von Marko Ković

Geflüchtete als «Gefahr»: Wenn Medien eine anonyme Masse statt Menschen zeigen

Die aktuelle «Flüchtlingskrise» an der polnisch-belarussischen Grenze zeigt, wie die mediale Berichterstattung zu Flucht und Migration die Geflüchteten entmenschlicht. Das geschieht auch deshalb, weil kaum jemand von vor Ort berichtet und Redaktionen auf Propaganda der Behörden zurückgreifen.

Spätestens seit der europäischen «Flüchtlingskrise» von 2015/2016 sind Migration und flüchtende Menschen ein Dauerbrenner auf der politischen und der medialen Agenda. Aus gutem Grund: Asyl- und Migrationspolitik sind wichtige Teile der nationalen und europäischen Politik, und ihre Bedeutung nimmt angesichts weltweit steigender Migrationsbewegungen zu.

Entsprechend intensiv berichten die Medien auch über die jüngste «Flüchtlingskrise» an der polnisch-belarussischen Grenze. Diktator Alexander Lukaschenko holt seit Monaten Menschen aus dem Irak und Afghanistan, die sich in Europa ein besseres Leben erhoffen, nach Belarus, um sie als politisches Druckmittel an der EU-Aussengrenze auszusetzen. Die Tausenden von Lukaschenkos Machtspiel betroffenen Menschen, die sich in Europa ein besseres Leben erhoffen, werden mit diesem zynischen politischen Manöver zwischen den harten Fronten der EU und Weissrusslands zerrieben.

Die Berichterstattung zu dieser «Flüchtlingskrise» benennt die politische Instrumentalisierung notleidender Menschen zwar immer wieder korrekt als solche. Gleichzeitig instrumentalisieren die Medien Geflüchtete.

Gewisse Stereotypen über «Flüchtlingskrisen», die sich auch jetzt in der Berichterstattung finden, führen dazu, dass die geflüchteten Menschen in einem entmenschlichenden Licht dargestellt werden. Wenn etwa die Rede von «Gefahr», von «Ansturm», von «durchbrechen» ist, und wenn auf Bildern nur unpersönliche Menschenmassen zu sehen sind, dann entsteht unweigerlich ein stark negativer Eindruck, bei dem die individuellen menschlichen Schicksale keine Rolle spielen.

Eine subtile moralische Herabstufung der Menschen kann durch bestimmte Formen der Berichterstattung befördert werden, und zwar mit Text und Bild.

Zwar behauptet in den Medien niemand explizit, Migrant*innen und Geflüchtete seien minderwertige Menschen – die allermeisten Journalist*innen glauben das natürlich auch nicht. Aber eine Entmenschlichung des Fremden, das nicht zu unserer gewohnten Gruppe des Bekannten und Vertrauten gehört, ist ganz allgemein ein subtiler psychologischer Prozess, der sich unter anderem durch mangelnde Empathie und mangelnde Zuschreibung positiver menschlicher Qualitäten auszeichnet. Diese subtile moralische Herabstufung kann durch bestimmte Formen der Berichterstattung befördert werden, und zwar mit Text und Bild.

Auf der Ebene des Textes haben Untersuchungen gezeigt, dass Begriffe und Beschreibungen wie «Krise», «Welle», «Ansturm» und dergleichen Entmenschlichung fördern, indem sie Migrant*innen und Geflüchtete als bedrohliche, unberechenbare Masse darstellen. Mit einer solchen Darstellung geht beim Publikum das Gefühl für die individuellen Menschen verloren, aus denen die anonyme Masse eigentlich besteht. Dadurch wird es schwieriger, die Motive und Beweggründe der Migrant*innen und Geflüchteten sachlich einzuschätzen, weil Empathie erschwert und Angst und Unbehagen gegenüber dieser anonymen Masse gefördert werden.

Die Artikel erwecken den Eindruck, dass ein grosser, tobender Mob kurz davor war, die Grenze mit Gewalt zu stürmen.

