von Benjamin von Wyl

«Wenn sich alle mit Grausen abwenden, erreicht die Berichterstattung nichts»

Immer wieder zerfetzte Teddybären und die Tränen der Betroffenen? Ein Gespräch mit Matthias Katsch darüber, wie Journalismus über Missbrauch etwas bewegen kann.

Wer an die Berichterstattung über sexuellen Missbrauch an Kindern denkt, denkt wohl an reisserische Schlagzeilen, dazu Fotos von kaputten Puppen und zerrissenen Teddybären. Über das Thema zu berichten, ist so heikel wie wichtig. Doch die Grenze zum Voyeurismus ist nah – und schlechte Beispiele gibt es viele. Aber anscheinend bleiben Aktivist:innen und Betroffenen auch die guten Beispiele in Erinnerung.

Vor ein paar Wochen haben sich im Casino Bern Anwält:innen, Nichtregierungsorganisationen und Betroffene aus ganz Europa getroffen, sich ausgetauscht und eine europäische «Justice Initiative» gegründet, quasi ein Pendant zur Schweizer Wiedergutmachungsinitiative.

Matthias Katsch ist aus Deutschland angereist. Neben vielen weiteren Engagements ist Katsch Sprecher der Initiative «Eckiger Tisch», der die Betroffenen von sexueller Gewalt innerhalb der katholischen Kirche vertritt, und Mitglied der «Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs». Die Kommission geht auf einen Beschluss des deutschen Bundestags zurück und untersucht «sämtliche Formen sexuellen Kindesmissbrauchs in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR ab 1949».

Im Casino Bern sprach Katsch über Journalismus. Aktivismus brauche den Journalismus. Nur mit unabhängiger Berichterstattung und Recherche sei es gelungen, dass Institutionen, in denen solche Verbrechen stattfanden, ihre Position verrückten.

Während Matthias Katsch vor einem Publikum aus Aktivist:innen den Journalismus lobte, zeichnet er im Gespräch mit der MEDIENWOCHE mit Selbsterlebtem und ethischen Überlegungen nach, was alles besser werden kann. Er fordert neue Bilder, die das Engagement und die Dynamik der Betroffenen vermitteln, und eine weltweite Verpflichtung, die Identität der Opfer zu schützen.

MEDIENWOCHE:

Herr Katsch, vor ein paar Wochen haben Sie in Bern in Ihrer Ansprache bei der «Justice Initiative» den Journalismus gelobt. An welche Erfahrung haben Sie dabei gedacht?

Matthias Katsch:

Wenn Betroffene von Gewalt, von Missbrauch, über ihre Erfahrung zu sprechen beginnen, reicht das nicht. Es braucht auch eine Gesellschaft, die zuhört. Und damit zuallererst Journalistinnen und Journalisten, die bereit sind, das Gesprochene zu transportieren. Diese Bereitschaft ist keineswegs selbstverständlich. In Ländern in Südamerika und Osteuropa, aber auch in Italien und Spanien, berichtet die Presse – auch nach 2010 – bloss sehr zögerlich oder überhaupt gar nicht über Enthüllungen von Missbräuchen innerhalb der katholischen Kirche. Da gibt es dann keine Betroffenenbewegung und keinen Druck.

MEDIENWOCHE:

Und wie ist dann möglich, dass sich das verändert und die Fälle in die Öffentlichkeit durchdringen?

Matthias Katsch:

Oft gelingt es mit einem Anstoss von ausserhalb, beispielsweise in Chile 2010: Alle lokalen Zeitungen hatten es abgelehnt, über die Anklage von drei Betroffenen gegen einen der renommiertesten Priester der Hauptstadt von Santiago zu berichten, der über viele Jahre Jungen im Jugendzentrum seiner Pfarrei missbraucht hatte – dann kam der Artikel in der New York Times und wenige Tage danach gab es ein spektakuläres Interview im chilenischen öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Damit war der Damm gebrochen und plötzlich berichteten auch chilenische Zeitungen. Die Medien können aus der Gatekeeper-Funktion, die sie nach wie vor haben, Öffentlichkeit befördern oder hemmen. In Deutschland gibt es das Beispiel der Odenwaldschule, wo schon 1999 ein einzelner Artikel in der «Frankfurter Rundschau» erschien – und dieser verhallte im Nichts.

