von Marko Ković

Darum sind «Mainstream»-Medien besser als ihr Ruf

Journalistische «Mainstream»-Medien werden, teils zurecht, heftig kritisiert. Doch professionelle Medienorganisationen erbringen wertvolle Leistungen, ohne die eine Demokratie nicht überleben kann. Ein Blick auf die positiven Seiten des «Mainstream», mit Verbesserungsvorschlägen für das neue Jahr.

FDP-Nationalrat Christian Wasserfallen beklagt, dass es heute in den Medien «viel Mainstream» gebe und dass «kritische Stimmen immer rarer» geworden seien. SVP-Nationalrat Thomas Matter warnt, dass «Mainstreammedien» immer linker würden, je mehr finanzielle Förderung sie erhielten. SVP-Nationalrat und «Weltwoche»-Chefredaktor Roger Köppel will mit der «Weltwoche» «Fluchtwege aus dem Mainstream» bieten. Und im Internet hat sich ein Ökosystem an «alternativen» Medien und Persönlichkeiten etabliert, deren erklärtes Ziel es ist, ein Gegenpol zum angeblich linken «Mainstream» zu bilden.

Egal, ob auf Social Media, seitens Politiker*innen und politischen Parteien oder beim Bier am Stammtisch: Seit Jahren hagelt es von allen Seiten Kritik an den sogenannten «Mainstream»-Medien. Mit professionellen Massenmedien, so der generelle Vorwurf, stimme etwas nicht. Der «Mainstream» berichte zu einseitig, zu oberflächlich, zu verzerrt, oder sei gar von dunklen Mächten im Hintergrund kontrolliert und konzertiert. Kritik am «Mainstream» ist, nicht zuletzt im Zuge der Corona-Pandemie, zum Volkssport geworden. Doch was ist der «Mainstream» eigentlich?

Noam Chomsky definiert «Mainstream»-Medien als Organisationen, die gross und bedeutend genug sind, um die Agenda der politischen Debatte massgeblich zu beeinflussen.

Die Karriere dieses Begriffes nahm in den 1980er Jahren im angelsächsischen Raum Fahrt auf. Links-progressive Kritiker*innen, wie etwa der Linguist Noam Chomsky und der Ökonom Edward Herman in ihrem Klassiker «Manufacturing Consent», attestierten grossen, professionellen Massenmedien, dass sie aufgrund wirtschaftlicher und politischer Abhängigkeiten den gesellschaftlichen Status Quo stützen und damit Ungleichheiten bei Macht und Wohlstand aufrechterhalten. Chomsky definiert «Mainstream»-Medien als Organisationen, die gross und bedeutend genug sind, um die Agenda der politischen Debatte massgeblich zu beeinflussen. «Mainstream» sind demzufolge jene Medien, die bestimmen, worüber wir als Gesellschaft wie reden.

Auch das rechte politische Lager entdeckte «Mainstream» bald als potenten Kampfbegriff. Mit dem Aufkommen rechtskonservativer Radiostationen und dem Fernsehsender «Fox News» in den USA der 1990er Jahre wurde «Mainstream» zu einer diffusen, pauschalen Kritik an allen Medien, die angeblich zu «links» seien. Ab den 2000er Jahren erhielt der Begriff «Mainstream» dann zunehmend einen verschwörungstheoretischen Drall. Im Dunstkreis von Vorwürfen wie «Lügenpresse», «Systemmedien» und dergleichen hat «Mainstream» heute auch im deutschsprachigen Raum teilweise die Konnotation, dunkle Mächte im Hintergrund würden die grossen Medien gezielt steuern.

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Der Begriff der «Mainstream»-Medien ist gleichzeitig derart geläufig geworden, dass er auch ohne allzu kritische Konnotation Verwendung findet. In der aktuellen wissenschaftlichen Forschung beispielsweise finden sich Hunderte von Studien und Büchern, in denen ohne Wertung von «Mainstream-Medien» die Rede ist. Gemeint sind dann grosse, professionelle Medienorganisationen, im Kontrast zu kleinen, unabhängigen «alternativen» Medien.

«Mainstream»-Medien haben auch Eigenschaften, die für eine Demokratie unverzichtbar sind.

