von Marko Ković

Journalismus muss nicht neutral sein – aber fair

Neutralität, Objektivität, Unparteilichkeit und Ausgewogenheit sind wichtige journalistische Ideale, die in der journalistischen Praxis aber kaum umsetzbar sind – und sogar schaden können. Als praxistaugliche Leitplanken eignen sich Werte wie Fairness, Aufrichtigkeit und Stringenz besser.

Journalist*innen seien «Schiedsrichter der öffentlichen Debatte»; werden sie parteiisch, leide ihre Autorität, kritisiert der Journalist Jochen Bittner in einem Plädoyer gegen «Haltungsjournalismus» in der «Zeit». Der Journalist Florian Gathmann fordert im «Spiegel» im Zuge der Berichterstattung über Black-Lives-Matter-Proteste, dass Journalist*innen trotz allem so neutral wie möglich seien. Der Journalist Claus Richter spricht sich im Magazin «Cicero» mit klaren Worten für Neutralität im Journalismus aus: Wer predigen wolle, solle in die Kirche gehen. Und der Journalist Birk Meinhardt warnt in seinem Buch «Wie ich meine Zeitung verlor», dass es Medien immer stärker darum gehe, einer Haltung und nicht mehr der Wirklichkeit Ausdruck zu verleihen.

Journalistische Neutralität ist ein Kernpfeiler des journalistischen Selbstverständnisses, und die Erosion von Neutralität wird als grosse Gefahr beklagt. Der Glaube an journalistische Neutralität ist ein Vertrauen in «Fakten», ein Misstrauen gegenüber «Werten», und eine Überzeugung, beide klar voneinander trennen zu müssen. Mit dieser prägnanten Formel beschrieb der Medienwissenschaftler Michael Schudson in seinem Klassiker «Discovering the News» von 1978 treffend, was das Ideal von journalistischer Objektivität und Neutralität im Kern ausmacht: Die strikte Trennung von Fakten auf der einen, sowie Werten und Meinungen auf der anderen Seite. Journalismus kümmert sich um die Fakten.

Die Vorstellung, dass Journalismus neutral zu sein hat, verfestigte sich erst in der jüngeren Vergangenheit.

Die kategorische Trennung zwischen dem, was objektiv ist und dem, was subjektiv sein soll, ist eine zentrale Norm des professionellen Journalismus. Das zeigt sich etwa deutlich daran, dass sie in zahlreichen Leit- und Richtlinien festgeschrieben steht.

So halten die publizistischen Leitlinien von Schweizer Radio und Fernsehens SRF beispielsweise fest: «Wir machen uns deshalb mit keiner Sache gemein, auch nicht mit einer guten.» Der deutsche Rundfunkstaatsvertrag fordert von den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten die «Grundsätze der Objektivität und Unparteilichkeit […], die Meinungsvielfalt sowie die Ausgewogenheit ihrer Angebote» zu berücksichtigen. Das österreichische Bundesverfassungsgesetz über die Sicherung der Unabhängigkeit des Rundfunks hält «die Objektivität und Unparteilichkeit der Berichterstattung, die Berücksichtigung der Meinungsvielfalt, die Ausgewogenheit der Programme» als journalistische Normen fest.

Die Vorstellung, dass Journalismus neutral zu sein hat, verfestigte sich erst in der jüngeren Vergangenheit. In der Frühphase des Journalismus im 18. und 19. Jahrhundert waren Zeitungen zumeist entweder direkte Parteiorgane oder zumindest stark politisch gefärbt und meinungsbetont. Erst im 20. Jahrhundert fand eine Professionalisierung des Journalismus hin zu mehr Neutralität statt. Zwei Faktoren waren für diese Entwicklung ausschlaggebend. Zum einen haben westliche Mediensysteme im 20. Jahrhundert eine Kommerzialisierung durchgemacht, die der Medienwissenschaftler Kurt Imhof als «neuen Strukturwandels der Öffentlichkeit» beschreibt: Die ehemals stark ideologisch ausgerichtete Parteipresse wandelte sich zu profitorientierten Medien, die sich stärker der weltanschaulichen Neutralität verpflichteten. Die Zeitungen taten das, um ein breiteres Publikum anzusprechen – je grösser das Publikum, desto grösser die Abonnements- und Werbeerlöse.

Das hehre Ideal der journalistischen Neutralität stösst aber schnell an Grenzen.

Ein zweiter Treiber von Neutralität als journalistische Norm waren die negativen Erfahrungen mit massenmedial vermittelter Propaganda während des Ersten und Zweiten Weltkriegs. Besonders öffentliche Rundfunkanstalten institutionalisierten in der Nachkriegszeit Neutralitäts-Normen als eine Art vorbeugendes Korrektiv gegen Propaganda sowohl von aussen wie auch von innen.

