Schiefer Rahmen: Medien diskutieren lieber über Tierversuche als über Medikamentenverbot
Die bisherige Berichterstattung zur Initiative «Ja zum Tier- und Menschenversuchsverbot», über die am 13. Februar 2022 abgestimmt wird, ist krass irreführend. Eine Annahme der Vorlage brächte mit einem Medikamentenverbot Menschenleben in Gefahr, doch die Medien diskutieren lieber über Tierversuche. Analyse eines Medienversagens.
Der Autor ist Präsident von «Reatch! Research. Think. Change.», einer Ideenschmiede für Wissenschaft, Technik und Gesellschaft. Reatch engagiert sich im Abstimmungskampf gegen die Initiative für ein Mensch- und Tierversuchsverbot.
Eine Volksinitiative verlangt, dass Schmerztabletten wie Aspirin und Paracetamol verboten werden. Auch Impfungen und Antibiotika sollen mehrheitlich vom Markt verschwinden. Und wer ein Arzneimittel gegen Diabetes, Herzinfarkt oder Krebs braucht, würde in Schweizer Spitälern und Arztpraxen künftig nicht mehr fündig werden. Die Initiative würde auch viele biologische Feld- und Beobachtungsstudien verbieten, die Ausbildung von Veterinärmediziner:innen erschweren und zahlreiche Projekte in Ökonomie, Sportwissenschaften oder Psychologie verhindern. Faktisch unmöglich würde auch Forschung am Menschen in der Medizin – egal ob klinische Forschung für die Entwicklung von neuen Medikamenten oder nicht-invasive Grundlagenforschung, um den menschlichen Körper zu entschlüsseln.
Die Rede ist von der Vorlage, die landauf landab unter dem Namen «Tierversuchsverbotsinitiative» bekannt ist. Viele wird das überraschen, denn das Verbot von Humanforschung und Arzneimitteln, das die Initiant:innen in die Verfassung schreiben möchten, ist in den meisten Medienberichten – wenn überhaupt – nur in einem Nebensatz erwähnt. Man stelle sich vor, eine Initiative würde fordern, der Schweiz den Strom abzustellen, und die Medien würden bloss die Frage behandeln, ob man Wasserkraftwerke brauche. Das wäre so absurd wie irreführend, doch genau das geschieht gegenwärtig bei der Berichterstattung zur Initiative «Ja zum Tier- und Menschenversuchsverbot». Die mediale Verzerrung der Sachlage hat ein derart beängstigendes Ausmass angenommen, dass viele Stimmbürger:innen im Glauben an die Urne gehen werden, sie würden ausschliesslich über ein Verbot von Tierversuchen abstimmen.
Nun ist «Ja zum Tier- und Menschenversuchsverbot – Ja zu Forschungswegen mit Impulsen für Sicherheit und Fortschritt», wie die Initiative mit vollständigem Namen heisst, zugegebenermassen ein Zungenbrecher. Den Medienschaffenden sei deshalb verziehen, dass sie einen knackigen Titel bevorzugen. Dennoch ist die inhaltliche Fixierung auf Tierversuche sachlich kaum zu begründen.
Wesentliche Aspekte der Initiative blenden Medien schlicht aus. Der Rahmen, das «Framing», der Medien, ist irreführend eng und hängt gefährlich schief.
Schon vor zwei Jahren hatte ich an dieser und anderer Stelle kritisiert, dass die Initiative in den Medien massiv verharmlost wird. Ein Verbot von Tierversuchen hätte zwar auch existenzbedrohende Konsequenzen für die biomedizinische Forschung, die Tiermedizin und die pharmazeutische Industrie. Doch der Schaden, den ein solches Verbot anrichten würde, wäre nichts im Vergleich zu den Auswirkungen, die das Verbot von Humanforschung und Arzneimitteln hätten: Die medizinische Grundversorgung in der Schweiz bräche zusammen. Unzählige Patient:innen verlören den Zugang zu überlebenswichtigen Medikamenten. Menschen würden sterben.