Kritik am journalistischen «Mainstream» kommt aus unterschiedlichen Ecken und ist Mal besser, Mal weniger gut begründet. Medien, die den gesellschaftlichen Diskurs massgeblich prägen, kritisch zu begegnen, ist wichtig. Damit die Kritik aber fair und verhältnismässig bleibt und nicht zu einem verschwörungstheoretischen Totschlagargument verkommt, ist es nötig, auch darüber zu reden, was «Mainstream»-Medien gut machen. Der «Mainstream» hat nämlich auch Eigenschaften, die für eine Demokratie unverzichtbar sind.

Fünf Argumente für den Mainstream

Journalismus ist kein geschützter oder klar umrissener Beruf. Jede Person, die mag, kann sich Journalist*in nennen. Professionelle Medienorganisationen verpflichten sich auf medienethische Mindeststandards.

In der Schweiz sind diese Spielregeln im Journalistenkodex des Schweizer Presserats verschriftlicht. Die Regeln des Journalistenkodex sind keine Gesetze, und die Sanktionen im Falle von Verstössen sind nur symbolischer Natur. Medienorganisationen und Journalist*innen orientieren sich an solchen journalistischen Standards, weil diese ihrem Selbstverständnis entsprechen; nicht, weil es ihnen eine externe Autorität vorschreibt.

Dieses professionelle Selbstverständnis ist in der Praxis unabdingbar, um eine halbwegs rationale gesellschaftliche Debatte zu ermöglichen. Viele sogenannte «alternative» Medien beanspruchen auch, Journalismus zu betreiben, aber sie tun dies ohne Beachtung journalistischer Standards: Sie unterscheiden nicht zwischen Meinung und Fakten; sie erheben schwerste Vorwürfe gegen Menschen, ohne ihnen Gelegenheit zu geben, darauf zu reagieren; sie missachten elementare Regeln der Wahrheitssuche wie das kritische Prüfen von Quellen.

«Mainstream»-Journalismus ist, wie jede menschliche Deutung der Welt, verzerrt. Ein Journalismus ganz ohne Minimalstandards bedeutet aber, die Bühne gänzlich subjektiven Verzerrungen und womöglich irrationaler Ideologie zu überlassen. Die medienethischen Regeln, nach denen der «Mainstream» spielt, halten den Einfluss des Subjektiven und des Weltanschaulichen in Schach – und machen es möglich, diesen Einfluss als solchen zu kritisieren.

Einer der Gründe, warum Wissenschaft uns als Zivilisation vorwärtsbringt, ist das sogenannte «Peer Review»-Verfahren: Wissenschaftliche Forschung wird von Wissenschaftler*innen systematisch und unablässig kritisch begutachtet, um sicherzustellen, dass Forschungsergebnisse halten, was sie versprechen.

Eine ähnliche Form der Qualitätskontrolle findet auch im «Mainstream»-Journalismus statt. Wenn eine grössere Medienorganisation zum Beispiel einen Artikel publiziert, stammt der Artikel in der Regel nicht einfach direkt und ungefiltert aus der Feder der Autorin oder des Autors. Journalistische Inhalte gehen vor der Publikation eine oder mehrere Schlaufen der redaktionellen Kontrolle und Kritik durch: Redaktor*innen begutachten den Bericht kritisch und versuchen, blinde Flecken und inhaltliche Fehler aufzudecken. Auch der vorliegende MEDIENWOCHE-Artikel wird von insgesamt drei Personen geschrieben, redigiert und korrigiert.

Diese redaktionelle Kontrolle ist enorm wichtig, um die Qualität der Berichterstattung hoch zu halten und sachliche Fehler sowie den Einfluss subjektiver Verzerrungen zu reduzieren. Das ist eine Leistung, die in «alternativen» Medien und im politischen Alltagsdiskurs oft fehlt, mit teilweise verheerenden Folgen. Ein anschauliches Beispiel hierfür ist der Journalist Glenn Greenwald. Greenwald war 2013 als investigativer Journalist bei der britischen Zeitung «The Guardian» federführend an den Enthüllungen rund um Edward Snowden und die Überwachungsprogramme der US-Behörde NSA beteiligt. 2014 gründete Greenwald die Investigativ-Plattform «The Intercept» mit. 2020 verliess Greenwald überraschend «The Intercept», weil er den Prozess der redaktionellen Kritik nicht mehr akzeptieren wollte. Seither bewegt er sich als Ein-Mann-Show auf Plattformen wie «Substack», einem Blog- und Newsletter-Dienst, und «Rumble», einer YouTube-Alternative für rechtsreaktionäre Ansichten. Ohne die Einbettung in eine Struktur der redaktionellen Kontrolle und Kritik hat sich Greenwalds ehemals weltbewegender Investigativjournalismus zu wenig mehr als oftmals faktenfreier Polemik gegen «die Linken» gewandelt.

