von Marlis Prinzing

Bilder vom Krieg: Die Grenzen des Zumutbaren

Tote Zivilisten in Irpin bei Kiew, ein Massengrab bei Mariupol, in das Leichen geworfen werden – solche Bilder zeigen die hässliche Fratze des Krieges. Aktuell kommen sie aus der Ukraine. Es gibt gute Gründe, Bilder vom Krieg zu zeigen. Aber nicht alle und nur wohlüberlegt. Bei manchen Bildern hingegen heiligt auch der Zweck nicht die Mittel.

Die amerikanische Kriegsreporterin Lynsey Addario hat vier Menschen fotografiert, ganz offensichtlich Zivilisten. Sie liegen reglos auf einer Strasse in Irpin, einem Vorort von Kiew. Addario war dabei, als sie getötet wurden, ihrer Wahrnehmung nach gezielt. «Ein Kriegsverbrechen», beschreibt sie in der deutschen Nachrichtensendung «heute-journal» (ZDF), hier seien Granaten direkt auf Unschuldige abgefeuert worden. Die «New York Times» hat dieses Dokument am 7. März 2021 auf der Titelseite fünf Spalten breit veröffentlicht – direkt, unverpixelt, identifizierbar, eines der Gesichter ist blutverschmiert.

Dies ist ein Anlass, um nachzudenken: Was ist zumutbar? An welchem Kompass lässt sich die Entscheidung darüber orientieren?

Richtet man sich an der Handlung selbst aux und der damit verbundenen Gesinnung und Verpflichtung oder an den Folgen einer Handlung? Sich beide Perspektiven vorzustellen, trägt der grossen Verantwortung Rechnung, die solche Entscheidungen in sich tragen. Aus pflichtethischer Sicht lässt sich mit dem kategorischen Imperativ von Immanuel Kant argumentieren: Es sollte kein allgemeingültiges Gesetz sein, Bilder von Leichen und sterbenden Menschen zu veröffentlichen. Dagegenhalten liesse sich die Verpflichtung von Journalisten und Journalistinnen, zu publizieren, was von öffentlicher Relevanz ist – und Kriegsverbrechen zu dokumentieren sind zweifellos von öffentlicher Relevanz.

Beim Bild der Toten von Irpin ist der dokumentarische Stellenwert kaum von der Hand zu weisen. Die Veröffentlichung ist folgen- und pflichtethisch gestützt begründbar.

Folgenethisch argumentiert, also mit Betonung auf den Folgen einer Veröffentlichung, gibt es ebenfalls Gründe, die solche Fotos zumutbar erscheinen lassen. Eine Veröffentlichung könnte die positive Konsequenz haben, dass das Grauen des Krieges noch deutlicher wird und beispielsweise Anstrengungen befördert, so rasch wie möglich zumindest einen Waffenstillstand herbeizuführen. Solchen Bildern kann also eine bedeutsame politische Dimension zugeschrieben werden. Man kann in ihnen ein Symbol des Krieges und der Verhältnisse vor Ort sehen, das sich bildhaft besonders eindrücklich darstellen lässt. Zudem bewegt sich die dargestellte Szene im Rahmen des Verantwortbaren: die Situation ist zwar erkennbar, aber die Opfer sind nicht deutlich exponiert, werden also durch das Abbilden kein weiteres Mal zu Opfern.

Der Journalistenkodex des Schweizer Presserats (Richtlinie 8.4 und 7.8) liefert weitere Anregungen, um möglichst präzise abzuwägen. Verlangt wird, an Bilder aus Kriegen und Konflikten drei Fragen zu richten: Handelt es sich wirklich um ein einmaliges Dokument der Zeitgeschichte und damit um ein Bild, das von hohem öffentlichem Interesse ist? Sind die abgebildeten Personen als Individuen identifizierbar? Würde die Publikation ihre Menschenwürde, ihr Recht auf Totenruhe verletzen? Ist ein Bild mit der «Sensibilität der Betrachter» vereinbar?

