf»: Der Fussball schreibt kuriose Geschichten und Mämä Sykora erzählt sie

Lange Jahre war Mämä Sykora als Chefredaktor des Magazins «Zwölf» nur eingefleischten Fussballfans ein Begriff. Mit dem SRF-Podcast «Sykora Gisler» wurde die Bühne grösser und das Scheinwerferlicht greller. Der Lebenstraum des profiliertesten Schweizer Fussballexperten hat allerdings gar nichts mit Sport zu tun.

Dietikon, ein milder Nachmittag im Spätsommer. Hier in der Agglomeration von Zürich, nahe an der Grenze zum Kanton Aargau, empfängt uns Mämä Sykora. Etwas versteckt hinter Zäunen und Hecken steht eine ehemalige Schreinerei. Rundherum wird gebaut, gelärmt, gehupt. Wo früher Holz verarbeitet wurde, hat der amtierende «Sportjournalist des Jahres» seit bald zwei Jahren die Redaktion seines Fussballmagazins «Zwölf» untergebracht. Es herrscht gemütliche Brockenhausatmosphäre, die Möbel sind wild durcheinandergewürfelt, überall hängen Fussball-Sammelstücke aus vergangenen Jahrzehnten. In einem der Werkstatträume hat er eine kleine Bar eingerichtet. Die «Zwölf»-Redaktion bleibt hier so lange, bis die Erbin der Liegenschaft weiss, wie sie die Parzelle weiternutzen will. Bald werde wieder über eine Verlängerung der Zwischennutzung verhandelt, sagt er. Sykora hat vor zehn Jahren einen Verein, der brachliegende Immobilien nutzt, ins Leben gerufen. Eine Win-Win-Lösung, die auf reges Interesse stösst: Die Gebäude verfallen nicht und bleiben von Hausbesetzern verschont. Gleichzeitig kommen Menschen zu günstigen Wohn- oder Arbeitsräumen.

«Hätten wir mit ‹Zwölf› jemals konventionelle Redaktionsräume in Zürich mieten müssen, wäre wohl schon nach einem Jahr Schluss gewesen», meint Sykora. Mittlerweile existiert das Magazin seit 14 Jahren, 12 davon unter Sykoras Leitung. Er hat «Zwölf» nicht gegründet, aber früh das Ruder übernommen.

Während andere Printtitel verschwinden, hält sich die Publikation hartnäckig in den Kioskregalen und wird sechsmal pro Jahr an rund 5000 treue Abonnent:innen ausgeliefert. Das Heft besetzt im Schweizer Sportjournalismus eine Nische: Im Vordergrund stehen nicht das Tagesgeschehen und die Resultate, sondern die Geschichten, die der Fussball abseits vom Rampenlicht schreibt. Ähnlich wie das deutsche Vorbild «11 Freunde» zelebriert «Zwölf» die Fussballkultur. Die globale Entwicklung des Fussballs findet genauso statt wie kleine Dorfklubs. «Zwölf» handelt von vergessenen Legenden, tragischen Helden, Kuriositäten, Drahtziehern hinter den Kulissen –­­ ohne die Aktualität aus dem Auge zu verlieren.

«Mämä kann einfach zu allem erstaunliche Fakten und witzige Anekdoten aus dem Ärmel schütteln.»
Silvan Kämpfen, stellvertretender Chefredaktor «Zwölf»

Mämä heisst eigentlich Martin, aber niemand nennt ihn so. Sein Spitzname aus der Kindheit ist an ihm hängengeblieben, zu einem Markenzeichen geworden. Er trägt Flip-Flops, kurze Hosen, Dreitagebart. Der 45-Jährige ist freundlich, hat immer einen träfen Spruch auf Lager. Auf dem Tisch liegt eine Schachtel Lucky Strike, es steht Bio-Eistee bereit. Seine Hündin Atari, ein Mischling von einem Bauernhof, liegt zufrieden unter dem Tisch. Mit seiner legeren Art verkörpert Sykora sein Magazin perfekt. Vieles läuft bei der Zeitschrift etwas anders als bei Titeln grosser Medienhäuser. Die Macher sind Idealisten, die vieles aus Freude an der Sache machen. Das Budget ist knapp, reich wird bei «Zwölf» niemand. «Wenn mir etwas im Leben schon immer völlig unwichtig war, dann Geld», sagt Sykora. Und fügt trocken an: «Das einzige Problem an dieser Einstellung ist, dass man am Ende des Monats trotzdem seine Rechnungen zahlen muss.»