Manch einer wird dies als polemischen Angriff eines Forschenden im Abstimmungskampf wegwischen. Als Biostatistiker arbeite ich schliesslich in einem Bereich der Forschung, der direkt von der Initiative betroffen wäre. Ebenso bringe ich mich gemeinsam mit anderen jungen Forschenden aktiv in die Abstimmungsdiskussion ein. Ich bin also offensichtlich Partei in dieser Sache.
Es ist nachvollziehbar, wenn Medienschaffende vor allem über das Verbot von Tierversuchen berichten. Aber abgestimmt wird über eine Initiative, die viel weiter geht.
Ich werfe den Medienschaffenden jedoch nicht vor, dass sie Tierversuche thematisieren – im Gegenteil: Ich finde es richtig und wichtig, dass die damit zusammenhängenden Fragen diskutiert werden und beteilige mich schon seit fast einem Jahrzehnt an solchen Debatten. Ebenso erachte ich die gegenwärtige Berichterstattung darüber als ausgewogen und fair. Ich kritisiere vielmehr, dass wesentliche Aspekte der Initiative von Journalist:innen totgeschwiegen werden. Der Rahmen, das «Framing», der Medien, ist irreführend eng und hängt gefährlich schief – und für die Print- und Onlinemedien kann ich es auch systematisch belegen.
—
Auswertung der Berichterstattung
- • Eigenständige journalistische Texte, zum Beispiel Interviews, Porträts, Hintergrundanalysen (114 Artikel).
- • Vorschau- und Teasertexte, d.h. Texte, die keinen eigenständigen Inhalt darstellen, sondern auf diesen verwiesen. In den meisten Fällen handelt es sich um Texte, welche zum Teilnehmen an Abstimmungsvorlagen aufrufen (20 Texte).
- • Kommentare, sowohl von Journalist:innen wie auch von Gastautor:innen (23 Texte).
- • Parteiparolen, d.h. Berichte über Beschlussfassungenvon Parteien (60 Artikel)
- • Berichte über Pressekonferenzen und Medienmitteilungen (32 Texte)
- • Tierversuchsverbot/Tierversuche (102 Artikel)
- • Menschenversuchsverbot/Menschenversuche (17 Artikel)
- • Medikamentenverbot/Medikamentenentwicklung (2 Artikel)
- • Abstimmungen Allgemein (110 Artikel)
- • Anderes (18 Artikel)
Das Hauptanliegen der Initiant:innen ist das Verbot von Tierversuchen. Deutlich wird das nicht nur beim Betrachten ihrer Webseite, sondern auch beim Lesen, Hören und Schauen ihrer Voten in den Medien. Auch die Gegenseite verwendet deshalb viel Zeit und Energie darauf, die Relevanz und Notwendigkeit von Tierversuchen aufzuzeigen. Es ist also nachvollziehbar, dass Medienschaffende diesem Aspekt der Initiative einen wesentlichen Teil der Berichterstattung widmen.
Überall auf der Welt wird mit Mensch und Tier geforscht, um neue Therapien zu entwickeln, und auch für die Marktzulassung sind Versuche an Mensch und Tier zwingend vorgeschrieben.
Abgestimmt wird jedoch nicht über die Motivation der Initiant:innen, sondern über den Initiativtext. Und dieser enthält auch die Forderung, Menschenversuche und Arzneimittel zu verbieten. Das ist keine Frage der Auslegung, das steht schwarz auf weiss im Initiativtext: «Tierversuche und Menschenversuche sind verboten». Und weiter: «Handel, Einfuhr und Ausfuhr von Produkten aller Branchen und Arten sind verboten, wenn für sie weiterhin Tierversuche direkt oder indirekt durchgeführt werden.» Das gilt auch für Versuche am Menschen, denn die Initiative hält ebenso fest: «Dies und alles Nachfolgende gelten sinngemäss für Tier- und Menschenversuche».