Beim Bild der Toten von Irpin ist der dokumentarische Stellenwert kaum von der Hand zu weisen. Die Veröffentlichung ist folgen- und pflichtethisch gestützt begründbar. Das gilt aber ebenso für die Entscheidung, dies zu unterlassen. Mögliche Gründe wären eben, dass die Gesichter identifizierbar sind, oder dass solche Bilder die Betrachter verstören können. Es gibt hier kein «absolut richtig» oder «völlig falsch»; obligatorisch sollte aber sein, mehrere Sichtweisen gegeneinander abzuwägen, ehe man sich entscheidet – und zwar doppelt: Ist es von öffentlichem Interesse, ein Bild dieser Toten zu veröffentlichen? Und wenn ja, mit welcher Art von Bildmotiv und Umsetzung? – Unverpixelt wie in der New York Times? Nachträglich verpixelt wie beim «Tagesspiegel»? Aus einer anderen Perspektive, die nicht die Gesichter der Betroffenen zeigt oder abgedeckt mit Tüchern oder lediglich einen Arm, der unter einem Tuch hervorragt, wie bei «Euronews»? Oder hinter einem Warnhinweis wie auf Social-Media-Plattformen? Oder doch nur textlich beschreiben, wie bei «Swissinfo»? Diese verschiedenen Darstellungsformen spiegeln die Grauzonen wider, wie sie auch in den im Pressekodex aufgeworfenen Fragen anklingen.

Innehalten, nachdenken, überlegen, was man zeigen und veröffentlichen will und mit welchen möglichen Folgen, ist ein Qualitätsmerkmal, ein Zeichen der Professionalität.

Lindesay Addarios Bild der Toten aus Irpin ging um die Welt. Der Familienvater Serhiy Perebyinis entdeckte es via Twitter. Er selbst sass offenbar in der Ostukraine fest. Als er die Gepäckstücke sah, wusste er, dass daneben die Leichen seiner Frau und seiner beiden Kinder lagen, erzählte er der «New York Times». Sie starben bei dem Versuch, aus dem umkämpften Umland von Kiew zu fliehen; der vierte Tote war ein ehrenamtlicher Helfer, der die drei in Sicherheit bringen wollte, getroffen wurde und vor Ort seinen Verletzungen erlag. Die Welt solle von alldem erfahren, fand Perebyinis; seine Einstellung bewog offenbar manche Medien, daraufhin das Bild nun zu zeigen, oft unverpixelt (ein Beispiel: RTL); doch Medien sollten, wie im Pressekodex empfohlen, sensibel bleiben, denn Angehörige könnten auch anders reagieren als in diesem Fall.

Innehalten, nachdenken, überlegen, was man zeigen und veröffentlichen will und mit welchen möglichen Folgen, ist ein Qualitätsmerkmal, ein Zeichen der Professionalität. Jedes Bild ist für sich zu bewerten. Es gibt diverse Bildgruppen wie z.B. Opferbilder, Bilder des Schmerzes, Bilder der Zerstörung, Soldatenbilder, Heldenbilder, Kriegsgefangenenbilder – Krieg hat viele Gesichter. Gleich nach Kriegsbeginn, am 25. Februar 2021, veröffentlichten etliche Medien (unter anderem «The Guardian», «Blick», als Überblick «Watson») das Foto einer Ukrainerin mit einem Kopfverband und mit Blut und Schnittverletzungen im Gesicht. Sie nahm, so die deutsche «Bild», offenbar in Kauf, dass ihr Foto um die Welt ging. Dieses Foto zuzumuten, lässt sich auch damit begründen, dass es zeigt, dass Wladimir Putins Aussage falsch ist, die Zivilbevölkerung sei nicht im Visier.

Neu in den Blick rückt ein Bildtypus, der lange keine besondere Rolle mehr spielte: Die Opferbereiten und die Helden.

Mit diesem Argument lässt sich aber nicht jede Veröffentlichung rechtfertigen. «Bild» ergänzte eine Aufnahme einer Frau mit Kind auf dem Arm durch ein sehr stark verpixeltes Bild, das die Frau einen Tag später zeigen soll, mit einer nun durch eine Rakete zerrissenen linken Gesichtshälfte; darüber steht die Headline: «Putin, das ist Dein Werk» (28. Februar 2022). Doch warum muss hier die Wortinformation zu ihrer Verletzung überhaupt noch visuell ergänzt werden? Der Sensation wegen? Eines Bilddokuments bedarf es hier nicht.

Neu in den Blick rückt ein Bildtypus, der lange keine besondere Rolle mehr spielte: Der der Opferbereiten und der Helden. In der «NZZ am Sonntag» stellt Andrea Jeska eine Reihe entschlossener Menschen vor, den pensionierten Oberst und IT-Experten in der Küche, die Mutter und Marketingexpertin im Hausflur, beide ausgestattet mit riesigen Waffen – bereit, sobald nötig, durch Taten zu Helden zu werden. Harmlos anmutende Bilder des möglichen Grauens, das die Autorin in ihrem Schlusssatz auf den Punkt bringt: «Werden wir uns auch wieder, wie in dunkler kriegsverherrlichender Vergangenheit, damit trösten können, dass sie als Helden starben?» Ein wichtiger Satz auch für die Abwägung der Verantwortung, solche Bilder ebenfalls nur mit Bedacht zu publizieren. Sie können auch als Propaganda dafür dienen , sich zu bewaffnen. Mit allen Konsequenzen – den positiven der Wehrhaftigkeit und des Trostes für die Volksseele wie den eher negativen, als Held zu fallen.