Deshalb hat er eine Einzelfirma gegründet, mit der er seine Dienste als Fussball-Experte auch ausserhalb seines Magazins kommerziell anbietet. Er baut Datenbanken auf, recherchiert, schreibt, berät. Zu seinen Kunden gehören etwa das FIFA-Museum oder die Raiffeisen Bank. Wenn Unternehmen etwas in Zusammenhang mit Fussball publizieren wollen, greifen sie gerne auf Sykoras Fachwissen zurück. Sein Alleinstellungsmerkmal: Er weiss so viel über Fussball wie sonst wohl niemand in der Schweiz. «Das geht vom Meisterschaftsfinal von anno Tubak über das Problem mit der Handsregel bis zum kulturellen Hintergrund von Fangesängen», sagt Silvan Kämpfen, der als stellvertretender Chefredaktor mit Sykora zusammen das Kernteam des Magazins «Zwölf» bildet. «Mämä kann einfach zu allem erstaunliche Fakten und witzige Anekdoten aus dem Ärmel schütteln.»


Die Ursprünge von Mämä Sykoras wohl einzigartigem Fussballwissen finden sich in Mettmenstetten, im Zürcher Säuliamt. Dort wächst der Sohn eines Tschechen und einer Schweizerin auf. Sein Vater, 1968 vor der einmarschierenden Roten Armee in die Schweiz geflüchtet, arbeitet als Lehrer und Heilpädagoge, seine Mutter ist Buchhändlerin und sozialdemokratische Lokalpolitikerin. «Wir waren finanziell nicht auf Rosen gebettet, lebten aber immerhin in einem Riegelhaus», erzählt Sykora und präzisiert fast rechtfertigend: «Eines, in dem es am Morgen zwei Grad kalt war – so ein Haus.»

Die Eltern trennen sich, als er fünf Jahre alt ist, pflegen aber weiterhin einen guten Umgang miteinander. Sie geben ihrem Sohn prägende Werte mit auf den Lebensweg. Die grosse soziale Ader etwa. Oder die Lust auf Wissen. «Ich war ein ausgesprochen neugieriges Kind. Meine ständige Fragerei wurde zur nervlichen Belastungsprobe für alle Erwachsenen», sagt Sykora lachend. Während er von seiner Mutter die Freude an Gesellschaft erbt – «wir hatten immer viele Leute zuhause» – übernimmt er von seinem eher ruhigen Vater die grenzenlose Fussballbegeisterung. Dieser hat die tschechische Zeitung «Gól» abonniert, die sämtliche Fussball-Telegramme aus allen europäischen Ligen abdruckt. Der kleine Mämä versinkt täglich darin, studiert Spielernamen, Torschützen, Vereine – und legt damit wohl unbewusst den Grundstein für sein späteres Berufsleben.

Zu seinem 14. Geburtstag schenkt ihm sein Vater ein Buch mit dem Titel «Wie werde ich Sportreporter?». «Ich war enttäuscht, wollte lieber einen Nintendo», erinnert sich Sykora. «Aber mein Vater hat fast schon visionär vorausgesehen, in welche Richtung mein Weg führen könnte.» Als Kind hat Mämä ein ausschliesslich negatives Bild von Arbeit. «In der sechsten Klasse führte meine Lehrerin eine Umfrage durch. Die Frage, ob Arbeit auch Spass machen könne, beantwortete ich als einziger in der Klasse mit Nein. Ich war überzeugt: Wenn etwas Spass macht, kann das keine Arbeit sein.»

Es kann. Später, während des «ewigen» Publizistikstudiums, schreibt er regelmässig Artikel über Fussball. Zu den Europa- und Weltmeisterschaften veranstaltet er ein immer grösser werdendes Wettspiel, mit einer Fülle von Informationen zu den Teams, den Spielern und den Legenden. «Das machte mir Spass. Für die Organisation setzte ich alle zwei Jahre ein Semester aus. Irgendwann realisierte ich, dass mir das Studium nichts bringt.» Er bricht es 2005 nach sieben Jahren ab, will lieber über Fussball als über Medientheorien schreiben.

Sykora scheut das Scheinwerferlicht nicht, freut sich über die Reichweite, bleibt sich selbst aber bei allem, was er macht, stets treu.