Wenn also in den USA eine neue Therapie gegen Darmkrebs entwickelt wird oder europäische Forschende neue Antibiotika entdecken, wären die Patient:innen in der Schweiz davon ausgeschlossen – zumindest jene, die sich keine Behandlung im Ausland leisten können. Denn überall auf der Welt wird mit Mensch und Tier geforscht, um neue Therapien zu entwickeln, und auch für die Marktzulassung sind Versuche an Mensch und Tier zwingend vorgeschrieben.
Man könnte nun einwenden, dass bereits zugelassene Arzneimittel doch ausreichen würden, um die Gesundheitsversorgung sicherzustellen. Abgesehen davon, dass dieser Einwand die über 500’000 Menschen mit seltenen Krankheiten sowie die über zwei Millionen Menschen mit bis anhin unheilbaren Gebrechen ausblendet, ist er auch für den Rest der Bevölkerung faktisch falsch – und zwar aus zwei Gründen.
Mit der Ausnahme einer kleinen Handvoll von Artikeln legten alle journalistisch eigenständigen Texte den Schwerpunkt auf das Tierversuchsverbot.
Erstens gleicht das Entwickeln von Arzneimitteln einem «Wettrüsten», vor allem bei infektiösen Erregern. Ob Viren, Bakterien oder andere Mikroorganismen: Wegen Mutationen im Erbgut dieser Erreger können bestehende Arzneimittel über die Zeit hinweg ihre Wirksamkeit verlieren. Exemplarisch zeigt sich das an den kontinuierlich mutierenden Grippe- und Coronaviren und vor allem am besorgniserregenden Anstieg von Antibiotikaresistenzen bei einer Vielzahl von Bakterien. Ohne Zugang zu neuen Arzneimitteln wären Schweizer Patient:innen solchen Erregern künftig schutzlos ausgeliefert.
—
Ein Rennen gegen die Zeit
Multiresistente Keime, also Bakterien, die gegen eine Vielzahl von Antibiotika resistent sind, stellen eine enorme Bedrohung für einzelne Patient:innen und für das Gesundheitssystem als Ganzes dar. Eine systematische Analyse schätzte jüngst, dass 2019 weltweit zwischen 900’000 und 1.8 Millionen Menschen an multiresistenten Bakterien gestorben sind – das sind mehr Todesfälle als beispielsweise AIDS oder Malaria verursachen. Aus diesem Grund werden weltweit sogenannte «Reserveantibiotika» gehütet, welche nur dann bei einem Patienten zum Einsatz kommen, wenn die normalerweise eingesetzten Medikamente nicht mehr anschlagen – die Weltgesundheitsorganisation unterhält dafür eigens eine Liste. So soll verhindert werden, dass diese Reserveantibiotika allzu schnell ihre Wirkung verlieren. Doch das ist ein Rennen gegen die Zeit, denn die Erreger hören nicht auf zu mutieren und dadurch Resistenzen zu erwerben.
Es braucht also kontinuierliche Anstrengungen, auch in Form von Forschung und Entwicklung an Tier und Mensch, um neue Therapien gegen bakterielle Infektionen zu finden. Laut Initiativtext würden Schweizer Patient:innen aber genau von diesen künftig entwickelten Antibiotika ausgeschlossen werden und wären multiresistenten Keimen damit schutzlos ausgeliefert.
Zweitens will die Initiative explizit auch bereits zugelassene Medikamente verbieten. Zwar steht im Text, dass «bisherige Produkte vom Verbot ausgenommen [blieben], wenn für sie keinerlei Tierversuche mehr direkt oder indirekt durchgeführt» würden, wobei die Passage sinngemäss auch für Menschenversuche gilt. Doch diese Einschränkung könnte die wenigsten Arzneimittel vor einem Verbot bewahren, da auch Wirkstoffe, die bereits seit Jahrzehnten auf dem Markt sind, weiterhin an Mensch und Tier erforscht werden. Das ist beispielsweise dann nötig, wenn man die Wirkung eines bestimmten Medikaments auf eine andere Krankheit testen möchte. Ob rezeptfreie Kopfschmerztabletten wie Aspirin oder Paracetamol oder potente Medikamente gegen Diabetes, Herz-Kreislauferkrankungen oder Krebs: Gemäss Initiativtext müssten sie verboten werden, sobald sie irgendwo auf der Welt in einem Versuch mit Mensch oder Tier eingesetzt werden – und das geschieht bei der Mehrheit der Medikamente irgendwann einmal.
