Wie der russische Krieg die ukrainischen Medien schwächt
Zwischen (Selbst-)zensur und fehlendem Geld versuchen die ukrainischen Medien ihre Arbeit zu machen. Das gelingt mehr schlecht als recht. Internationale Medien informieren besser.
Als am frühen Morgen des 26. Juni 2022 ein Wohnhaus im Schewtschenko-Bezirk von Kiew durch eine Rakete schwer in Mitleidenschaft gezogen wurde, fanden sich dutzende Journalist:innen vor dem Gebäude ein. Auch Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko (Witalij Klytschko) machte sich ein Bild der Lage und US-Präsident Joe Biden sollte diesen Raketenangriff wenige Stunden später kommentieren.
Die Publikationen, die zeitnah in vielen elektronischen Medien der Landes erschienenen, zeichneten sich jedoch durch eine auffällige Lücke aus: Obwohl der Bezirk und in manchen Artikeln sogar das Viertel genannt wurde, verzichteten alle Medien auf Nennung der genauen Adresse. Dabei hätten sie diese angesichts veröffentlichter Fotos problemlos und schnell eruieren können.
Die disziplinierte Selbstzensur darf als eine der auffälligsten Veränderungen im ukrainischen Journalismus seit dem 24. Februar gelten.
Hintergrund dieser Auslassung waren unter anderem staatliche Empfehlungen: «Jede Veröffentlichung, in der Ukrainer und Medien öffentlich die genaue Adresse eines Raketeneinschlags bekannt machen, hilft dem Feind, das Feuer zu korrigieren», schrieb die Presseabteilung der ukrainischen Armee Ende März 2022. Und ein beim Verteidigungsministerium und dem Rat für nationale Sicherheit und Verteidigung (RNBO) angesiedeltes «Antidesinformationszentrum» warnte damals gar vor strafrechtlichen Konsequenzen: Die Verbreitung derartiger Informationen würde als «unmittelbare Hilfsleistung für den Feind qualifiziert, selbst wenn sie ohne Vorsatz passiert sei».
Freilich, im ukrainischen Gerichtsregister finden sich bis dato keine Indizien, dass irgendwo im Land diesbezügliche Ermittlungen gegen Journalist:innen laufen würden. Bekannt ist lediglich der Fall des niederländischen Kriegsreporters Robert Dulmers, der Anfang April 2022 für die Veröffentlichung eines Videos, das einen Raketentreffer in Odessa zeigte, ausgewiesen und mit einem Einreiseverbot belegt worden war.
Die disziplinierte Selbstzensur, deren militärische Sinnhaftigkeit zumindest im genannten Fall fragwürdig ist, darf als eine der auffälligsten Veränderungen im ukrainischen Journalismus seit dem 24. Februar gelten. In Friedenszeiten hatten sich Journalist:innen vor allem in Kiew durch eine konfrontative Praxis ausgezeichnet. Ohne dass es für die angesprochenen Medien Konsequenzen gegeben hätte, klagte Präsident Wolodymyr Selenskyj 2021 darüber, dass seine Kinder nach journalistischen Recherchen zu seinem eigenen Bewegungsprofil nunmehr stets mit Sicherheitskräften unterwegs sein müssten.
Ein grosser Teil der ukrainischen Bevölkerung zeigt sichtliches Verständnis für manche Einschränkungen in den Medien.
In der Branche selbst ist die aktuelle Selbstzensur äusserst umstritten, Kritik an ihr wird jedoch nur zurückhaltend öffentlich artikuliert. Das hat auch mit der Meinungslage im Land zu tun: Ein grosser Teil der ukrainischen Bevölkerung zeigt sichtliches Verständnis für manche Einschränkungen und wäre geneigt, Medienberichte, die dem Feind in die Hände spielen könnten, auch zu verurteilen,.