Zu dieser Zeit bewegt sich Sykora in einem subkulturellen Umfeld, steckt seine Zeit und Energie vor allem in Projekte, die aus Fronarbeit bestehen. Er präsidiert jahrelang die Alternative Fussballliga, in der abseits der offiziellen Verbände ausschliesslich aus Freude am Spiel gekickt wird. Und er führt an der Langstrasse, versteckt hinter dem ehemaligen Restaurant Tessinerkeller, die auf Fussball spezialisierte Bombay Bar. Sie hat zwar keine offizielle Bewilligung, aber viele Fans.

2007 fragen ihn die beiden «Zwölf»-Gründer, die das Magazin anlässlich der anstehenden Fussball-Europameisterschaft in der Schweiz ins Leben riefen, ob er beim Magazin mitwirken wolle. Er bietet ihnen die Möglichkeit, die Redaktion oberhalb seiner Bombay Bar einzurichten, steigt mit ein und übernimmt zwei Jahre später die Chefredaktion. Sein Wirken bleibt vorerst einem vergleichsweise kleinen, fussballinteressierten Kreis vorenthalten.

Mit der Zeit werden die Bühnen jedoch grösser, Anfragen von Radio und Fernsehen kommen, sein Wissen wird immer gefragter. Sykora scheut das Scheinwerferlicht nicht, freut sich über die Reichweite, bleibt sich selbst aber bei allem, was er macht, stets treu: «Ich habe mich oder das, was ich mache, nicht gross verändert. Es hat einfach eine gewisse Zeit gedauert, bis ich genügend Leute angesprochen habe, um damit meinen Lebensunterhalt verdienen zu können.»

Als Sykora während der Weltmeisterschaft 2018 mehrmals Gast in der SRF-Fussball-Talkshow «Letschti Rundi» ist, hinterlässt er einen bleibenden Eindruck auf Gastgeber Tom Gisler, der spätabends mit Experten und Prominenten bei einem Bier über die Spiele des Tages plaudert. Als bei SRF nach der WM die Idee aufkommt, das Konzept in einen Podcast zu übertragen, ist für Radiomoderator Gisler klar: Als Co-Host kommt nur Mämä Sykora in Frage. «Weil er zwei Sachen vereint wie sonst niemand im Land: Eine geballte Ladung Fussball-Kompetenz, gleichzeitig aber auch einen hohen Unterhaltungswert», erklärt er. «Er nimmt zwar das Thema ernst, nicht aber sich selbst.» «Sykora Gisler» ist heute der beliebteste Sport-Podcast der Schweiz und in einer gefilmten Version auch bei SRF zwei zu sehen.

Das Duo ergänzt sich im Gespräch mit einem jeweils mehr oder weniger prominenten Gast. Gisler, der passionierte Fussballfan auf Augenhöhe mit dem Publikum, Sykora, der Experte, der auf jede Frage die passende Antwort weiss und die Diskussion jederzeit mit Fakten und Anekdoten aus gefühlt 200 Jahren Fussballgeschichte bereichert. «Er hat eine Art fussballhistorisches Tourette, erzählt plötzlich Geschichten von früher», lacht Gisler. So erfährt das Publikum beispielsweise aus heiterem Himmel, dass in den Dreissigerjahren einmal ein B-Ligist Schweizermeister wurde. Eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit. Der Fussball schreibt kuriose Geschichten und Sykora erzählt sie.

2020 wird Sykora für sein jahrelanges, akribisches Schaffen geehrt und von seinen Berufskolleg:innen zum «Sportjournalisten des Jahres» gewählt.

Die neue, grössere Bühne bleibt nicht ohne Folgen. «Ich werde öfters von wildfremden Menschen unterwegs erkannt und angesprochen», sagt Sykora. Ausnahmslos alle wollen mit ihm über Fussball reden. Die schönste Nebensache der Welt bietet immer Gesprächsstoff, alle haben eine Meinung dazu. «Mich stört das meistens nicht, mir macht der Austausch Spass und ich räume gerne mit verbreiteten Mythen auf», sagt er. Etwa, dass es für die anderen Schweizer Vereine von Vorteil sei, wenn ein Team in der Champions League spiele. Oder dass Italien immer noch die Defensive zelebriere. Was ihn nicht stört, kann mitunter etwas nervig für seine Partnerin sein. «Meine Freundin hat kürzlich vorgeschlagen, ich solle das zum Geschäftsmodell machen und meine Gesprächszeit kostenpflichtig verrechnen», lacht er.

