von Nick Lüthi

Katar und die 6500 Toten: Karriere einer «schockierenden Zahl»

Seit der «Guardian» die Zahl von 6500 toten Arbeitsmigranten während der Bauzeit der WM-Stadien veröffentlicht hatte, dient sie als Chiffre für die katastrophalen Arbeitsbedingungen in Katar. Wer die Zahl einordnet, gilt schnell als Propagandistin des Emirats – auch deshalb, weil sie die Medien bis heute ohne Kontext wiederholen.

Geht es darum, die Ungerechtigkeiten dieser Welt anzuprangern, gehört Jean Ziegler zu den ersten, die ihre Stimme erheben. Als eines seiner Sprachrohre dient dem ehemaligen SP-Nationalrat die Gewerkschaftszeitung «Work». Unter dem Titel «Das Fussballfest im Sklavenstaat» geisselte Ziegler kürzlich die anstehende Weltmeisterschaft in Katar. Dabei erwähnte er auch die «erschreckende Bilanz», wonach seit der Vergabe des Turniers 2010 an den Golfstaat «bei Bauarbeiten über 6500 Arbeiter» gestorben seien.

Ziegler zitierte den britischen «Guardian», der die «schockierende Zahl» Ende Februar 2021 in die Welt gesetzt hatte. Seither dient der Verweis auf die 6500 Toten in der Medienberichterstattung als handfester Beleg für die Brutalität und die Skrupellosigkeit mit der die Scheichs die Infrastruktur für die Fifa-Fussball-WM aus dem Wüstenboden stampfen liessen. Wie Ziegler haben zuvor schon zahlreiche andere Medien die Zahl zitiert und tun das bis heute. Im Fall von «Work» blieb sie aber nicht so stehen. Es folgte Widerspruch.

Wenn schon wäre es die Aufgabe von unabhängiger Seite, also auch den Medien, Lesehilfen zu liefern.

«Die Todesfallzahlen werden immer wieder in einen falschen Zusammenhang gebracht, auch von Jean Ziegler», stand in einem Leserbrief. Es meldete sich aber nicht etwa Katars Botschafter oder ein Fifa-Sprecher. Verfasst hatte die Replik Rita Schiavi, Gewerkschafterin und ehemaliges Geschäftsleitungsmitglieder der Unia. Schiavi klärte auf: «Die 6500 toten Arbeiter beziehen sich auf 10 Jahre (also 650 Tote pro Jahr) und 1,4 Mio. Arbeiter aus den Ländern, welche die Todesfallzahlen gemeldet haben. Das sind nicht Arbeiter, die bei Bauarbeiten gestorben sind, wie Ziegler schreibt. Die allermeisten sind an Krankheiten und bei Verkehrsunfällen gestorben.»

Rita Schiavi kennt die Situation vor Ort. 2016 hatte die Globale Gewerkschaftsföderation Bau- und Holzarbeiter Internationale BHI erreicht, dass sie die WM-Baustellen in Katar inspizieren darf. Schiavi nahm an mehreren Inspektionen teil und stellte klare arbeitsrechtliche Verbesserungen fest. Dennoch traut man ihren Aussagen nicht. Als sie kürzlich in einem Interview mit den CH-Media-Zeitungen zu den toten Bauarbeitern wiederholte, was sie Tage zuvor im «Work»-Leserbrief geschrieben hatte, argwöhnte der Journalist: «Frau Schiavi, Sie reden bisher ein wenig wie eine Botschafterin für Katar.» Diesem Verdacht setzte sich die Schweizer Gewerkschafterin auch deshalb aus, weil bisher vor allem Vertreter von Fifa und Katar die Zahl von 6500 Toten einzuordnen versuchten. Aus dieser Richtung wirken Rechenspiele mit der Opferzahl wie zynische Relativierungsversuche.

Am überaus unvorteilhaften Gesamtbild der Fussball-WM in Katar änderte sich nichts, wenn die Medien in diesem einen Punkt präziser und vollständiger berichten würden.

