von Benjamin von Wyl

SRF setzt auf lineares Jugendradio

Mit dem Motto «Klima aber auch Kardashians» startet «SRF Virus» nochmals neu als Radiosender – nachdem er zuletzt als Schmalspurprogramm noch um die 20’000 Leute erreichte. Warum? Mit Radio erreiche man zu geringen Kosten viele Junge.

Das Radio gehört nicht ins Altersheim. 590’000 Menschen zwischen 15 und 30 hören in der Deutschschweiz täglich eine Viertelstunde Radio. «Ein beträchtlicher Teil von ihnen kann ‹Virus› erreichen – also probieren wir es nochmals», sagt Alexander Blunschi, der bei SRF die Gesamtverantwortung für «Radio SRF 3» und «Virus» trägt. Menschen zwischen 18 und 30 zahlen Serafe-Gebühren – SRF will für sie da sein. Darum gibt es für «SRF Virus»“ rel=“noopener“ target=“_blank“>«SRF Virus» nochmals einen Neustart. Es ist der letzte Anlauf als linearer Radiosender.

Es verwundert, dass SRF im Jahr 2022 eine Radio-Offensive für die junge Zielgruppe startet. Doch was Blunschi über das neue «SRF Virus» erzählt, klingt vielversprechend: Ein neues Team, das mit viel Freiheiten gestaltet. Ein Sender, der zahlreichen SRF-Formaten, die es momentan nur auf Social Media gibt, eine Heimat bietet. Der Anstoss für den neuen Anlauf sei aus der Marktforschung gekommen, schildert Blunschi. «Die Ergebnisse zeigen, dass man mit dem Medium Radio viele Junge mit verhältnismässigen Mitteln erreichen kann.»

Die Frage lautet nicht «Wieso lanciert SRF 2022 ein lineares Jugendradio neu?», sondern «Warum erst jetzt?».

Den «SRF Medientrends 2019» kann man entnehmen: 84 Prozent der 15- bis 29-Jährigen, die mit dem Auto unterwegs sind, hören Radio. 65 Prozent schalten das Radio auch zuhause ein und 42 Prozent bei der Arbeit. Schaut man sich diese Zahlen an, lautet die Frage nicht mehr «Wieso lanciert SRF 2022 ein lineares Jugendradio neu?», sondern «Warum erst jetzt?». Nur die wenigsten der 590’000 täglichen Radio-Hörer:innen unter 30 schalteten «SRF Virus» ein: In den letzten Jahren erreichte «Virus» noch 21’000 bis 25’000 Hörer:innen. Weniger als fast alle privaten und öffentlich-rechtlichen Sender, sogar weniger als das rätoromanische RTR.

«SRF Virus» setzte aufs Netz statt auf Radio. Bereits vor fünf Jahren produzierte die Marke erfolgreich Webserien: Den «True Talk», in dem Menschen, denen wegen bestimmter Merkmale oft Vorurteile und Stereotypen begegnen, Klartext sprechen. Dessen zweite Staffel erreichte deutlich mehr als 2,5 Millionen Videostarts. Manche Formate gehörten nur lose zu «Virus» und setzten mit der Zeit vor allem auf eigene Kanäle – etwa die Webvideo-Satire «Zwei am Morge», deren letzte Folge diese Woche lief.

Social-Media-orientierte Jugendmedien sind schnelllebig, doch gerade öffentlich finanzierte Medien hätten die Planungssicherheit, Formate zu schaffen, die Trends und Plattformen überdauern. Sie könnten eine Generation beim Älterwerden begleiten. Dass es geht, zeigt «STRG_F» in Deutschland. Das NDR-Rechercheformat für ein junges Publikum gewinnt seit vier Jahren kontinuierlich Reichweite und Reputation. Bei SRF sind hingegen Social-Media-Marken, die auf die junge Zielgruppe schielen, reihenweise aufgeploppt und teilweise wieder verschwunden: «SRF Nouvo», «SRF Forward», «Unzipped», zuletzt «Impact» und «We, Myself & Why». Manche trugen das «Virus»-Logo, andere nicht. In diesem Hin-und-her entstand kaum langfristige Publikumsbindung. Klar war einzig: «Virus» steht für Schweizer Hip-Hop, szenebekannte Moderator:innen und den Live-Rap-Event «Cypher».