Neutralität und davon abgeleitet Ausgewogenheit, Unparteilichkeit und Objektivität als fundamentale journalistische Normen sind an sich durchaus erstrebenswerte Ziele. So legen wir in Demokratien Wert darauf, möglichst alle Stimmen im gesellschaftlichen Diskurs angemessen zu Wort kommen zu lassen. Ein Bekenntnis zu Ausgewogenheit und Unparteilichkeit kann dieser demokratischen Meinungsvielfalt zuträglich sein. Darüber hinaus sind Medien nach wie vor ein für die Gesellschaft bedeutendes Fenster in die Welt. Im Sinne der demokratischen Meinungsbildung ist es entsprechend wichtig, dass wir über Medien erfahren, wie die Welt aussieht, und nicht bloss, wie sie gemäss Journalist*innen aussehen sollte.

Das hehre Ideal der journalistischen Neutralität stösst aber schnell an Grenzen.

Erstens beisst sich ein striktes Verständnis von Neutralität mit der journalistischen Kritik- und Kontrollfunktion. Wenn Medien nur neutral sind und bereits vorhandene Informationen abbilden, können sie nicht eigenständig kritisch recherchieren, Missstände aufdecken und die Erkenntnisse in die öffentliche Debatte einspeisen. Das würde in der Konsequenz bedeuten, dass beispielsweise Investigativjournalismus nicht mehr betrieben werden darf, weil die Triebfeder hinter jeder investigativen Recherche eine normativ-wertende Haltung ist.

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Zweitens kann eine falsche Auslegung von Neutralität die Berichterstattung in Tat und Wahrheit verzerren anstatt sie ausgewogener zu machen. Im Extremfall führt dies zu einer falschen Ausgewogenheit («False Balance»). Die ist gegeben, wenn beispielsweise zu einer wissenschaftlichen Sachfrage «beide Positionen» mit gleichem Gewicht zu Wort kommen, obwohl die wissenschaftliche Datenlage klar in eine Richtung zeigt. Typische Beispiele für falsche Ausgewogenheit in der medialen Berichterstattung waren und sind Themen wie menschengemachter Klimawandel, die Gefahren von Zigarettenrauchen oder die Wirksamkeit pharmazeutischer und nicht-pharmazeutischer Massnahmen gegen Covid-19. Als Folge falscher Ausgewogenheit entsteht beim Publikum mehr Zweifel und Ungewissheit, als sie angesichts der wissenschaftlichen Datenlage tatsächlich existiert.

Drittens laufen auf Neutralität pochende Medien Gefahr, indirekt den bestehenden gesellschaftlichen Machtstrukturen zuzudienen. Diese Status-Quo-stützende Funktion kann beispielsweise die Form des «Indexing» annehmen, wie der Politikwissenschaftler Lance Bennett beschreibt. Indexing bedeutet, dass sich Medienhäuser bei der Auswahl von Themen und bei der Art und Weise, wie sie über Themen berichten, stark an politischen und wirtschaftlichen Eliten orientieren. Salopp formuliert: Neutraler Journalismus hängt den Mächtigen an den Lippen und kritisiert ihre Ansichten nicht, sondern nimmt sie als Bausteine für die eigene Berichterstattung. Diese Reproduktion von Machtstrukturen kritisieren auch der Ökonom Edward Herman und der Linguist Noam Chomsky in ihrem Klassiker «Manufacturing Consent». Die Kritik des «hergestellten Konsenses» besagt, dass grosse, vermeintlich neutrale Massenmedien in Tat und Wahrheit eine ganz und gar nicht neutrale systemstützende Funktion haben, weil sie sich an Elitemeinungen und an kommerziellen Logiken orientieren.

Die gesellschaftliche Debatte, die der Journalismus eigentlich anregen sollte, verkommt zur ideologischen Einbahnstrasse.

Wir sehen: Journalistische Neutralität hält nicht, was sie auf den ersten Blick verspricht. Doch was ist die Alternative? Sollen sich Journalist*innen ungebremst in den ideologischen Grabenkampf begeben? Nein. Ein Journalismus ganz ohne Leitplanken riskiert, in blosse Meinung, Polemik oder sogar Propaganda abzurutschen. Was dabei herauskommt, lässt sich gut am Beispiel «alternativer» Medien beobachten, die im Zuge der Coronavirus-Pandemie einen Aufschwung erlebt haben: Wenn die blosse Meinung im Vordergrund steht, werden Fakten und Meinungen, die nicht ins eigene Weltbild passen, nicht nur ignoriert, sondern regelrecht verdreht. Die gesellschaftliche Debatte, die der Journalismus eigentlich anregen sollte, verkommt zur ideologischen Einbahnstrasse.

Ein Weg, wie Journalismus auch ohne unrealistische Neutralitäts-Normen einen gesellschaftlichen Mehrwert haben kann, ist das Einhalten wohlüberlegter «handwerklicher» Regeln. Ein solches Regelwerk für die Schweiz ist der vom Schweizer Presserat formulierte «Journalistenkodex». Die darin festgehaltenen Richtlinien pochen nicht auf weltanschauliche Neutralität, sondern bilden eine ganz konkrete und praktische Anleitung dafür, was journalistische Arbeit von sonstigen Formen der Teilnahme am öffentlichen Diskurs abgrenzt.