Ein Beispiel für Propaganda mit Bildern sind die Fotos und Filme von russischen Kriegsgefangenen in der Ukraine, die teilweise auch ukrainische Regierungskreise in sozialen Medien verbreiten.

Nun ebenfalls salonfähig werden Bilder von Söldnern und Scharfschützen, die ihr Handwerk überall und auch in der Ukraine ausüben. Wiederum werden ein konkretes Handeln und vergangene «Taten» als vorbildlich propagiert und als Instrument, um eine Veränderung herbeizuführen. Der «Blick» stellt dem Publikum den Kanadier «Wali» vor und zeigt ihn in Militärkleidung und mit Waffe. Er habe 2017 mit einem Tötungsschuss auf einen IS-Terroristen aus 3,4 Kilometern Distanz einen Weltrekord aufgestellt und wolle nun an der Seite der ukrainischen Armee kämpfen. Der 40-jährige begann am 27. Februar sein Facebook-Tagebuch «Die Fackel und das Schwert» und animiert dort Kämpfer aus aller Welt, seinem Beispiel folgen: «Hört auf, passiv-aggressiv zu sein. Packt zu!»

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Ebenfalls ein Beispiel für Propaganda mit Bildern sind die Fotos und Filme von russischen Kriegsgefangenen in der Ukraine, die teilweise auch ukrainische Regierungskreise in sozialen Medien verbreiten. Kiew will damit die Moral in der Ukraine festigen sowie die Propaganda des Kremls unterlaufen und der breiten Bevölkerung in Russland zeigen, was in der Ukraine gerade passiert. Doch der Zweck heiligt nicht die Mittel. Propaganda bleibt Propaganda.

Auf TikTok kursiert ein Video, wo man sieht, wie eine Ukrainerin einem gefangenen russischen Soldaten etwas zu essen reicht und zudem dessen Mutter anruft. Zehntausende teilten es auf TikTok, auf Twitter gab es viel Zuspruch, der «Blick» überschrieb eine Nachricht samt Video mit «Zeichen von Menschlichkeit». Damit ist die Redaktion für einen weiteren Verstärkereffekt eines Films verantwortlich, bei dem wohl derzeit keiner überprüfbar darlegen kann, wie er wirklich entstand. Diese ungeklärten Umstände machen die (mediale) Veröffentlichung ethisch zum Problem.

Fotos aus Kriegen können zu Ikonen werden, Symbolkraft haben für viele ähnliche Situationen oder auch Dokument sein für ein aussergewöhnliches Ereignis.

Völkerrechtlich ist zudem grundsätzlich Zurückhaltung geboten im Umgang mit Bildern von Kriegsgefangenen. Das regeln die Genfer Konventionen (z.B. 3. Konvention, Art. 14). Gefangene dürfen nicht instrumentalisiert oder der öffentlichen Neugier ausgesetzt werden und haben ein Anrecht auf Menschenwürde, so das Internationale Komitee des Roten Kreuzes IKRK. Es ist dafür zuständig, solche Verstösse zu kontrollieren, und ist als Vermittler zwischen den Kriegsparteien die eigentliche Anlaufstelle für Kriegsgefangene. Im Netz kursieren derweil Videos von russischen Soldaten, die sich ergeben haben oder gefangen wurden. Sie erzählen von Versorgungsschwierigkeiten im Vormarsch auf die Ukraine, entschuldigen sich für die Angriffe, berichten, sie würden gut behandelt. Es lässt sich kaum prüfen, wie echt das ist. Auch weil unklar ist, welche Risiken dann etwa den Familien der Betreffenden in Russland drohen, sollten solche Bilder und Filme nicht geteilt werden – eine Frage der ethischen Verantwortung der Bürgerinnen und Bürger.

TikTok als «Alptraum für die Wahrheit»

Die chinesische App TikTok hat sich im Ukrainekrieg zu einer Plattform entwickelt, auf der Wahrheit und Wahrnehmung zusehends in Bilderfluten ertränkt werden. Manche erinnern sich vielleicht an die Fernsehbilder von Raketeneinschlägen im Golfkrieg 1991, die wie Lichtblitze einschlugen. Der französische Soziologe Jean Baudrillard legte damals in seinem Essayband «The Gulf War Did Not Take Place» dar, wie diese Art der Bilder, die unter anderem von Nachtsichtgeräten stammten, die Illusion erzeugten, der Krieg sei gar nicht wirklich, sondern ein Spiel. Die App TikTok setzt dies im Ukraine-Krieg in Hochpotenz fort und erweist sich, so der britische Journalist Chris Stokel-Walter, als perfekt gestaltet für einen Krieg und als «Alptraum für die Wahrheit».