Solche Begrifflichkeiten findet man auch in der aktuellen Berichterstattung immer wieder. So hielt eine Meldung der Nachrichtenagentur Keystone-SDA vom 11. November 2021, die unter anderem vom Nachrichtenportal «Nau.ch» und von «Blick» aufgegriffen wurde, alarmistisch fest: «Grössere Migrantengruppe wollte nachts Grenze durchbrechen». Noch einen Tick dramatischer formulierte es die Nachrichtenagentur dpa am 10. November in einer Meldung, die etwa die «Aargauer Zeitung» übernahm: «Migranten durchbrechen Grenze von Belarus nach Polen». Der «Tages-Anzeiger» berichtete am 8. November im Artikel «Migranten versuchen, Grenze zu Polen zu durchbrechen», dass «Tausende Menschen» offenbar «zum gewaltsamen Grenzübertritt ermuntert» worden seien.

Diese Beschreibungen erwecken unweigerlich den Eindruck, dass ein grosser, tobender Mob kurz davor war, die Grenze mit Gewalt zu stürmen. Der tatsächliche Sachverhalt war weniger dramatisch, als die Schlagzeilen suggerieren: Von den Hunderten Menschen an der Grenze schlugen einige Personen mit einer Schaufel und Hammer auf den Grenzzaun ein, und einige probierten erfolglos, den Zaun mit einem Kabelschneider zu durchschneiden. Die Ereignisse hätten entsprechend neutraler und weniger entmenschlichend mit Beschreibungen wie «Migranten versuchen die Grenze zu überqueren» anstatt «Migranten durchbrechen Grenze» beschrieben werden können.

Mit ihrer Wortwahl blendet die NZZ die menschlichen Schicksale komplett aus und stellt Migration und Flucht nur noch als Kriegshandlung dar.

Die Deutung von Migrant*innen und Geflüchteten als bedrohlichen «Ansturm» und sogar «Angriff» findet sich auch bei der «Neuen Zürcher Zeitung». In einem Artikel vom 8. November wird im Titel dramatisch festgehalten: «Migranten versuchen den Stacheldrahtzaun zu stürmen». Der Journalist, der aus der Ferne berichtet, übernahm damit eine entmenschlichende Dramaturgie.

Ein NZZ-Artikel vom 10. November zitiert den polnischen Regierungschef Mateusz Morawiecki bereits im Titel mit O-Ton und ohne weitere kritische Einordnung: «Gefahr für die gesamte EU». Und gleichentags beschreibt die NZZ die Entwicklung in einem Kommentar als «hybride Kriegsführung», mit einer klaren Aufforderung an Migrant*innen und Geflüchtete: «Bleibt zu Hause!». Mit dieser Wortwahl blendet die NZZ die menschlichen Schicksale komplett aus und stellt Migration und Flucht nur noch als Kriegshandlung dar.

Bei entmenschlichender Berichterstattung ist die Auswahl und Gestaltung der Bilder, mit denen der eigentliche journalistische Text begleitet wird, von grosser Bedeutung.

Im gleichen NZZ-Kommentar finden sich auch zwei weitere wichtige Deutungsmuster: Die angeblich hohen ökonomischen Kosten der Einwanderung («Ein funktionierender nationaler Sozialstaat und unkontrollierte Einwanderung schliessen sich jedoch aus») sowie das angeblich hohe Sicherheitsrisiko, das Geflüchtete und Migrant*innen darstellten («Hinsichtlich der Integration von 1,4 Millionen Neuankömmlingen in Deutschland seit 2015 wurde vieles gerade nicht geschafft. Das zeigen unter anderem die Kriminalitätszahlen und der Anstieg des islamistischen Gefahrenpotenzials.»). Die Ökonomisierung der Geflüchteten und das angebliche Sicherheitsrisiko sind beides entmenschlichende Deutungsmuster, die mittlerweile zum etablierten journalistischen Repertoire gehören. Der Entmenschlichung wäre hier ganz einfach mit einem breiteren analytischen Blick zu vermeiden. In ökonomischer Hinsicht wäre beispielsweise zu reflektieren, ob Migrant*innen und Geflüchtete als Arbeitskräfte nicht auch zum Sozialstaat beitragen können. Bei der Sicherheitsfrage würde ein konkreter Blick in Kriminalitätsstatistiken ein nützliches Gegengewicht zur rhetorischen Karikatur explodierender Kriminalität bilden.