Immerhin 50’000 Menschen folgen der Schweizer Hip-Hop Hall of Fame, die der «Virus»-Youtube-Kanal bietet. Das «Virus»-Publikum schaltet den Radiosender anscheinend einfach nicht mehr ein. Die junge Zielgruppe holt man via Tiktok, Instagram, Spotify und Youtube. Das gilt seit dem SRF-weiten Umbau und Abbau «SRF 2024» für das ganze Unternehmen. Im linearen Radio «SRF Virus» gibt es nicht mal mehr moderiertes Programm. Dort läuft fast nur Musik – nur zur vollen Stunde kommt tagsüber der Bruch: die SRF-Nachrichten.

«Kein Patent Ochsner, kein Züri West – der Sender will progressiver sein als SRF 3.»
Alexander Blunschi, Gesamtverantwortlicher «SRF 3» und «SRF Virus»

Laut Blunschi fehlten die Ressourcen, ein neues Konzept zu entwickeln und gleichzeitig das bisherige Programm weiterzuführen. Darum ist «Virus» seit vergangenem Herbst unmoderiert. Auch davor gab es nur noch von Montag bis Freitag je vier Stunden Programm mit Moderationen. Ab dem Neustart Ende Mai bietet «Virus» wochentags von 6 Uhr früh bis 19 Uhr moderiertes Programm. Musikalisch gibt es wieder mehr Vielfalt. «Die Musik wird viel breiter als bisher», sagt Blunschi. «Virus setzt auf Neuheiten und Musik aus der Schweiz.» Er gehe von einer Schweiz-Quote von 30 bis 40 Prozent pro Tag aus. «Kein Patent Ochsner, kein Züri West – der Sender will progressiver sein als SRF 3.» Man möchte den «Beat der jungen Zielgruppe» treffen. Doch das Musikkonzept sei noch nicht definitiv.

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Inhaltlich gelte im neuen Radio «Virus» das Motto «Klima aber auch Kardashians». Nachhaltigkeit-, Selbstfindungs-, LGBTQI-Themen haben ebenso Platz wie Unterhaltung, sagt Blunschi: «Das Klima kommt dabei zuerst – auch in Abgrenzung zu unseren Mitbewerbern.» Das neue Virus-Team wird David Largier leiten, der bis Sommer 2021 das Programm des Luzerner Kulturradios «3Fach» verantwortete. Als «Host» und «Content Creator» gewinnen konnte SRF unter anderem den hauseigenen Tiktoker Flavio Stucki, Mira Weingart von «Radio Pilatus», Stephanie Brändle von «Radio Top», Younes Saggara von «Radio Virgin» und Hip-Hop-Künstlerin Cachita, die bürgerlich Gabriela Mennel heisst. Cachita habe «noch keine Sekunde» Radio gemacht, andere sind gleichermassen Radio- wie Plattformprofis. Younes Saggara erreicht auf Tiktok mehr als 250’000 Follower:innen. Diese Follower:innen könnten «Virus» künftig Traumzahlen bescheren, wenn die sich in den Radio-Stream klicken. Dieses neue Kernteam produziert dabei für den Tag und aus dem Tag heraus.

Die verschiedenen Online-Formate erhalten mit dem neuen «Virus» eine Art Heimatsender.