Unterstützen Sie unabhängigen und kritischen Medienjournalismus. Werden Sie jetzt Gönner/in.

Journalismus braucht Herzblut, Zeit – und Geld. Mit einem Gönner-Abo helfen Sie, unseren unabhängigen Medienjournalismus nachhaltig zu finanzieren. Ihr Beitrag fliesst ausschliesslich in die redaktionelle und journalistische Arbeit der MEDIENWOCHE.

[rml_read_more]

2020 wird Sykora für sein jahrelanges, akribisches Schaffen geehrt und von seinen Berufskolleg:innen zum «Sportjournalisten des Jahres» gewählt. «Ich bin einigermassen entsetzt. Aber auch stolz», twittert er in einer ersten Reaktion. Eigentlich ist er viel stolzer, als er sich anmerken lässt. «Wenn man hört, wie die grossen Medienhäuser ihre zahlreichen Mitarbeitenden dazu animieren, die Nominierten aus den eigenen Reihen zu wählen, ist die Wahl schon fast unglaublich. Eine schöne Würdigung.» Den Titel hängt er trotzdem nicht an die grosse Glocke. «Es gibt Stimmen, die sagen, ich vermarkte ihn zu wenig», lacht er. Ganz anders seine Mutter: «Sie ist unglaublich stolz und spricht viel öfter darüber als ich.» Am meisten Freude hätte die Ehrung aber wohl seinem Vater bereitet. «Er hat die Wahl leider nicht mehr miterlebt, weil er kurz zuvor verstorben ist. Ich weiss aber, dass es ihn extrem gefreut hätte, weil er sowieso immer stolz war auf alles, was ich gemacht habe.» Ein unerwarteter, kurzer emotionaler Moment in einem ansonsten lockeren und mit viel Witz geführten Gespräch.

Ein Gespräch, das plötzlich gestört wird. Der ohrenbetäubende Lärm eines Laubbläsers kommt näher, eine Frau reinigt einen angrenzenden, bereits sauberen Parkplatz. Auch wenn man kurzzeitig das eigene Wort nicht mehr versteht: Sykora lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Amüsiert schaut er dem absurden Treiben zu. «So was werde ich nicht vermissen, wenn ich eines Tages aufs Land ziehe», meint er kopfschüttelnd, aber mit einem Augenzwinkern. Kurzes Innehalten. Aufs Land ziehen? «Fussball ist eigentlich überhaupt nicht wichtig», sagt er und erzählt von seinen Lebenszielen, die nichts mit der omnipräsenten Ballsportart zu tun haben. Von einem Weiler, in dem nur Freunde wohnen, träumt er. Gärten bewirtschaften, Permakultur betreiben, vielleicht Selbstversorgung. «Ich halte immer die Augen offen – aber es ist in der Schweiz nicht so einfach, einen Weiler zu kaufen.»

Die geplante Stadtflucht kommt überraschend. Sykora wirkt mit seiner unkomplizierten, weltoffenen und sozialen Art wie ein urbaner Stereotyp. «Ich nutze mittlerweile das Angebot, das eine Stadt bietet, viel zu selten, damit es Sinn machen würde, weiter in der Stadt zu wohnen», erklärt er. Der Zürcher Innenstadt hat er deshalb bereits seit längerem den Rücken gekehrt, bewohnt im Aussenquartier Altstetten mit seiner Freundin und den zwei Hunden ein Haus, über dessen Zukunft sich 14 Erben seit Jahren nicht einig sind. Einmal mehr: Zwischennutzung in allen Lebenslagen.

Auch wenn es noch viel zu bereden gäbe: Die Zeit ist langsam um. Am Abend spielt die Schweizer Fussballnationalmannschaft gegen Nordirland. Und so sprechen wir am Ende doch wieder über Fussball, als ginge es gar nicht anders. Das Unentschieden gegen Europameister Italien ein paar Tage zuvor sei von den Medien viel zu undifferenziert hochgejubelt worden, mahnt Sykora und prognostiziert der neuen, kollektiven Euphorie um Trainer Murat Yakins Einstand ein baldiges Ende. Ein paar Stunden später muss sich eine ideenlose Nati mit einem trostlosen 0:0 zufriedengeben. Der Ball ist rund, das Spiel dauert 90 Minuten – und Sykora hat einmal mehr Recht behalten.

Bilder: Marco Leisi

Leserbeiträge

Martin Schuppli 30. Mai 2022, 19:12

Sackstark.