Wenn schon wäre es die Aufgabe von unabhängiger Seite, also auch den Medien, Lesehilfen zu liefern. Zwar fanden sich im «Guardian»-Bericht alle entscheidenden Zahlen, aber eine wichtige Rechnung stellte die Zeitung nicht an: Sind 6500 Tote während zehn Jahren bei einer Gesamtzahl von 1.5 bis 2 Millionen Gastarbeitern viel oder wenig? Eine Sterblichkeitsrate zwischen 0.3 und 0.5 Promille, die sich daraus errechnen lässt, taugt nicht zum Skandal. Sie ist praktisch identisch mit dem Wert für die 20 bis 29 Jahre alten Männer 2018 in der Schweiz, wie der Nebelspalter bereits vor einem Jahr festgehalten hatte. In Schweden sei die Mortalitätsrate bei Männern zwischen 20 und 44 sogar deutlich höher als unter den Wanderarbeitern in Katar, errechnete das Reportage- und Investigativ-Magazin «Filter». Die «schockierende Zahl» des «Guardian» sei vielleicht gar nicht so schockierend. «Eine so niedrige Sterblichkeitsrate wäre selbst im Wohlfahrtsstaat Schweden ein Traum», schrieb «Filter» weiter.

Obwohl es auf der Hand läge, die absoluten Zahlen zum besseren Verständnis in einen Kontext zu stellen, unterlässt es die kritische Berichterstattung zu Katar bis heute weitgehend; so auch kürzlich ein längerer Beitrag des Deutschlandfunks zur Frage, wie viele Gastarbeiter in Katar starben. Da erfährt man zwar durchaus Erhellendes zu den Schwierigkeiten, präzise Zahlen zu erheben. Aber am Ende bleibt auch hier der hohe Wert von 6500 toten Bauarbeitern hängen, ja sogar 15’000, wie ihn Amnesty International verbreitet.

Am überaus unvorteilhaften Gesamtbild der Fussball-WM in Katar änderte sich nichts, wenn die Medien in diesem einen Punkt präziser und vollständiger berichten würden. Und die Kritik wäre sogar glaubwürdiger, wenn sie relevante Kontextinformation nicht auslassen würde.

 

«Blick» und SRF zur WM in Katar: Fussball als Nebensache

Sie sind die treusten und engsten Begleiter der Schweizer Fussball-Nationalmannschaft. «Blick» berichtet seit jeher intensiv über die Nati, quasi als Sprachohr der Millionen von Expertinnen und Möchtegern-Nationaltrainer im ganzen Land. Das Schweizer Fernsehen SRF wiederum bietet mit der Live-Übertragung aller Nati-Spiele eines der letzten Fernsehlagerfeuer. Doch für einmal mag selbst wenige Tage vor Turnierbeginn keine Vorfreude aufkommen. Dominierten im Vorfeld früherer Welt- oder Europameisterschaften Fragen zur Qualität des Kaders und zur Fitness der Spieler, dreht sich die Vorabberichterstattung diesmal um die unerfreulichen Begleitumstände zur Fussball-WM.

Beim Blick Sport hatte man sich vorgestellt, mit Turnierbeginn auf den Sport zu fokussieren. Doch daraus wird nichts. Nachdem ein katarischer Funktionär Homosexualität öffentlich als Geisteskrankheit taxierte, sagte Sportchefin Steffi Buchli auf Blick TV: «Wir werden noch mehr die Augen und Ohren offen halten dafür». Auch wenn sie das so geplant hätten, ergebe eine Trennung keinen Sinn. «Die Realität im Sport ist längst eine ganz andere: Sport, Wirtschaft und Politik verschmelzen.» Dass dies auch dem Interesse des Publikums entspricht, beobachtet derzeit das Schweizer Fernsehen.

Es sie derzeit «ein sehr hohes Interesse an Themen feststellbar, die über den Sport hinausgehen», teilt Lino Bugmann, Mediensprecher SRF Sport, auf Anfrage der MEDIENWOCHE mit. So zählte der Online-Artikel zur Enthüllung um Katars Spionage-Operation gegen die Fifa zu den meistgelesenen Artikeln des gesamten SRF-Angebots der letzten Tage. Ebenso erzielen Beiträge wie jener der «Tagesschau» zum Umgang mit Homosexuellen in Katar auf den SRF-Onlineplattformen ähnliche Zugriffswerte wie beispielsweise die Meldungen zu Yann Sommers Sprunggelenkverletzung oder der Bekanntgabe des Schweizer WM-Kaders.