Die jetzigen «Virus»-Kanäle auf Social Media werden als «SRF Bounce» weiterhin dem Schweizer Hip-Hop frönen und mit einer regelmässigen Sendung im Radio vertreten sein. Reportagen und Hintergrundinhalte kommen von sogenannten «Fachteams» für die junge Zielgruppe. Da ist etwa «SRF We, Myself & Why», das sich an junge Frauen richtet, das Gonzo-Reportage-Format «rec.», das mit Beiträgen über satanistische Verschwörungstheoretiker:innen und «Freiheitstrychler» von sich reden machte. Das «Impact»-Team produziert ebenfalls Reportagen und beschreibt den Ansatz mit: «Die Welt ist abgefuckt aber auch aufregend und vielschichtig. Impact geht auf Reportage und will verstehen.»

Diese Formate, die gegenwärtig auf unterschiedlichen Plattformen im Netz stehen, erhalten mit dem neuen «Virus» eine Art Heimatsender, wo sie ihre Inhalte ausspielen können. Das könnte ihnen einen Boden und Publikumsbindung verschaffen. Doch Blunschi sagt unumwunden, dass auch Kostengründe für dieses Zusammenspiel mitverantwortlich seien. Ein Team, das alle Inhalte exklusiv für Virus macht, wäre zu teuer.

Dass «SRF Virus» im Jahr 2022 wieder zum ausgebauten Radiosender wird, ist eine 180-Grad-Kurve.

Wie die «Fachteams» mit dem Radio-Kernteam zusammenarbeiten, ist noch offen. Die meisten neuen Mitarbeiter:innen starten erst, am 1. April. Laut dem Gesamtverantwortlichen Blunschi sei beim neuen «Virus» ohnehin kaum was festgeschrieben. «Was ‹Klima aber auch Kardashians› dann heisst, sollen die Macher:innen ausfüllen, ausprobieren, pilotieren.» Diesen «Start-up-Groove» wollen Blunschi und David Largier dem neuen Team mitgeben. Vorgegeben ist einzig das Medium: «SRF Virus ist ein lineares Radio.» Das Projekt sei natürlich ein Wagnis. «Es hat es verdient, dass ihm die Öffentlichkeit eine Chance gibt.»

«Start-up-Groove» gehört nicht zu den Begriffen, mit denen SRF-Mitarbeiter:innen ihr Unternehmen sonst charakterisieren. Es ist aber schön, wenn das neue «Virus»-Team mit derartiger Beinfreiheit agiert. Dass «SRF Virus» im Jahr 2022 wieder zum ausgebauten Radiosender wird, ist eine 180-Grad-Kurve, ein starker Kontrast, zur Entwicklung und den Schwerpunkten der letzten Jahre. Gerüchte und Informationen dazu sorgten bei manchen älteren SRF-Mitarbeiter:innen für Verwunderung. Selbst ächzen sie unter dem Digitalisierungstempo von «SRF 2024». Sie sollen sich auf Plattformen möglichst zugänglich geben und on air – im Radio oder Fernsehen – distanziert wie eh und je auftreten. Viele SRF-Mitarbeitende schildern Szenen, die den Eindruck vermitteln, die Marktforschungsabteilung sehe die öffentlich-rechtliche Zukunft vor allem auf den Social-Media-Plattformen.

Das Projekt hat eine Chance verdient – auch von SRF selbst. Ein Wagnis kann man schnell wieder abbrechen.

Auch für das neue lineare «SRF Virus» wird die Marktforschung ins Feld geführt. Dass man mit einem Radio viele Junge erreicht, war in den Daten immer drin. Doch die SRF-Marktforschung hat sie lange anders interpretiert. In den «SRF Medientrends 2018» heisst es, wenn sich der jährliche Hörer:innenverlust «linear» fortsetze und man «ausser Acht lässt, dass sich der Trend durch das Wegsterben der älteren Generation beschleunigt und dass sich der Betrieb irgendwann nicht mehr rentiert, dann erreicht das Radio spätestens in gut 70 Jahren niemanden mehr und wäre somit tot.» Die Mediennutzung werde sich weiterentwickeln und «der Begriff ‹Radio› eventuell keinen Sinn mehr» machen.