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Bei entmenschlichender Berichterstattung ist die Auswahl und Gestaltung der Bilder, mit denen der eigentliche journalistische Text begleitet wird, von grosser Bedeutung. «Flüchtlingskrisen» als dramatische Ereignisse bergen immer das Potenzial für bildgewaltige Darstellungen, und diese Bilder prägen massgeblich, wie eine Gesellschaft über Migrant*innen und Geflüchtete nachdenkt. In der aktuellen Berichterstattung sieht man eine Bildsprache, die sich als Routine etabliert hat. Geflüchtete und Migrant*innen werden meistens in Gruppen oder als grosse Masse dargestellt, die draussen im Freien unter teils unhygienischen oder sonstwie leicht ekelerregenden Zuständen weilt. Portraits und Einzelaufnahmen, auf denen einzelne Gesichter und Gesichtsausdrücke klar erkennbar sind, kommen seltener vor. Diese Form der visuellen Darstellung einer distanzierten, unpersönlichen, anonymen Masse hat einen stark entmenschlichenden Effekt. Eine Horde wütender, unreflektierter Quasi-Zombies, die egoistisch ihren destruktiven Weg gehen. Wenn in der Bildsprache zusätzlich auch einzelne Individuen mit klar erkennbaren Gesichtszügen und mit Nahaufnahmen vorkommen, ist der Eindruck der bedrohlichen Masse nicht mehr dominant.

Die Berichterstattung zur Lage an der polnisch-belarussischen Grenze kommt auch deshalb so daher, weil sich aktuell vor Ort (und generell in Belarus) nur sehr wenige ausländische Journalist*innen aufhalten. Die Redaktionen fernab des Geschehens stützen sich darum auf Deutungen, Foto- und Videoaufnahmen von Behörden, die diese auch über Social-Media-Plattformen teilen. Das birgt die zusätzliche Gefahr, gezielt entmenschlichend inszeniertes Material zu übernehmen und zu vervielfältigen. Ein Beispiel hierfür sind Videoaufnahmen, die zeigen, wie Geflüchtete an einem Grenzzaun rütteln und ihn mit Schaufeln und Kabelschneidern zu beschädigen versuchen. Die Aufnahmen stammen vom polnischen Verteidigungsministerium und wurden über Social Media verbreitet. Unter anderem der «Tages-Anzeiger» hat die Aufnahmen ohne kritische Einordnung direkt ab der Social-Media-Plattform Twitter übernommen.

Es geht auch anders: Aus der bedrohlichen Masse werden wieder Menschen, deren Beweggründe, Erlebnisse und Sorgen für das Publikum sichtbar werden.

Entmenschlichende Routinen in der journalistischen Berichterstattungspraxis zu Migrant*innen und Geflüchteten sind weit verbreitet. Es gibt aber auch aktuelle Beispiele, die zeigen, dass und wie es möglich ist, diese problematischen Routinen zu durchbrechen. Der «SRF»-Russlandkorrespondentin Luzia Tschirky etwa gelingt es, mit unabhängiger Recherche in Belarus, sowohl Hintergründe der aktuellen Situation aufzuzeigen als auch den Geflüchteten und Migrant*innen ein Gesicht und eine Stimme zu geben. Aus der bedrohlichen Masse werden damit wieder Menschen, deren Beweggründe, Erlebnisse und Sorgen für das Publikum sichtbar werden. Tschirky behält dabei eine kritische journalistische Distanz, aber sie verzichtet auf simple Deutungsmuster, die in eine Entmenschlichung zu münden riskierten. Das gelingt der SRF-Korrespondentin auch deshalb, weil sie das tut, was Journalist*innen gemäss ihrem Berufsethos tun sollten: genau hinschauen, kritisch recherchieren und unabhängig berichten.

Bild: Sammy-Sander auf Pixabay

Leserbeiträge

Roland Grüter 17. November 2021, 16:45

Das ist ein in letzter Konsequenz und hart festgehalten ein Lobbyisten-Artikel z.B. der Flüchtlingshilfe.. Es müssten also, wie schon gehabt, nur Frauen und Kinder in Bildern festgehalten werden. Randalierer sind auszuschliessen. Da ist und wäre wohl kaum eine seriöse Berichterstattung. Uebrigens ist oder war der Schreiber an der polnischen Grenze?