«Die Journalistinnen, Journalisten wurden zu Verbündeten der Betroffenen – weil sie bereit waren, zuzuhören.»

MEDIENWOCHE:

War das ein Betroffenenbericht?

Matthias Katsch:

Das war ein recherchierter Text, der zusammen mit einem Betroffenen, der damals noch nicht lange aus der Schule raus war, entstanden ist. Der wies bereits klar darauf hin, dass es dort dutzende Opfer geben muss und dass dies die Verantwortlichen über lange Zeit verdeckt haben. Das stand da alles schon drin. Der schon klar darauf hinwies, dass es dort dutzende von Opfern geben muss und dass das über lange Zeit verdeckt worden war von den Verantwortlichen. Das stand da alles schon drin – doch gab es überhaupt keine Resonanz, kein anderes Medium in Deutschland hat darüber berichtet. Elf Jahre später erlebten wir das in Deutschland ganz anders: Aus dem Artikel in der «Berliner Morgenpost» vom 28. Januar 2010 über die Missbrauchsfälle am Canisius-Kolleg – wo ich einst Schüler war – entstand eine Welle! Ich fand es eine befreiende Welle von Enthüllungen: Vom Kloster Ettal über das Aloisius-Kolleg in Bonn bis zu den Jesuiten im Schwarzwald wurden die Enthüllungen immer weitergetragen. Die Medien sind drangeblieben, haben nachrecherchiert und selber Fälle aufgedeckt, zum Beispiel den Regensburger Domspatzenskandal. Die Journalistinnen, Journalisten wurden zu Verbündeten der Betroffenen – weil sie bereit waren, zuzuhören. Weil sie den Resonanzraum schufen, damit unsere Stimmen gehört wurden.

MEDIENWOCHE:

Wäre es heute noch denkbar, dass ein Artikel mit derart klaren Vorwürfen wie in der «Frankfurter Rundschau» keine Reaktion hervorruft? In den Sozialen Medien verbreiten sich Vorwürfe ja schnell.

Matthias Katsch:

Soziale Medien haben die Dynamik ein wenig verändert – doch das Netz gab es da schon lange und schon lange war es voll von Plattformen, Projekten und Websites von Betroffenen, die sich austauschen. Aber viele Gruppen werden von der Öffentlichkeit kaum beachtet, etwa die Heimkinder in Deutschland, ganz anders als in der Schweiz. Die Sozialen Medien sind kein Selbstläufer. Es braucht nach wie vor, und das ist ja auch gut so, die Prüfung und Verstärkung durch die Presse, durch den professionellen Journalismus, durch die traditionellen Medien, um eine Wirkung in der Öffentlichkeit zu erzielen.

MEDIENWOCHE:

Wenn Journalist:innen einen Resonanzraum verstärken, ist es per se gut. Es kommt also gar nicht so sehr drauf an, wie Journalist:innen berichten?

Matthias Katsch:

Natürlich gibt es auch Formen von Journalismus, die sehr voyeuristisch ausgerichtet sind. Diese haben einen Teil dazu beigetragen, dass sich Betroffene lange damit schwertaten, an die Öffentlichkeit zu gehen. Dieser Journalismus sorgt für Angst vor falscher Skandalisierung und Reviktimisierung in der Öffentlichkeit. Natürlich spiegelt der voyeuristische Blick von diesem Journalismus auch etwas wieder, was die Gesellschaft will, wo wir als Gesellschaft auch Lernende sind …

MEDIENWOCHE:

Aber wäre es nicht die Verantwortung von Medien, diesen Voyeurismus zumindest zu regulieren? Journalist:innen dürfen sich ja nicht rausreden mit «Das Publikum will das, darum bringen wir es so».