—
Aspirin ade
Arzneimittel werden stets nur für die Anwendung einer bestimmten Krankheit zugelassen. Das ist deshalb der Fall, weil man sichergehen will, dass die Medikamente richtig verwendet werden und dass das Nutzen-Risiko-Verhältnis stimmt. Denn die Wirkung eines Arzneimittels ist immer ins Verhältnis zu setzen mit dessen Nebenwirkungen. Bei der Behandlung einer lebensbedrohlichen und der Lebensqualität stark abträglichen Krankheit wie Krebs wäre häufige Übelkeit als Nebenwirkung eher vertretbar als bei der Behandlung von leichten Rückenschmerzen. Den Entscheid über die Marktzulassung treffen die Behörden unter anderem basierend auf Daten aus Tier- und Menschenversuchen.
Nach der Marktzulassung für eine bestimmte Krankheit wird jedoch weiter mit solchen Arzneimitteln an Mensch und Tier geforscht, zum Beispiel um herauszufinden, ob es auch zur Behandlung anderer Krankheiten infrage kommen könnte. Sobald sich die Hinweise darauf verdichten, muss der Wirkstoff erneut ein Zulassungsverfahren für die neu zu behandelnde Krankheit durchlaufen. Zwar ist das Zulassungsverfahren bei bereits bekannten Substanzen vereinfacht, doch auch ein vereinfachtes Zulassungsverfahren bedingt Forschung mit Mensch und Tier.
«Drug Repurposing», zu deutsch: «Umnutzung von Medikamenten», nennt man diesen Prozess. So liessen Gesundheitsdaten von Patient:innen vermuten, dass das Krebsmedikament «Rituximab» auch gegen rheumatische Arthritis wirken könnte, weil sich bei einigen Krebspatient:innen auch die Arthritisbeschwerden verbesserten. Um herauszufinden, ob sich diese Beobachtung tatsächlich auf «Rituximab» zurückführen liess, brauchte es jedoch gezielte Studien an Tier und Mensch, um die Sicherheit und Wirksamkeit von «Rituximab» zur Behandlung von Arthritis-Patienten zu testen und – ebenso wichtig – den Wirkungsmechanismus besser zu verstehen. Das Medikament wurde schliesslich zugelassen zur Behandlung von Arthritis.
Tests, um bekannte medizinische Substanzen umzunutzen, gibt es viele. 2018 zeigte eine systematische Untersuchung von klinischen Studien an Menschen, dass über 60 Prozent der getesteten Substanzen schon einmal für eine andere Erkrankung am Menschen getestet worden sind. Da der Initiativtext verlangt, dass alle Produkte verboten werden sollen, für die «direkt» oder «indirekt» Tier- oder Menschenversuche durchgeführt werden, müsste man sogar rezeptfrei erhältliche Medikamente wie Kopfschmerztabletten verbieten. So wird beispielsweise Aspirin regelmässig zur Behandlung von verschiedenen Krankheiten getestet – und bei Darmkrebs auch zur Behandlung empfohlen.
Auch das Lieblingsbeispiel aller Tierversuchsgegner – «Thalidomid» bzw. «Contergan» - hat eine solche «Repurposing»-Geschichte hinter sich. Es wurde vor einem halben Jahrhundert zuerst für die Behandlung von Morgenübelkeit zugelassen und dabei insbesondere auch Schwangeren verschrieben – mit katastrophalen Auswirkungen, denn Thalidomid stört die Entwicklung des Kindes im Mutterleib. In der Folge kamen tausende von Babies mit Missbildungen auf die Welt. Das Medikament wurde vom Markt genommen, feierte aber schon bald eine Renaissance als Behandlung gegen Krankheiten wie Lepra oder Krebs im Knochenmark.