Gleichzeitig zeigen konkrete Beispiele, dass eine kritische und oppositionelle Berichterstattung selbst in Kriegszeiten nicht zu unterbinden ist. Der auf Militär- und Geheimdienstfragen spezialisierte Chefredakteur der ukrainischen Online-Zeitung «Censor.net», Jurij Butussow, brachte in den vergangenen Jahren die Staatsführung mit Enthüllungen wiederholt in Verlegenheit und lieferte sich im November 2021 mit Selenskyj einen öffentlichen Schlagabtausch. Nichtsdestotrotz ist Butussow mit Erlaubnis der Streitkräfte im Frontgebiet unterwegs und erzählt nicht nur vom Heroismus seiner Landsleute, sondern äussert auch politische Kritik an manchen militärischen Entscheidungen. «Die Ukraine ist frei und deshalb wird auch Butussow so weitermachen. Sollte ihm etwas passieren, würden am nächsten Tag sehr viele Menschen vor der Präsidentschaftskanzlei demonstrieren», kommentierte gegenüber der MEDIENWOCHE ein ukrainischer Medienmacher, der anonym bleiben wollte.
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Hervorragenden Journalismus aus der Frontregion liefern aber gerade auch mutige Journalistinnen, die sich in ihrer Berichterstattung insbesondere mit dem Leben und Leiden der Zivilbevölkerung beschäftigen. Wiktorija Roschtschyna, die für das Non-Profit-Medienprojekt «hromadske.ua» arbeitet und auch Beiträge für die unabhängige Online-Zeitung «Ukrajinska Prawda» verfasst, ging dabei wiederholt ein hohes persönliches Risiko ein: Im März 2022 wurde Roschtschyna knapp 10 Tage vom russischen Geheimdienst FSB in von Russland besetzten Berdjansk festgehalten. Das hielt sie jedoch nicht davon ab, für Reportagen die Frontlinie auch später wieder zu überqueren – etwa um Mitte Juni aus der besetzten Stadt Enerhodar zu berichten, oder um Ende Juni kurz vor dem Fall von Lyssytschansk Zivilisten in der heiss umkämpften Stadt zu interviewen.
Das Einheitsprogramm am Fernsehen zeigt auch Spots, die zur Beruhigung der Bevölkerung beitragen sollen.
Ein umfassendes Bild über die militärische Situation im Land liefern diese Reportagen jedoch allesamt nicht. Dies gilt auch für das zentrale Fernsehformat des Kriegs, der «gemeinsame Fernsehmarathon» «#UArasom» («Ukraine gemeinsam»): Die führenden private Fernsehsender «Ukrajina», «Ukrajina 24», «Inter», «1+1», «ICTV/STB» und der öffentlich-rechtliche Sender «Perschyj» gestalten mit dem staatlichen Parlamentsfernsehen «Rada» seit dem 24. Februar 2022 rund um die Uhr ein gemeinsames Programm, das auch alle diese Sender ausstrahlen. Neben der Verlautbarung offizieller Presseaussendungen und permanenten Fernsehinterviews mit Amtsträger:innen zeigt dieses Einheitsprogramm auch Spots, die zur Beruhigung der Bevölkerung beitragen sollen.
Im Zusammenhang mit der Auswahl von Gesprächspartner:innen des TV-Marathons gab es vereinzelt auch Vorwürfe von Zensur. Als Verantwortliche für dieses Medienformat gelten der hochrangige Selenskyj-Mitarbeiter Kyrylo Tymoschenko sowie Kulturminister Oleksandr Tkatschenko. Einfluss nehmen die Bürokraten informell, denn nur einer der sechs beteiligten Sender wird offiziell von staatlichen Strukturen kontrolliert.
Das anfänglich grosse Interesse am Format ist zwischenzeitlich deutlich geschrumpft. Dass die grossen Privatsender dennoch daran festhalten, wird in der Branche – abgesehen von politischen Fragen – mit Sparpolitik in Verbindung gebracht: Viele Live-Interviews und die Übernahme der Beiträge der anderen Partner ist günstiger als das Programm zu Friedenszeiten. Angesichts der drastischen wirtschaftlichen Auswirkungen des Kriegs, die auch die Besitzer der jeweiligen Sender tangieren, wären grössere Werbeerlöse derzeit kaum zu generieren.