Vier Jahre und ein paar kurvenreiche Wendungen in den Angeboten für die junge Zielgruppe später, soll es wieder lineares Radio sein, dass die Menschen bis 30 erreicht. Für die Vorgeschichte kann das neue «SRF Virus»-Team nichts. Hoffentlich lässt ihm SRF aber auch längerfristig den Raum, auszuprobieren, umzufallen und wieder aufzustehen. Das Projekt hat eine Chance verdient – auch von SRF selbst. Ein Wagnis kann man schnell wieder abbrechen.

 

«Virus» wollte immer mehr als Radio sein

Als das Jugendradio «Virus» 1999 auf Sendung ging, wollte «Schweizer Radio DRS» (heute SRF) zwei Fliegen auf eine Streich schlagen: Zum einen sollte «Virus» den jüngeren Hörer:innen eine Alternative zum alternden DRS 3 bieten, das sich damals ganz dem durchhörbaren Mainstream verschrieben hatte, um wieder auf Touren zu kommen. Zum anderen zielte «Virus» auf ein Publikum, das damals bereits der private Sender «105» am beackern war. Erster Chef des neuen Senders war der schon damals nicht mehr ganz junge François «FM» Mürner, der 16 Jahre zum Gründungsteam von DRS 3 gehört hatte.

Vor allem mit seiner Musikauswahl wollte «Virus» bei der Jugend punkten, man versprach einen «Sound, der das Lebensgefühl der ersten Multimediageneration widerspiegelt und garantiert Oldies-frei ist». Doch darauf schien niemand wirklich gewartet zu haben. In den ersten Jahren erreichte der jüngste DRS-Spross gerade mal 23’000 Hörer:innen pro Tag. Ein wichtiger Grund für die bescheidene Quote war die Verbreitung des Programms, die nur über DAB, Satellit, Kabel und Internet erfolgte – eine UKW-Frequenz gab es für «Virus» nicht. Anfänglich sahen die Verantwortlichen in den schwachen Zahlen ein Problem. Nach fünf Jahren schien sich DRS damit abgefunden zu haben, dass aus «Virus» nie ein Massenprogramm wird. Dafür pries man nun die «technologische Vorreiterrolle» des Senders und seine Funktion als «Talentschmiede». Tatsächlich fanden etliche Radiomoderatorinnen und -redaktoren via «Virus» zu anderen Programmen von DRS und später SRF. Aber vielleicht hätten sie das auch sonst geschafft.

Vor allem in den ersten zehn Jahren erwies sich die enge Kopplung an DRS 3 als Fussangel, die eine eigenständigere Profilierung behinderte. So parkierte DRS 3 seine Pop-Sendung «Sounds!» 2002 vorübergehend beim kleinen Bruder. 2006 lehnte sich «Virus» an die grosse Schwester an übernahm die Nachrichten und andere Inhalte von DRS 3. Mit dem Umzug von Basel nach Zürich rückte «Virus» 2008 auch physisch näher zum Schwestersender.

Seine besten Jahre, gemessen am Publikumszuspruch, erlebte das Jugendradio zwischen 2014 und 2017, als der Sender phasenweise gegen 150’000 Zuhörer:innen erreichte. Damit lag «Virus» aber weiterhin abgeschlagen hinter allen anderen SRF-Radios. In den vergangenen Jahren näherten sich die Zahlen wieder dem Niveau der Anfänge an. Was aber nicht heisst, dass tatsächlich nur so wenige Personen mitkriegen, was «Virus» alles macht.

Denn getreu dem Gründungsauftrag, mehr als ein Radio zu sein, verlagerte «Virus» seine Aktivitäten zunehmend ins Internet und auf Social Media. Das führte so weit, dass ab Herbst 2021 das Radioprogramm nur noch aus der Konserve kam. Damit ist bald Schluss, wenn Virus wieder ein «richtiges» Radio wird.
Nick Lüthi