Tierversuchsgegner nehmen Thalidomid gerne als Beleg für ihre Behauptung, dass Tierversuche unnütz seien. Doch weil Nebenwirkungen damals noch nicht routinemässig an schwangeren Tieren und an verschiedenen Tierarten getestet worden sind, konnte diese Nebenwirkungen gar nicht entdeckt werden. Aus dem gleichen Grund hat man diese Nebenwirkung auch nicht in klinischen Versuchen am Menschen erkannt, denn aus ethischen Gründen wurde Thalidomid auch nicht an schwangeren Frauen getestet. Auch heute ist es nur in Ausnahmefällen erlaubt, medizinische Substanzen an Schwangeren zu testen – nämlich dann, wenn diese direkt davon profitieren. Auch bei Kindern und anderen besonders schützenswerten Personengruppen sind klinischen Versuchen enge Grenzen gesetzt, weshalb die Marktzulassung eines Medikaments zuerst nur für gewisse Teile der Bevölkerung gilt. Auch deswegen kann es sein, dass Tier- und Menschenversuche für bereits zugelassene Arzneimittel zum Einsatz kommen – womit sie laut der Initiative verboten werden müssten. Ein Beispiel ist der Corona-Impfstoff, der erst nach zusätzlichen Daten aus wissenschaftlichen Studien mit Mensch und Tier für Kinder zugelassen wurde.
Medienberichte, die solche Zusammenhänge aufzeigen, gibt es kaum. Eine Ausnahme ist das Interview von Remo Wyss mit Peter Gehler, dem Vizepräsidenten des pharmazeutischen Unternehmens «Siegfried AG» im «Zofinger Tagblatt». Es ist einer der wenigen Artikel, der den inhaltlichen Schwerpunkt auf das Medizinverbot legt. Ebenfalls positiv hervorzuheben ist das Interview von Lisa Bailat mit der Bioethikerin Samia Hurst in «24 heures», welches zwar den Schwerpunkt auf das Thema Tierversuche legt, aber dem Verbot von Humanforschung und Arzneimitteln ebenfalls viel Platz einräumt und insbesondere die enge Verbindung zwischen Tierversuchen, Forschung am Menschen und Medikamentenentwicklung aufzuzeigen vermag. Auch Ramona Nock im Online-Magazin «Higgs», Claudia Blumer auf «20 Minuten online», Maria-Rahel Cano auf «nebelspalter.ch» und Daniel Gerny in der «Neuen Zürcher Zeitung» haben es geschafft, bei der Berichterstattung eine gute Balance zu finden zwischen den drei Hauptforderungen der Initiative.
Das Tierversuchsverbot wird in fast allen Titeln erwähnt, das Menschenversuchs- und Medizinverbot in fast keinem.
Ansonsten sind positive Beispiele rar gesät. Mit Ausnahme einer Handvoll Artikeln legten alle journalistisch eigenständigen Texte, die zwischen dem 27. November 2021 und dem 28. Januar 2022 zur Initiative erschienen und in der Schweizer Mediendatenbank SMD publiziert wurden, den Schwerpunkt auf das Tierversuchsverbot oder das Thema Tierversuche. Auch die Titel sprechen eine klare Sprache: Das Tierversuchsverbot kommt in fast allen Titeln vor, das Menschenversuchs- und Medikamentenverbot in fast keinem. Auch in den Texten selbst bleiben die beiden Verbote häufig unerwähnt – und wenn sie erwähnt werden, dann meist im Vorbeigehen: Mehr als den Hinweis, dass Menschenversuche und Medikamente verboten werden sollen, findet selten. Eine journalistische Auseinandersetzung mit der Forderung, Schweizer Patient:innen (und auch Tiere) den Zugang zu lebenswichtigen Medikamenten abzuschneiden, fehlt damit grossmehrheitlich. Das Verbot der Forschung am Menschen wird in noch einmal weniger Artikeln thematisiert.