Redaktionelle Strukturen haben noch weitere Vorteile jenseits des «Review»-Verfahrens einzelner Beiträge. Eine Redaktion übt sich beispielsweise in einem Prozess der kollektiven Themenfindung: Redaktor*innen als Gruppe können in einem kritischen Prozess abwägen, über welche Themen warum und wie berichtet werden soll. Damit können zumindest ein Stück weit individuelle subjektive Verzerrungen und blinde Flecken eliminiert werden. Redaktionen unterhalten zudem auch wiederkehrende Prozesse wie zum Beispiel die Blattkritik. Die Blattkritik ist ein Prozess zur Qualitätssicherung, bei dem zum Beispiel eine Zeitungsausgabe oder eine Reihe von Beiträgen kritisch unter die Lupe genommen wird.

Im Oktober 2021 wurden die sogenannten «Pandora Papers» publik: Ein umfassender Leak über das globale Geschäft mit Offshore-Steueroasen, an dem auch die Schweiz beteiligt ist. Die Dokumente zeigten unter anderem, wie kriminelle Betrügerbanden und Potentaten-Familien über Briefkastenfirmen mit Hilfe skrupelloser Vermögensverwalter*innen Unmengen an Geld waschen und sicher parkieren. Die Pandora Papers sind das Ergebnis jahrelanger investigativer Arbeit des «Internationalen Netzwerks investigativer Journalisten» ICIJ, eines Zusammenschlusses von über 280 Journalist*innen aus über 100 Ländern.

Die Pandora Papers zeigen auf, wie wichtig kritischer investigativer Journalismus ist, um Missstände aufzudecken und gesellschaftliche Debatten anzuregen. «Mainstream»-Medien können diese Leistung erbringen. Sie haben eher die Ressourcen, über längere Zeit intensiv zu komplexen oder sonst wie schwer zugänglichen Themen zu recherchieren. Gleichzeitig funktioniert investigativer Journalismus nur dank klaren journalistischen Standards, die die ethischen Leitplanken für die Recherche vorgeben, und er funktioniert nur eingebunden in redaktionelle Strukturen, die sicherstellen, dass die Recherche hieb- und stichfest ist. Zudem spielen auch die finanziellen Realitäten eine Rolle. In der Regel können nur grössere Medienorganisationen aufwendige Recherchen direkt (Löhne für Journalist*innen und anfallende Spesen) und indirekt (z.B. Kosten bei Rechtsstreitigkeiten) finanzieren.

«Mainstream»-Medien haftet das Image der Miefträger, altmodischer Organisationen oder gar Moloche an, die tun, was sie immer schon taten, während «alternative» Medien pfiffig und agil Neues ausprobieren und Pionierarbeit leisten.

Dieser Stereotyp beinhaltet vielleicht einen Kern Wahrheit. Grosse Organisationen sind träger und weniger wandlungsfähig als kleine Organisationen und Einzelpersonen – der grosse Ozean-Dampfer ist schwerer zu manövrieren als das wendige Schnellboot. «Mainstream»-Medien sind aber trotzdem immer wieder Horte innovativer journalistischer Formate, mit denen Inhalte auf neue Art an neue Publika herangetragen werden.

Ein Beispiel für solche Innovation ist Datenjournalismus, also die Kombination klassischer journalistischer Arbeit mit neuen Formen der Datenanalyse und Datenvisualisierung. Wie nützlich Datenjournalismus ist, hat sich nicht zuletzt in der Corona-Pandemie gezeigt, wie Simon Schmid in der «Republik» aufzeigt. Datenjournalismus kann komplexe Situationen wie die Pandemie verständlicher, greifbarer und erfahrbarer und die behandelten Themen so einem breiten Publikum zugänglich machen.