Auf einer übergeordneten Ebene, und gewissermassen als Kondensat des Journalistenkodex, gibt es drei Werte, die Neutralität als zentralen journalistischen Ankerpunkt ersetzen können: Fairness, Aufrichtigkeit und Stringenz.

Fairness: Journalismus ist dann fair, wenn er in weltanschaulicher Hinsicht transparent ist, den Empfänger*innen von Kritik mit Wohlwollen begegnet (also nicht vorschnell schlechte, sondern möglichst positive Absichten unterstellt), und selber kritisierbar bleibt.

Aufrichtigkeit: Aufrichtig ist Journalismus dann, wenn die zugrundeliegende Weltanschauung ehrlich gehegt und konsequent angewendet wird. Das bedeutet, dass unterschiedliche Probleme auch dann mit denselben ethischen Massstäben beurteilt werden, wenn das eigene weltanschauliche Lager Gegenstand der Kritik ist.

Stringenz: Weltanschauliche Positionen im Journalismus sind dann stringent, wenn sie klar und schlüssig hergeleitet und begründet werden. Das unterscheidet sie von blossen subjektiven Meinungen, die beliebig, polemisch und widersprüchlich sein können.

Wie sieht Journalismus aus, der sich der Fairness, Aufrichtigkeit und Stringenz verschreibt? Zwei anschauliche Beispiele sind die Reportageformate «STRG_F» und «Y-Kollektiv». In beiden Formaten werden vertiefte Reportagen und journalistische Investigationen durchgeführt, die zwar einen weltanschaulichen Impetus haben, der aber nicht unreflektiert oder salopp ist. Die Journalist*innen legen die weltanschaulichen Karten offen, begründen ihre normativen Überlegungen und fordern auch aktiv zu einer kritischen Reflexion ihrer Arbeit auf, zum Beispiel in Form von Diskussionen mit dem Publikum in den Kommentaren auf «Youtube». Das Ergebnis ist kritischer, fundierter und – in Zeiten sinkenden Vertrauens in die Medien ein wichtiger Mehrwert – authentischer Journalismus.

Das Ziel einer Debatte darüber, wie Journalismus jenseits unrealistischer und teilweise gefährlicher Neutralitäts-Anmassungen funktionieren kann, ist letztlich, den Umgang mit Weltanschauungen im Journalismus in gelenkte Bahnen zu leiten. Denn Journalismus ohne Weltanschauung gibt es nicht – erst dadurch, dass wir uns weiterhin das Gegenteil einreden, öffnen wir der weltanschaulichen Willkür Tür und Tor.

Leserbeiträge

Lahor Jakrlin 14. Oktober 2021, 17:23

Ich habe selten so viel Text gelesen, der mit wenigen Buchstaben zusammengefasst werden kann: Plädoyer für «pädagogischen Haltungsjournalismus».
Ković vergisst geflissentlich zu erwähnen, dass guter Journalismus neutral sein MUSS. Es ist zu schreiben, was ist (nennt sich  r-e-p-o-r-t-i-e-r-e-n), nicht was möglicherweise sein könnte, die Meinung haben sich die Lesenden selbst zu bilden. Sobald Journalist/innen grosse Sympathie oder Verachtung zu einer Sache oder einer Person spüren lassen, haben sie versagt und werden zu reinen Propagandisten oder PR-Textern, egal um was es geht.
Klar, dieses Kriterium der Qualität geht im selbstverliebten Sendungsbewusstsein verhinderter Lehrer/innen unter, wie täglich bei SRF oder im Print z.B. bei watson.ch zu beobachten.
Mit der Konsequenz, dass man den Medien immer weniger glaubt.

René Rhinow 16. Oktober 2021, 17:39

Die Printmedien unterliegen keinem Gebot der Neutralität. Ausgewogenheit wird in den öffentlich-rechtlichen Medien verlangt. Wichtig sind die Trennung von Berichterstattung und Kommentar. Erstere muss sachgerecht sein, letzterer ist weitgehend frei. Die Medien müssen aber die Vielfalt der Meinungen zum Ausdruck bringen. Die Gewichtung steht ihnen offen. Wichtig und richtig ist dasebot der Fairness, auch hier.

Matthias Koeffler 17. Oktober 2021, 18:21

Die Frage nach Neutralität und Haltung bzw. eigener Meinung im Journalismus verhält sich nach meiner Ansicht nicht als Gegensatz, sondern wie ein Zirkel, ähnlich dem hermeneutischen. Beides gibt es nicht ohne das andere. Ohne Haltung kann ich nicht neutral sein, weil ich gar nicht wüsste, was „neutral“ sein könnte, und ohne Neutralität kann ich keine gut begründete Haltung entwickeln. Es geht also stehts darum, um beides zu ringen. Und da finde ich diese Forderung nach Fairness, Aufrichtigkeit und Stringenz  sehr passend, nur so kann man sich innerhalb dieses Zirkels bewegen.