Die Initiant:innen können die mediale Aufmerksamkeit dazu nutzen, ihre zumeist anti- und unwissenschaftlichen Botschaften weitgehend unwidersprochen zu verbreiten.
Stattdessen werden unkritische Interviews geführt und Porträts verfasst, die an Verklärung grenzen. Ein Artikel versteigt sich sogar dazu, die Argumentation eines der Köpfe der Initiative als «wissenschaftsbasiert» zu bezeichnen – entgegen der Tatsache, dass alle wissenschaftlichen Organisationen in der Schweiz die Initiative geschlossen ablehnen. Gewisse Texte verbreiten auch irreführende Falschinformationen. So behauptet ein Artikel von «20 minutes» vom 24. Januar in der Printversion, dass der Text der Initiative die Forschung am Menschen nicht verbieten würde. Auch online ist die falsche Darstellung leicht abgewandelt nachzulesen, obwohl das Gegenteil im Initiativtext steht.
Es ist noch keine «falsche Ausgewogenheit», wenn man in einem Artikel Befürworter und Gegner von Tierversuchen zu Wort kommen lässt.
So können die Initiant:innen die mediale Aufmerksamkeit dazu nutzen, ihre zumeist anti- und unwissenschaftlichen Botschaften weitgehend unwidersprochen zu verbreiten. Darum – und nicht ums Gewinnen – scheint es ihnen auch zu gehen: «Die Initiative wird nicht durchkommen», lässt sich Renato Werndli, einer der Treiber hinter der Initiative, in einem Porträt zitieren. Und weiter: «‹Eine eigene Initiative ist super, um unsere Botschaft zu verbreiten›. Mittlerweile bekomme er so viele Medienanfragen, dass er gar nicht mehr allen zusagen könne. ‹Und das ohne jegliches Werbebudget›». Angesichts solcher Aussagen sollten sich viele Journalist:innen fragen, ob sie sich nicht gemein gemacht haben mit einer Sache, die Menschenleben aufs Spiel setzt.
Unterstützen Sie unabhängigen und kritischen Medienjournalismus. Werden Sie jetzt Gönner/in.
Journalismus braucht Herzblut, Zeit – und Geld. Mit einem Gönner-Abo helfen Sie, unseren unabhängigen Medienjournalismus nachhaltig zu finanzieren. Ihr Beitrag fliesst ausschliesslich in die redaktionelle und journalistische Arbeit der MEDIENWOCHE.
Vor weniger als einem halben Jahr gab es im deutschsprachigen Raum eine ausführliche Diskussion über sogenannte «False Balance», bzw. «falsche Ausgewogenheit» in den Medien, vor allem im Zusammenhang mit wissenschaftlichen Themen wie Corona oder Klimaerwärmung. Bemängelt wurde damals, dass Medienschaffende wegen ihres durchaus berechtigten Anspruchs an eine ausgewogene Berichterstattung über das Ziel hinausschiessen und dadurch wissenschaftliche Tatsachen untergraben. Ich fand die Kritik der «False Balance» damals mehrheitlich schwach, weil schlecht begründet: Sobald eine wissenschaftliche Minderheitenmeinung medial Gehör bekam, konstatierten einige eine falsche Ausgewogenheit. Das ist weder journalistisch noch wissenschaftlich überzeugend, dürfen doch auch wissenschaftliche Minderheitenmeinungen – sofern sie gut begründet werden – medial verhandelt werden.