Matthias Katsch:

Ich persönlich habe überwiegend positive Erfahrungen gemacht, aber es gibt eine Tendenz in der Berichterstattung, die die Opfer in der Opferrolle zeigen will. Mit dem Argument, das löse die grössere Betroffenheit bei den Leser:innen oder dem Publikum aus. Diese Darstellung sei notwendig, um die Menschen bei so einem Thema mitzunehmen. Es hat was Klischeehaftes. In ihrer Anfrage für einen Fernsehbericht sagte mir eine Journalistin relativ frank und frei: «Ich hab einen Politiker, einen Wissenschaftler und jetzt brauch ich noch ein Opfer.» Die Rolle, die sie mir zugedacht hat, war also die Opferrolle.

MEDIENWOCHE:

Haben Sie zugesagt?

Matthias Katsch:

Ich habe abgelehnt. Aber diese Situationen sind natürlich ambivalent, denn auf der anderen Seite möchte man ja in den Medien mit der eigenen Geschichte erscheinen oder dem, was man transportieren will. Bis zu einem gewissen Punkt muss man sich dem unterwerfen: Ich weiss nicht, wie oft und wie lang ich traurig guckend am Wasser entlang spazieren musste. Besonders in den ersten Jahren waren das fast immer die Schnittbilder, mit denen in Fernsehberichten das schlimme Schicksal des sexuellen Kindesmissbrauchs gezeigt wurde. Das verändert sich langsam – weil wir versuchen, auch andere Bilder zu schaffen. Ich vermeide bis zum heutigen Tag alles, was nach Schwäche aussieht: Nie würde ich mich als Aktivist irgendwo anketten und damit Bilder von Ohnmacht reproduzieren und ich rate allen anderen Betroffenen davon ab, so etwas zu tun. Es geht darum, Stärke und Selbstbewusstsein zu transportieren. Auch wenn das anfangs eine Weile dauerte: In der Bauchbinde vom Fernsehen steht heute nicht mehr Opfer, sondern «Aktivist» oder «Betroffeneninitiative».

«Neben Schwäche, Leid und Trauer sollten die Berichte auch die Überlebensleistung von Betroffenen einfliessen lassen – auch und gerade in den Bildern, die sie transportieren.»

MEDIENWOCHE:

Geht das nur Ihnen so, weil Sie Mitglied der «Unabhängigen Aufarbeitungskommission» und Geschäftsführer des «Eckigen Tischs» sind?

Matthias Katsch:

Auch ich muss immer wieder einfordern, dass ich als Handelnder anerkannt werde. Es kommen auch immer wieder Journalistinnen, Journalisten dazu, die noch nie über das Thema berichtet haben. Was tatsächlich, finde ich Not tut, wäre ein internationaler Kodex, eine Übereinkunft, wie man über Missbrauch und Misshandlung berichtet oder eben nicht berichtet. Der Betroffenenrat in Deutschland hat etwa Tipps zu Interviews über Sexuelle Gewalt verfasst. Opfer, ist im Deutschen jedenfalls, ein Wort, das Menschen sehr schwach, ohnmächtig macht. Relativ schnell konnte man den Begriff «Betroffene» in der Berichterstattung durchsetzen. Lange Zeit wurde das Wort «Kinderpornographie» sehr unkritisch in Berichterstattung verwendet und wir haben immer wieder darauf hingewiesen, dass es sich dabei um Darstellungen von Missbrauch handelt. Das andere Wort relativiert das Verbrechen und verschleiert es auch. In der Zwischenzeit wird der Begriff Missbrauchsdarstellungen oder Darstellungen von sexuellem Missbrauch häufiger benutzt. Und so kann man glaub ich auch in einer Entwicklung weiterkommen, im Diskurs. Ich hoffe, dass diese überemotionalen Bilder und diese sehr auf Schock ausgerichteten Berichte weniger werden. Andere Dinge sind harziger. Wenn es etwa um Symbolbilder geht, tun sich Redaktionen von Zeitungen und Fernsehen noch immer sehr sehr schwer: Da kommen immer die gleichen zerstörten Teddys, die weinenden Puppen – das ist sehr klischeehaft. Ich versteh schon, dass es schwierig ist, über so etwas zu berichten, aber neben Schwäche, Leid und Trauer sollten die Berichte auch die Überlebensleistung von Betroffenen einfliessen lassen – auch und gerade in den Bildern, die sie transportieren.