Ein anderes Beispiel für die Innovationsfähigkeit der «Mainstream»-Medien sind Podcasts. Viele Medienorganisationen, die traditionellerweise auf das geschriebene Wort setzen, haben in den letzten Jahren den Sprung zum Gesprochenen gewagt, teilweise mit grossem Erfolg. Die «New York Times» beispielsweise liefert mit ihrem täglichen Podcast «The Daily» vertiefte Recherchen, Erklärungen und Einordnungen zu aktuellen Themen; ein Format, das unter anderem die «Neue Zürcher Zeitung» für den Podcast «Akzent» und den «Tages-Anzeiger» für den Podcast «Apropos» inspiriert hat.

Wenn es um neue, innovative Formate und Inhalte geht, ist der «Mainstream»-Journalismus besser als sein Ruf. Das mag damit zusammenhängen, dass viele etablierte Medienorganisationen den digitalen Wandel jahrzehntelang verschlafen haben. Erst viel zu spät, angesichts einbrechender Werbeeinnahmen und sich verändernder Nutzungsgewohnheiten mit dem Rücken zur Wand sahen sie sich gezwungen, Neues auszuprobieren. Besser spät als nie.

Wir leben in einer von Informationen überquellenden Welt. Unsere Socia-Media-Feeds sind voll von Nachrichten und Neuigkeiten; täglich landen Dutzende Newsletter in unseren digitalen Postfächern; unsere Smartphones glühen regelrecht ob unablässiger Push-Meldungen und Benachrichtigungen. Da stellt sich die Frage: Brauchen wir überhaupt noch traditionelle Medien, wenn wir doch alle in einem derart dichten digitalen Kommunikationsgeflecht eingenistet sind, dass wir uns als Nutzer*innen selber gegenseitig darüber informieren, was in der Welt geschieht? Sind unsere sozialen Feeds auf Twitter, Facebook und Co. nicht viel direkter am Puls des gesellschaftlichen Geschehens als die Berichterstattung der Medien?

Die Vorstellung, dass professionelle Medien obsolet geworden sind, weil wir auf Social Media im «Peer-to-Peer»-Verfahren selber direkt erzählen und erfahren, was sich tut, ist zwar ein schönes Ideal, das in der Realität aber nicht funktioniert. Das merken wir besonders deutlich in Krisenzeiten: Wenn uns als Gesellschaft Ereignisse heimsuchen, die unsere Alltagsroutinen überfordern und vor neue, ungewisse Herausforderungen stellen, bilden «Mainstream»-Medien eine unabdingbare Rückfallebene, um halbwegs Ordnung ins Chaos bringen und Orientierung zu stiften. Die Corona-Pandemie ist hierfür ein gutes Beispiel.

Seit Anbeginn der Pandemie kursieren vor allem im Internet unzählige Behauptungen, Halbwahrheiten, Gerüchte und Verschwörungstheorien. Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat entsprechend schon früh eine «Infodemie» an Falschinformation ausgerufen, welche die Pandemie begleitet. Die «Mainstream»-Medien fungieren in dieser Infodemie als eine Art Leuchtturm: Sie ordnen ein, entkräften Falschinformation, recherchieren zu neuen Entwicklungen – und sie tun dies auf eine zuverlässige, konsistente Art und Weise. In Normalzeiten mag es uns egal sein, ob die «Tagesschau» oder das «Echo der Zeit» täglich senden; in der Krise werden die regelmässigen journalistischen Formate aber zu essenziellen Informations-Ankerpunkten, die in ungewissen Zeiten Orientierung stiften.

Die Funktion der «Mainstream»-Medien als Informations-Sicherheitsnetz in Krisenzeiten wird auch im aktuellen «Digital News Report» des Reuters Institute an der Universität Oxford dokumentiert. In westlichen Ländern sinkt das Vertrauen in journalistische Medien seit Jahren. Doch im Pandemiejahr 2020 ist das Vertrauen in Medien sprunghaft angestiegen (in der Schweiz um 7 Prozent auf 51 Prozent; in Deutschland um 8 Prozent auf 53 Prozent; in Österreich um 6 Prozent auf 46 Prozent). Der Grund dafür ist, dass in der Krise viele Menschen erkannt haben, wie wichtig und unersetzbar die Leistungen des professionellen Journalismus sind, wenn alle Stricke reissen und es hart auf hart kommt.