Auch im vorliegenden Fall ist die Sache komplexer. Es ist noch keine «falsche Ausgewogenheit», wenn man in einem Artikel Befürworter und Gegner von Tierversuchen zu Wort kommen lässt. Das ist eine berechtigte Diskussion und sie ist auch durch die Forderungen der Initiative begründet. Auch wäre es aus demokratischer Sicht inakzeptabel, die Initiant:innen nicht zu Wort kommen zu lassen, weil sie unrealistische und unwissenschaftliche Haltungen vertreten. Sie haben über 100’000 Unterschriften gesammelt und eine Initiative eingereicht. Das berechtigt sie zweifellos zur Teilnahme an der medialen Debatte.
Die Initiant:innen hantieren zwar mit einer Reihe von wissenschaftlichen Falschbehauptungen und Halbwahrheiten, die in dieser oder ähnlicher Form schon seit Jahren und Jahrzehnten in tierversuchskritischen Kreisen herumgereicht werden. Doch an sich wäre auch das kein Problem, wenn Medienschaffende dies kritisch hinterfragen und einordnen würde. Von einigen Ausnahmen abgesehen bleibt das jedoch aus. Die meisten Journalist:innen scheinen sich auch nicht die Frage gestellt zu haben, ob es neben der vertieften Auseinandersetzung mit dem Tierversuchsverbot nicht auch eine Diskussion zum Verbot von Forschung an Menschen und zum Verbot von Medikamenten bräuchte. Oder sie haben sich die Frage durchaus gestellt und sind zum Schluss gekommen, dass sich darüber nicht wirklich eine Debatte führen lässt – womit wir wieder bei der falschen Ausgewogenheit wären.
Oft haben Journalist:innen die Rollenverteilung mental bereits festgelegt, bevor auch nur ein Satz geschrieben ist.
Ob Tierversuche zulässig sind, darüber lässt sich trefflich streiten. Tierversuche sind ein Dilemma, das bleibt und es gibt gute Gründe dafür und dagegen. Ebenso ist Debatte darüber so geläufig wie emotional, wie Philipp Meier, Community Developer bei Swissinfo, auf Twitter bemerkt. Journalist:innen können damit vergleichsweise leicht für «echte» Ausgewogenheit sorgen, indem sie so bekannte wie rigide Erzählmuster bemühen: Hier die rationale, aber auch etwas kühl wirkende Forscherin, die selber Tierversuche durchführt und deren Bedeutung für Wissenschaft und Medizin betont. Dort der von der guten Sache überzeugte Tierversuchsgegner, der den wissenschaftlichen Nutzen von Tierversuchen abstreitet und in seinem Kampf für das Tierwohl vollkommen aufgeht. Oft haben Journalist:innen diese Rollenverteilung mental bereits festgelegt, bevor auch nur ein Satz geschrieben ist. Sie suchen gezielt nach Menschen, welche die gewünschten Merkmale aufweisen und stutzen all jenes zurecht, was nicht ins vorgefertigte Narrativ passt.
Die Forderung, lebenswichtige Medikamente zu verbieten, wirkt demgegenüber fremd und abstrakt. Es gibt auch keine pfannenfertige Geschichten, die sich aufkochen lassen. Ebenso wenig löst das Thema unmittelbare emotionale Assoziationen aus. Die meisten von uns haben schlicht nie erlebt, wie es ist, keinen Zugang zu Medikamenten zu haben. Zudem ist die Forderung derart extrem, dass sie Journalist:innen vor ein Dilemma stellt: Entweder sie versuchen, auch diese Frage ausgewogen zu behandeln, und riskieren damit, eine «falsche» Ausgewogenheit herzustellen. Oder sie bezeichnen die Forderung als das, was sie offensichtlich ist – wirklichkeitsfremd und unmenschlich – und handeln sich damit den Vorwurf ein, zu wenig ausgewogen zu berichten. Da scheint es ungefährlicher, die Forderung gar nicht erst behandeln, sondern sich auf die Debatte über Tierversuche zu konzentrieren. Für das mediale Versagen könnte das eine Erklärung sein – eine Entschuldigung ist es nicht.