MEDIENWOCHE:

Was wären denn geeignete Bilder?

Matthias Katsch:

Natürlich kommt es auf den Kontext an. In vielen Berichten würde ich mir mehr Bilder von aktivistischen Betroffenen wünschen. Gerade wenn es um die Vergangenheit geht, gibt es mittlerweile sehr viele Bilder von Aktionen, von Versammlungen, von Meetings, von anderen Gesprächssituationen, die man verwenden könnte.

MEDIENWOCHE:

Und was, wenn es keine Aktion oder Demonstration gibt?

Matthias Katsch:

Wenn es aus journalistischen Gründen nicht möglich ist, das zu verknüpfen, würde ich mir vielleicht künstlerische Auseinandersetzung wünschen, die ein bisschen subtiler ist als ein Teddybär oder die kaputte Puppe. Das ist eine Anstrengung, das ist mir klar. Generell muss sich auch Kunst mehr mit Missbrauch beschäftigen. Es ist nicht nur das Problem der Kirche oder einiger weniger Institutionen – es ist ein verbreitetes gesellschaftliches Phänomen, dem im internationalen Schnitt rund ein Zehntel der Kinder begegnen, bevor sie 18 Jahre alt werden. Im Verhältnis zu dieser Zahl haben wir noch sehr wenig Auseinandersetzung damit.

«Die Journalistinnen und Journalisten haben eine wichtige verstärkende Funktion, damit Menschen mit einem solchen Anliegen in der Gesellschaft Gehör finden.»

MEDIENWOCHE:

Ich glaube, alle Journalist:innen wissen eigentlich, dass diese Symbolbilder grässlich sind. Ein Faktor mag sein, dass die, die vor Ort sind und den Betroffenen begegnen, fast immer nicht dieselben sind, die Schlagzeilen entwerfen und über Lead und Titelbilder entscheiden.

Matthias Katsch:

Die Auswahl der Leute am Schreibtisch spiegelt natürlich auch den Bewusstseinsstand der Gesellschaft. Deswegen erzähle ich die Geschichte von 1999: Es braucht eine gesellschaftliche Bereitschaft, zuzuhören. Wenn die nicht da ist, kann man mit journalistischen Mitteln auch nichts erreichen. Vielleicht hilft dann Aktivismus. Ich beobachte das in Ländern, in denen die öffentliche Meinung noch nicht bereit ist für die Auseinandersetzung. In Polen unterstützten wir über Jahre hinweg die lokalen Betroffenengruppen und halfen ihnen, Öffentlichkeit herzustellen. Irgendwann ist ein Funke übergesprungen: Leute aus der Frauenbewegung kamen dazu, Politiker:innen sind aufmerksam geworden, der Menschenrechtsbeauftragte des Parlaments hat sich gekümmert. Dann fing das langsam auch in der lokalen Presse an, aber es brauchte tatsächlich diesen Impuls. Beim Missbrauchsgipfel in Rom 2019 waren sehr viele Fernsehteams aus der ganzen Welt, aus vielen Ländern vor Ort. Die suchten dann dort ihre nationalen Betroffenen und wollten sie interviewen. Die Kolleginnen, Kollegen haben uns gesagt: Das ist das erste Mal, dass mein Fernsehen, mein Heimatfernsehen, mit mir sprechen will. Es war auch das erste Mal, dass die Betroffenen aus Italien im italienischen Fernsehen aufgetreten sind. Das hatte natürlich mit dieser Internationalen Konferenz und der Wirkung davon zu tun. Es ist kein Selbstläufer, es braucht Engagement und gewisse Konstellationen, aber die Journalistinnen und Journalisten haben eine wichtige verstärkende Funktion, damit Menschen mit einem solchen Anliegen in der Gesellschaft Gehör finden.