Um die viel gescholtenen «Mainstream»-Medien steht es insgesamt gar nicht so schlecht, wie man meinen könnte. Professioneller Journalismus und Massenmedien bilden weiterhin das diskursive Fundament, das uns als demokratischer Gesellschaft ermöglicht, Probleme zu identifizieren und über Lösungen zu streiten.

Anstatt «den Mainstream» pauschal für korrupt und kriminell zu erklären, muss Kritik konkret und gut begründet sein.

Das bedeutet natürlich nicht, dass «Mainstream»-Medienorganisationen nicht kritisiert werden sollen, oder dass es nichts zu kritisieren gäbe. Es ist lediglich wichtig, das Kind nicht mit dem Bade auszuschütten: Anstatt «den Mainstream» pauschal und in einem verschwörungstheoretischen Duktus für korrupt und kriminell zu erklären, muss Kritik konkret und gut begründet sein. Nur so hat sie das Potenzial, tatsächliche Probleme mit «Mainstream»-Medien aufzuzeigen und Lösungen anzuregen.

In diesem Sinne bietet es sich an, abschliessend fünf konstruktive Neujahrsvorsätze für «Mainstream»-Medien zu formulieren:

Was der «Mainstream» besser machen kann

Medien und Journalismus sind für die meisten Menschen eine Black Box. Um das Vertrauen in den Journalismus zu steigern, sollten Medienorganisationen stärker mit offenen Karten spielen und transparent und authentisch zeigen, wie die sprichwörtliche Wurst hergestellt wird. Die Reportage-Formate «STRG_F» und «Y-Kollektiv» des deutschen öffentlichen Online-Content-Netzwerks «Funk» und «rec.» von Schweizer Radio und Fernsehen SRF sind Beispiele für diesen Ansatz. Diese «jungen» Reportage-Formate berichten nicht klassisch distanziert, sondern nehmen das Publikum mit auf die Recherche und zeigen, wie sie arbeiten und was sie bei den jeweiligen Themen motiviert. Auch die Podcasts «Apropos» der Tamedia-Redaktion und «Akzent» der «Neuen Zürcher Zeitung» zeigen in Gesprächen mit Journalist*innen auf, warum sich diese mit bestimmten Themen befassen, und wie sie in ihrer Arbeit vorgehen. Das steigert das Verständnis für das journalistische Handwerk, und es schafft auch eine gewisse menschliche Nähe zu den Journalist*innen.
Professionelle Medienorganisationen betonen gerne, dass sie neutral, ausgewogen und objektiv berichten wollen. Das klingt in der Theorie gut, ist in der Praxis aber unrealistisch: Wollen Medien wirklich neutral sein und gar keinen weltanschaulichen Einschlag haben, können sie nicht kritisch berichten – und stützen damit indirekt den gesellschaftlichen Status Quo. Medien sollten darum vom Ideal der Neutralität absehen und stattdessen andere, erreichbare Werte anstreben. Wie zum Beispiel Fairness. Journalist*innen und Medien sollen durchaus eine weltanschauliche Haltung einnehmen, denn ohne Werte und Normen kann Journalismus keine gesellschaftlichen Probleme identifizieren. Dabei müssen sie aber fair bleiben: Die weltanschauliche Haltung darf den Blick auf Fakten nicht verzerren und journalistische Standards nicht beeinträchtigen.
Professionelle Medien kritisieren gerne Akteure aus Politik, Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft. Doch auf einem Auge sind Medien weitgehend blind: Sie betrachten sich selbst viel zu selten und zu wenig kritisch. Medienkritik darf kein Nischendasein in spezialisierten Magazinen wie der MEDIENWOCHE fristen, sondern muss Teil der grösseren gesellschaftlichen Debatte werden. Medienorganisationen als die sprichwörtlichen Wachhunde der Demokratie müssen auch einander viel stärker und kritisch überwachen – tun sie es nicht, überlassen sie das Feld der Medienkritik dubiosen «alternativen» Medien und Verschwörungstheorien.
Journalismus ist nur das, was jemand nicht veröffentlicht sehen will – alles andere ist PR. Dieses Sprichwort, das der Legende nach von George Orwell stammen soll, bringt eine zentrale Funktion des Journalismus auf den Punkt: Journalismus zeigt gesellschaftliche Missstände und Probleme auf und erlaubt es uns als demokratischer Gesellschaft, über Lösungen zu diskutieren. Dieser Kontroll- und Kritikfunktion muss der professionelle Journalismus heute, in Zeiten steigender Ungleichheit und Machtkonzentration, stärker denn je nachkommen. Dafür müssen sich Journalist*innen und Medien von ihrer Rolle als blosses Forum für Verlautbarungen verabschieden. Es genügt beispielsweise nicht, Zitate von Akteur A und Akteur B einzuholen und gegenüberzustellen. Handlungen, Entscheidungen, Zustände müssen kritisch ausgeleuchtet und eingeordnet werden, damit ersichtlich wird, wo warum was für Probleme bestehen.
Um wirtschaftlich zu funktionieren, müssen Medien ein möglichst grosses Online-Publikum erreichen. Dafür setzen sie oft auf saftige Schlagzeilen, auf spektakuläre Konflikte, auf krasse Bilder. Angeklickt wird, was emotional bewegt und schockiert. Weil die meisten grossen Medien nach dieser Logik operieren, findet ein permanentes Klick-Wettrüsten statt. Diese ökonomische Dynamik des klickorientierten Journalismus ist nachvollziehbar, aber sie ist destruktiv, weil sie die Glaubwürdigkeit des Journalismus untergräbt. Im Zuge der Corona-Pandemie beispielsweise haben grössere Medien extremistischen Massnahme-Kritiker*innen monatelang eine oftmals ungefilterte Bühne für ihre Bilder und Botschaften geboten – mit der Konsequenz, dass die unwissenschaftlichen und moralisch verwerflichen Ansichten einer kleinen Minderheit ein Millionenpublikum gefunden haben. Medienorganisationen müssen ihre Verantwortung als Gestalterinnen der Agenda des gesellschaftlichen Diskurses besser wahrnehmen und von bequemen, ökonomisch motivierten Routinen und Automatismen abkommen. Das erhöht die Qualität der Debatte – und die Glaubwürdigkeit des «Mainstreams».