User schwimmen in einen immersiven Strom knalliger Inhalte, der Algorithmus versorgt sie mit den Videos, die sie wollen, monopolisiert ihre Aufmerksamkeit. Der Hunger auf Kriegsvideos eskaliert: Videos mit dem Hashtag #Ukraine wurden in den ersten Kriegstagen milliardenfach geteilt; der Krieg hat TikTok zu einer vielgefragten Informationsquelle und Austauschplattform gemacht.

Tiktok ist einfach: Videomaterial von vor Ort lässt sich rasch, einfach und weit streuen, Töne oder Musik sind leicht hinzuzufügen oder zu entfernen; Manipulationen sind ein Kinderspiel. Aus dem Zusammenhang gerissene Bilder von Leichen, die sich angeblich noch bewegen und die belegen sollen, dass der Krieg in der Ukraine ein Schwindel sei? Was soll das? Extrem erfolgreich: Ein Soldat, der Michael Jacksons Moonwalk tanzt.

TikTok liefert ein Dauerfeuerwerk an Kriegsinhalten. Der Algorithmus bedient eine Art Eskalationslogik: Man wischt sich von einem Extrem ins nächste, von Mörsergranaten zu einer Atombombe, die angeblich über Kiew detoniert sein soll. Krieg wird zur Unterhaltung, zur Quasi-Simulation, zum Beinahe-Computerspiel, die Grenzen zwischen Fiction und Non-Fiction verwischen, Bilder kommen und gehen – Kriterien wie Kontext oder Relevanz oder Deutungsrahmen existieren nicht mehr.

Fotos aus Kriegen können zu Ikonen werden, Symbolkraft haben für viele ähnliche Situationen oder auch Dokument sein für ein aussergewöhnliches Ereignis. Historische Beispiele sind der tödlich getroffene Soldat im spanischen Bürgerkrieg (Robert Capa), das nach einem Napalmangriff in Vietnam weglaufende Mädchen (Nick Ut), der Mann, den der Polizeichef von Saigon auf offener Strasse erschiesst (Eddie Adams). Bilder wie diese können auch die Kraft entwickeln, das Gewissen der Öffentlichkeit zu erschüttern und Diskussionen anzuheizen. James Nachtwey, der auch wegen der Bilder aus Vietnam beschloss, selbst Kriegsfotograf zu werden, erklärt im vom Schweizer Regisseur Christian Frei gedrehten Porträtfilm «War Photographer», dass ein Journalist, der sich in eine Kriegszone begebe, eine besonders bedeutsame Form von Journalismus betreibe. Kriegsreportagen, so findet er, sollen berühren, die Polirtik zum Handeln antreiben und die Bevölkerung betroffen machen.

Emotionen können ein ethisch orientiertes Abwägen stärken, aber auch Instrumente für unethisches Handeln sein.

Professionelle journalistische Fotografie erschöpft sich nicht im Abbild, sondern in der gekonnten Verknüpfung von Erzählung und Relevanz. Es ist – wie auch textliches Erzählen – «Emotional Labor» (Emotionsarbeit). Wir erleben eine Art «Iconic Turn», eine ikonische Wende, im Journalismus: weg von der lange im Informationsjournalismus üblichen Überzeugung, Seriosität und Emotion stünden zueinander im Widerspruch, und hin zu einem (verantwortungs-)bewussten Einsatz von Emotion als wichtige journalistische Arbeitsroutine. Diese Wende ist auch eine Reaktion des «Systems Journalismus» auf eine affektive Gesellschaft mit sozialen Medien, die in ihrem Kern Emotionsmedien sind. Emotionen gehörten stets zu unserem Leben dazu, ihre Rolle in der journalistischen Praxis und in der Medienethik ist bedeutsam: Emotionen können ein ethisch orientiertes Abwägen stärken, aber auch Instrumente für unethisches Handeln sein. Einfühlungsvermögen ist unabdingbar, auch in der Kriegsberichterstattung.