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MEDIENWOCHE:

Wofür bräuchte es einen internationalen Kodex für die Berichterstattung über sexuelle Gewalt?

Matthias Katsch:

Es wäre sehr hilfreich, wenn sich Medien weltweit drauf einigen könnten, die Identität von Opfern nicht gegen deren Willen zu enthüllen. In Deutschland gibt es grosse Zurückhaltung, die Namen von Tätern zu nennen. Aber während man die Beschuldigten – das sind sie ja zunächst – anonymisiert, werden in Deutschland die Namen der Opfer viel leichtfertiger gedruckt. Anderswo gibt es diese Zurückhaltung in beiden Richtungen überhaupt nicht. Für die Betroffenen macht es das sehr schwer – insbesondere in Gesellschaften, die noch nicht so bereit sind zu akzeptieren, dass es sexuelle Gewalt gibt, dass sie von Männern ausgeübt wird in Funktionen, in Familien. In vielen Ländern landen Betroffene am Pranger, wenn ihre Namen, mit persönlichen Informationen in den Medien kommt. Das ist ein unglaublicher Druck.

«Man muss nicht an den Rand des emotionalen Zusammenbruchs, um eine eindringliche Geschichte zu erzählen.»

MEDIENWOCHE:

Die Nennung der Adresse beispielsweise wäre in der Schweiz oder in Deutschland ohnehin widerrechtlich. Über diese offensichtlichen Widerhandlungen hinaus: Wie weit geht Ihrer Meinung nach die Verantwortung von Journalist:innen, dass sie jemanden nicht retraumatisieren?

Matthias Katsch:

Alle Betroffenen wissen instinktiv: Wenn ich über meine Geschichte spreche, öffentlich spreche, hat das eine Auswirkung. Dafür will ich nicht den grossen Begriff der Retraumatisierung heranziehen, aber nachdem man das gemacht hat, hat man natürlich ein paar Tage schlechte Laune, fühlt sich unwohl oder ist in Aufregung. Es fühlt sich generell nicht gut an, es ist wie in einer offenen Wunde rumzurühren. Wenn ich mich aber als Betroffener zum Reden entscheide – zum Beispiel, weil ich einen politischen Kampf führe, Gerechtigkeit einfordere oder etwas ändern will in der Prävention –, sollten Journalistinnen, Journalisten das auch ernst nehmen. Und nicht in falscher Rücksichtnahme zurückweichen. Was ich allerdings absurd finde, ab und zu passiert das leider, ist, wenn bei solchen Berichten gezielt versucht wird, die emotionale Ergriffenheit der Betroffenen herauszufordern und Tränen zu provozieren.

MEDIENWOCHE:

Also durch die Art wie Fragen gestellt werden?

Matthias Katsch:

Das passiert. Der Hintergedanke ist mir klar: Tränen machen einen Bericht eindrücklich. Das ist sehr unfair den Betroffenen gegenüber, weil denen zu Gesprächsbeginn oft gar nicht klar ist, wo sie jetzt gleich hingeführt werden. Es ist auch den Zuseherinnen und Zusehern gegenüber unfair: Ich möchte nicht im Fernsehen auf so brutale Weise auf menschliches Leid hingewiesen werden. Und es ist auch dem Anliegen gegenüber unfair. Bei vielen Zuseherinnen und Zusehern verursacht das Fremdscham, man möchte das Elend in dieser Brutalität nicht sehen. Man sollte darauf verzichten, Menschen in ihrem Leid in dieser Weise vorzuführen – so wie man keine toten Körper im Fernsehen zeigt oder keine Szenen, die bestimmte Brutalaspekte haben. Wenn sich alle mit Grausen vom Thema abwenden und sagen, das ist ja so fürchterlich und das geht mir zu nah, das ist mir zu persönlich, erreicht die Berichterstattung nichts. Hier ist weniger mehr – es kommt auch seltener vor. Man muss nicht an den Rand des emotionalen Zusammenbruchs, um eine eindringliche Geschichte zu erzählen.

MEDIENWOCHE:

Haben Sie auch selbst erlebt, dass Journalist:innen so vorgehen?

Matthias Katsch:

Ja. Da führt jemand ein halbstündiges Gespräch mit dir vor der Kamera und am Ende werden für den Bericht die 30 Sekunden gebraucht, wo der Betroffenen in Tränen ausbricht. Das finde ich schäbig. Solche Gefühlsausbrüche braucht es nicht, um das Ausmass der Taten zu vermitteln. Natürlich müssen Dinge klar benannt werden und natürlich gehört auch ein gewisses schauriges Moment zu solchen Verbrechensdarstellungen mit dazu, sonst transportiert sich die Dringlichkeit nicht. Aber da ist eine Grenze. Den meisten Journalistinnen, Journalisten, die sie überschreiten, ist auch bewusst, dass da eine Grenze ist, die sie gerade reissen.

MEDIENWOCHE:

Sprechen Sie nun von Boulevard-Journalist:innen?

Matthias Katsch:

Ich hab das bei privaten Sendern erlebt; ich habe das bei öffentlich-rechtlichen erlebt. Ein Grund ist wohl, dass es 2010/2011 sehr viele Berichte gab und viele Journalist:innen, die dranblieben, sagten mir in den Jahren danach, es sei schwer, für das Thema Missbrauch noch Platz zu bekommen. Dann besteht die Gefahr, dass man sich den Chefredaktionen so anpreist, dass man noch was Schlimmeres hat und es eskalieren lässt, um noch wahrgenommen zu werden.

«Das gehört auch zur öffentlichen Funktion von Medien, dass sie Ungerechtigkeiten aufdecken, beim Namen nennen und den Opfern auch Genugtuung verschaffen.»

MEDIENWOCHE:

Gibt es aus Ihrer Perspektive auch guten Boulevard-Journalismus über sexuelle Gewalt?

Matthias Katsch:

Es ist ambivalent, denn Aufregung gehört halt auch mit dazu, damit das, was wir erzählen, Wirkung hat. Ich erinnere mich an eine Berliner Boulevardzeitung, die über die Haupttäter am Canisius-Kolleg berichtete. Da waren die Serientäter verpixelt auf der Titelseite und darüber die Schlagzeile: «Pater der Schande». Es war keine Zeitung, die ich mir üblicherweise kaufe, aber das fand ich gerecht. Das gehört auch zur öffentlichen Funktion von Medien, dass sie Ungerechtigkeiten aufdecken, beim Namen nennen und den Opfern auch Genugtuung verschaffen.

MEDIENWOCHE:

Also ist es Ihrer Meinung nach wichtig, dass der Boulevard gegen oben, respektive die Täter tritt?