Zuletzt stellt sich noch die Frage, wie wir mit dem Begriff der «Mainstream-Medien» umgehen sollen. Kann und soll «Mainstream» von seinen negativen Konnotationen befreit und in einem positiveren Licht neu gedacht werden? Oder ist «Mainstream» im Alltagsverständnis mit derart viel negativen und abschätzigen Bildern verbunden, dass wir bewusst auf neutralere Begriffe wie zum Beispiel «Massenmedien» oder «professionelle journalistische Medien» oder «Leitmedien» ausweichen sollen?

Wir sollten den Begriff des «Mainstream» nicht scheuen, sondern im Gegenteil aktiv nutzen.

Die Karriere des Begriffs «Mainstream», so negativ konnotiert er auch ist, dürfte noch lange nicht vorbei sein. «Mainstream» rollt zu gut von der Zunge und weckt zu wirksam Assoziationen, um ohne Weiteres durch sperrige Begriffe wie «Massenmedien» ersetzbar zu sein. Darum sollten wir den Begriff des «Mainstream» nicht scheuen, sondern im Gegenteil aktiv nutzen: Dadurch, dass wir die Debatte über den «Mainstream» nicht einseitig jenen Stimmen überlassen, die den Begriff als Totschlagargument verwenden, wird die Debatte sachlicher, die Kritik am «Mainstream» differenzierter.

Der journalistische «Mainstream» hat Probleme, aber er ist besser als sein Ruf.

Leserbeiträge

Heinz Baumann 04. Januar 2022, 21:22

Mit Ihrer Analyse gehe ich weitgehend einig. Nicht aber damit, dass wir den Begriff Mainstream aktiv nutzen sollten. Denn für die, die ihn verwenden ist er mittlerweile geradezu zum Synonym geworden für gelenkte Medien, denen man nicht trauen kann. Besser würden wir als Gegenpol von journalistischen Medien oder Qualitätsmedien sprechen. Diese Begriffe drücken auch inhaltlich etwas aus, während Mainstream eigentlich lediglich eine populistische, anglizistische Worthülse ist.