Einer, der diese Anforderung trefflich erfüllt, ist der Fotograf Emilio Morenatti. Er ist ein Chronist der Gefühle, ein Meister der Ästhetik des Grauens. Ein Porträt in der «NZZ am Sonntag» beschreibt, wie sich der Spanier über das eigene Schicksal, über die eigene Verletzlichkeit Zugänge zu Menschen und Situationen verschafft. Seine Empathie, so zitierte er Morenatti, gebe ihm die Freiheit, gewisse Grenzen zu überschreiten. Ein Schlüsselereignis war eine eigene Leidenserfahrung: Bei der Explosion einer improvisierten Sprengfalle verlor er 2009 in Kandahar in Afghanistan sein linkes Bein unterhalb des Knies. Morenatti fotografiert Gefühle: Den Abschiedskuss eines Paars an der Zugtür am Bahnhof in Kiew. Den Vater, der seine Handflächen ans Zugfenster presst, um sich von seiner fünfjährigen Tochter zu verabschieden, die schon im Zug sitzt. Endlose Autoschlangen mit Menschen, die die Stadt auf diesem Weg verlassen wollen und nicht vorankommen. Menschen, die nach einem Bombenanschlag schauen, was übriggeblieben ist.

Ganz anders der ukrainische Fotograf Evgeniy Maloletka. Er hält die Kamera auch auf Wunden, geht nahe ran. Seine Fotos dokumentieren, wie in Mariupol Leichen in ein Massengrab geworfen werden. Social Media nutzt er, um – hinter einem Warnhinweis – eine massive Gesichtsverletzung zuzumuten, die schwer auszuhalten ist und wohl kaum in publizistischen Medien veröffentlicht wird.

Es gibt kein Schwarz-Weiss, sondern stets Bandbreiten zwischen jenen, die mehr zumuten, und jenen, denen vieles zu viel ist.

Kriegsreporter und Kriegsreportinnen sehen weit mehr Brutalität als sie publizieren. Abgerissene Köpfe, zerfetzte Gesichter, abgesprengte Gliedmassen: Es gibt Bilder, die wir als Tabu empfinden. Was wir uns zumuten wollen, verändert sich. Was zu Beginn seines Berufslebens noch in Fernsehbeiträgen zeigbar war, würde heute nicht mehr gesendet werden, beschreibt der erfahrene Kriegsreporter Kurt Pelda. Er ist zurzeit im Auftrag der «Weltwoche» in der Ukraine. In einem Interview für das «Handbuch politischer Journalismus» erklärt Pelda zur Frage, wie authentisch das Bild sei, das uns die Kriegsberichterstattung heute liefert, ausserdem: «Wir sind zu korrekt, übertreiben es damit, immer noch weniger von der Brutalität zeigen zu wollen oder zu sollen. Damit sieht das, was im Krieg passiert, zu harmlos aus. Wir zeigen Hitler und Pol Pot, aber keinen der Kopfabschneider in Syrien, weil wir ihn damit ja verherrlichen könnten; das finde ich verquer.» Der deutsche Fotograf Christoph Bangert veröffentlichte einen Teil seiner in Kriegsgebieten gemachten Bilder in einem kleinen Buch, das er «War Porn» nennt. Keines der dort veröffentlichten Bilder wurde in einem journalistischen Medium veröffentlicht. Dabei seien es Abbilder der Realität, sagt er in einem «Spiegel»-Interview. Um Krieg zu begreifen, bedürfe es der blutigen Bilder.

Was in journalistischen Medien an Bildveröffentlichungen als zumutbar gilt, ist ein Entscheidungsprozess in mehreren Etappen. Die Fotografinnen und Fotografen treffen die Vorauswahl: Was sehen sie, was fotografieren sie, was davon reichen sie an die Redaktionen weiter? Dort überlegen Redaktorinnen und Redaktoren, was sie aus welchen Gründen zeigen und wo gegebenenfalls Wörter reichen müssen: Enthauptete Soldaten muss man nicht abbilden, um zu erfahren, dass ihr Kopf weg ist. Es gibt kein Schwarz-Weiss, sondern stets Bandbreiten zwischen jenen, die mehr zumuten, und jenen, denen vieles zu viel ist. Entscheidend und ein Zeichen für Professionalität ist es, nachzudenken, ehe man veröffentlicht. Und so wie Juristen die Verfassung kennen sollten, müssen Journalisten und Journalistinnen die Grundzüge der Berufsethik kennen und obligatorisch in der Ausbildung trainieren. Bei sensiblen Entscheidungen wie den Bildern aus Irpin sollten Medien schon der journalistischen Glaubwürdigkeit wegen ihre Abwägungen gegenüber dem Publikum transparent machen. Die alte «Frühstückstisch-Testfrage» – Würde ein Bild jemanden empören, der die Zeitung beim Frühstück aufschlägt? – hat ausgedient.

Bild: Keystone-SDA