Matthias Katsch:

Genau. Zu häufig sieht man, dass die Opfer in den Fokus der Skandalisierung genommen werden. Typisches Beispiel «So schlimm geht es den Opfern heute». Auf sowas würde ich gerne verzichten, aber Bilder von Herrn Weinstein in Handschellen haben sicher eine genugtuende Wirkung auf seine zahlreichen Opfer. Generell würde ich sagen: Alle Journalist:innen, die sich vertieft mit dem Themenfeld beschäftigt haben, sind in meiner Erfahrung sehr verantwortungsbewusst. Ich fürchte mich mehr vor jenen Anfragen, wo ich bereits aus der ersten Mail merke: Oje, da hat jemand überhaupt kein Hintergrundwissen zum Themenfeld und muss jetzt da irgendwas abliefern. Dann reproduzieren die Berichte häufig die Klischees, die diese Personen im Kopf haben und orientieren sich daran. Deshalb würde ich mir für die journalistische Ausbildung und in internen Qualitätsdiskussionen wünschen, dass auch die Vorstellungen von Betroffenen berücksichtigt werden – bei der Art der Berichterstattung. Der Betroffenenrat, den es in Deutschland gibt, hat angeboten, auch in Redaktionen zu gehen, dort über Bilder zu sprechen oder über Begriffe.

MEDIENWOCHE:

Finden Sie den Begriff «Betroffene» immer ideal – oder würden sie beispielsweise «Überlebende» vorziehen?

Matthias Katsch:

«Betroffener» ist ein nüchternes Wort, das eine Realität beschreibt. Es gibt Situationen, in denen ich selbst bewusst von Opfern spreche – weil hinter diesem neutralen, nüchternen Begriff «Betroffener» manchmal wiederum untergeht, dass man mal Opfer gewesen ist. Ab und an muss ich das auch klar machen. Der Begriff «Überlebender» ist im deutschen Sprachraum doch sehr mit den Opfern des Holocaust und der nationalsozialistischen Diktatur verbunden. Über das Englische habe ich ihn dann wieder gelernt zu akzeptieren. Nicht wenige, die mal Opfer waren, sind später auf die eine oder andere Weise wieder aus dem Leben geschieden: Viele sind an Suchterkrankungen zu Grunde gegangen oder an Krankheiten gestorben. Es gibt Untersuchungen, die belegen, dass Menschen mit traumatischen Kindheitserfahrungen ein höheres Risiko für Herzkreislauferkrankungen, für Diabetes, für alle möglichen anderen lebensverkürzenden Erkrankungen mit sich bringen und deshalb eine kürzere Lebenserwartung haben. Deshalb ist der Begriff «Überlebende» nicht verkehrt. Aber ich versuche Sprache situativ zu gebrauchen und der Begriff der Betroffenen ist die neutralste Formulierung. Im Englischen oder im Spanischen findet man oft die Kombination «victim survivor» beziehungsweise «victima sobreviviente». Der Betroffenenbegriff ist sehr nüchtern, sehr deutsch. Er lässt sich auch in anderen Sprachen nicht nachbilden.

MEDIENWOCHE:

Die Betroffenen sind ja auch Publikum und Leser:innen. Es gibt zunehmend Triggerwarnungen vor Berichten zu Themen wie sexueller Gewalt. Welchen Wert haben solche Warnungen und Einblendungen?

Matthias Katsch:

Ich finde das gut. Wenn es journalistisch geboten ist, etwas drastisch darzustellen, ist eine Triggerwarnung nützlich. Gerade für Betroffene, die nicht damit rechnen, damit konfrontiert zu werden. Mir hat mal eine Betroffene erzählt, wie sie auf der Autobahn fuhr und im Radio ein Interview hörte – mit einem Schlag war die Missbrauchserfahrung präsent vor ihr. Sie musste auf halber Strecke anhalten, weil sie so überwältigt von ihrer Erinnerung war. Der Auslöser war keine besonders drastische Gewaltdarstellungen – sowas wird man also nie ganz verhindern können. Aber trotzdem sind solche Triggerwarnungen vernünftig – auch für Zuseherinnen und Zuseher, die nicht unmittelbar selbst betroffen sind, aber trotzdem entscheiden wollen, was sie sich jetzt zumuten. Fast noch wichtiger aber finde ich den Hinweis, wo man sich Beratung und Hilfe suchen kann. Ich würde mir das als Service standardmässig wünschen.