Dem relevanten Printjournalismus scheint der Krieg den Todesstoss versetzt zu haben.
Die sich verschärfende wirtschaftliche Situation bleibt sichtlich eines der Hauptprobleme des ukrainischen Journalismus. Teure Recherchen können sich unter Kriegsbedingungen eigentlich nur noch jene Medien leisten, die wie «hromadske.ua» von ausländischen Subventionen mitfinanziert werden, oder die wie «BBC News Ukrajina» oder «Radio Svoboda» Teil ausländischer Medienunternehmen sind, oder die wie die «Ukraijinska Prawda» wirtschaftlich potente Gesellschafter hinter sich haben.
Dem relevanten Printjournalismus scheint der Krieg den Todesstoss versetzt zu haben. Nachdem die Printausgabe der seit 1994 erschienen Wochenzeitung «Serkalo Nedeli» / «Dserkalo Tyschnja» («Spiegel der Woche») bereits Ende 2019 eingestellt wurde, gibt es seit dem Kriegsbeginn auch die wichtigsten Qualitätsmagazine des Landes, das seit 2007 existierende nationalliberale Magazin «Ukrajinskyj Tyschden» («Ukrainische Woche») sowie dessen 2014 gegründete liberale Konkurrenz «Nowoje Wremja» («Neue Zeit») nur noch elektronisch. War die Produktion der Zeitungsausgaben in den ersten Kriegswochen und vor dem einstweiligen Sieg der Ukraine in der Schlacht um Kiew aus logistischen Gründen praktisch unmöglich, so dürfte Print bei einem erwarteten Schrumpfen des Bruttoinlandsprodukts um 40 Prozent auch langfristig nicht mehr zu finanzieren sein.
Die grossen US-amerikanischen und britischen Medien sind in vielen Fragen des Kriegs die relevantere Informationsquelle als ukrainische Medien.
Durch den Krieg erforderlich gewordene Einsparungen sorgten aber auch dafür, dass sich viele Journalist:innen in der Ukraine gezwungen sahen, als Assistent:innen für vergleichsweise potente internationale Medien zu arbeiten. Die Ukrainer:innen recherchierten für sie aufwendige und relevante Geschichten, die auch in ukrainischen Medien gut aufgehoben wären. Auch deshalb sind etwa grosse US-amerikanische und britische Medien in vielen Fragen des Kriegs auch aus Kiewer Perspektive die relevantere Informationsquelle als einheimische Medien.
Ähnliches gilt auch für internationale Politik und ihre Hintergründe: Das Schicksal der Ukraine wird derzeit zwar insbesondere in westlichen Hauptstädten entschieden, ukrainischen Journalist:innen fehlen im Ausland jedoch vielfach die Quellen, Kontakte und Einblicke. Sie sind in ihrer Berichterstattung über Vorgänge von nahezu existenzieller Bedeutung grösstenteils auf internationale Medien angewiesen.
Christian Müller 07. Juli 2022, 17:26
Zutreffender Bericht – mit zwei fehlenden Infos: Selenskyj hat schon vor dem 24. Februar Medien, die ihm gegenüber kritisch waren, eigenhändig stillgelegt. Und die US-amerikanischen und britischen Medien informieren absolut einäugig. Die Beschiessungen und Bombardierungen im Donbass durch die ukrainischen Militärs werden einfach totgeschwiegen – und das seit 2014. Das hat mit gutem Journalismus auch nichts mehr zu tun.
Herwig G. Höller 07. Juli 2022, 18:13
Das Thema war die Situation seit dem 24.2. und nicht was 2021 etwa mit den Medwedtuschuk-Sendern passiert ist. Nach Kriegsbeginn sahen wir keine großartigen „eigenhändigen Stilllegungen“, offensichtlich oppositionelle Medien wie https://strana.today/, https://espreso.tv/ und https://www.5.ua/ berichten laufend.