von Marko Ković

Wenn Dreadlocks das Sommerloch stopfen: Nachlese zu einer haarigen Debatte

Ein Konzertabbruch in Bern führt zu journalistischer Empörung über «kulturelle Aneignung». Im Zuge des Shitstorms keimt aber auch eine differenzierte Debatte auf. Doch wird sie auch gehört?

Die Geschichte ist hinlänglich bekannt: In einem Genossenschafts-Restaurant in Bern findet ein Reggae-Konzert mit rund vierzig Gästen statt. Einige der Gäste bekunden ihren Unmut über den Auftritt der Band und kritisieren unter anderem, dass zwei der weissen Bandmitglieder Dreadlocks tragen. Die Restaurantbetreiber sind verunsichert und brechen das Konzert ab.

Dieses Mini-Ereignis beinhaltet, objektiv betrachtet, nicht allzu viel Drama oder Spektakel. Und doch verbreitete sich die Nachricht des Konzertabbruchs wie ein Shitstorm-Lauffeuer, auf Social Media wie auch in journalistischen Medien. Auf Facebook und Twitter hagelte es tagelang empörte Posts im Sekundentakt, und bisher erschienen in deutschsprachigen Medien über 500 Beiträge zum Konzertabbruch. Die Geschichte der «zum Schweigen gebrachten Band» fand sogar Einzug in die britische Presse.

Wie kann eine kleine lokale Geschichte derart heftige Reaktionen auslösen? Der Stein des Anstosses war nicht der Konzertabbruch an sich, sondern die Ursache dafür: Die Gäste, die sich am Auftritt störten, warfen der Band kulturelle Aneignung vor. Damit ist das das Argument gemeint, dass es moralisch falsch sein könne, wenn gesellschaftlich privilegierte Gruppen kulturelle Symbole und Praktiken gesellschaftlich benachteiligter Gruppen verwenden. Besonders dann, wenn die privilegierte Gruppe die kulturellen Elemente, die sie übernimmt, kommerziell verwertet. Ein typisches Beispiel dafür wäre eine europäische Firma, die stereotypisierende Kostüme von «Indianern» verkauft, mit denen US-amerikanische Ureinwohner*innen als wildes, exotisches, primitives Volk dargestellt werden.

Das Konzept der kulturellen Aneignung impliziert, dass kulturelle Symbole spezifischen Gruppen eigen sind und exklusiv von ihnen genutzt werden dürfen.

Kulturelle Aneignung ist kein trennscharfes analytisches Konzept, sondern eine laufende Debatte, die nicht zuletzt in der Wissenschaft durchaus kritisch gesehen wird. Ein Argument dabei ist, dass die Konstellation für kulturelle Aneignung (Machtasymmetrie, Übernahme ohne Zustimmung, materieller Profit zugunsten der privilegierten Gruppe) in der Praxis weniger häufig sei, als dies von Aktivist*innen kritisiert wird. Auch das Risiko des Essenzialismus wird wissenschaftlich kritisch gesehen: Das Konzept der kulturellen Aneignung impliziert, dass kulturelle Symbole spezifischen Gruppen eigen sind und exklusiv von ihnen genutzt werden dürfen. Eine solche Prämisse entspricht aber einem starren Kulturverständnis, das politisch in ähnlicher Form von rechter bzw. rechtsextremer Seite postuliert wird. (Nach dem Schema, dunkelhäutige Menschen sollten nicht nach Europa kommen, weil sie eine andere «Kultur» hätten)

Beim Berner Konzert ging es in erster Linie um die Dreadlocks-Frisur der Musiker. Ist es kulturelle Aneignung, wenn Weisse Dreadlocks tragen?

In den zahlreichen Reaktionen auf Social Media meinten viele Menschen: Nein, natürlich nicht. Viele empörte Social Media-User gingen noch einen Schritt weiter und kritisierten, dass in Tat und Wahrheit die Idee der kulturellen Aneignung diskriminierend und rassistisch sei. FDP-Nationalrat Christian Wasserfallen beklagte auf Twitter «krasse Intoleranz» und warnte, dass das Konzept der kulturellen Aneignung von «woken links-alternativen Kreisen» als «trennendes Element missbraucht» werde. Und die Junge SVP kündigte auf Twitter an, gegen die Brasserie Lorraine Anzeige wegen Rassismus gegen Weisse zu erstatten. Die «woken Kreise», so die Partei, sollen «ruhig mal ihre eigenen Gesetze zu spüren bekommen». Gemäss der Partei ist also nicht nur kulturelle Aneignung, sondern auch die Anti-Rassismus-Strafnorm «woke». «Woke», abgeleitet von «awake» für wach, meinte ursprünglich vor allem unter Schwarzen in den USA, für gesellschaftliche Ungleichheiten und Diskriminierung sensibilisiert zu sein. Mittlerweile ist «woke» von rechtskonservativen und -reaktionären Kräften zu einem Kampfbegriff umgedeutet geworden, mit dem jede Form der moralischen Kritik an gesellschaftlichen Missständen pauschal ins Lächerliche gezogen wird.

In der Berichterstattung wurde weitgehend aber nicht kulturelle Aneignung als Problem dargestellt – sondern die angebliche Intoleranz und der vermeintliche Rassismus linker Kreise.

Parallel zum Shitstorm auf Social Media nahm in den Tagen nach dem Konzertabbruch ein Medienhype, eine durch den Konzertabbruch ausgelöste Nachrichtenwelle, seinen Lauf, und das Thema dominierte die Schlagzeilen. In der Berichterstattung wurde weitgehend aber nicht kulturelle Aneignung als Problem dargestellt – sondern die angebliche Intoleranz und der vermeintliche Rassismus linker Kreise, die den Vorwurf der kulturellen Aneignung machen.

So kritisiert Frank A. Meyer im «Sonntagsblick», die linken «Säuberer» würden sich in «Neo-Apartheid» üben und eine «faschistoide Kulturideologie» verfechten. Was im Kontext kultureller Aneignung genau «Neo-Apartheid» und «faschistoid» sein soll, erklärt Meyer nicht. Eine wichtige Lücke in Meyers Text, denn Apartheid und Faschismus unterdrücken Minderheiten, und im Fall von Bern ging es im Gegenteil um einen womöglich fehlgeleiteten Versuch, sich für Minderheiten einzusetzen.

Ähnlich wie Meyer kommt auch Martin Senti in der «Neuen Zürcher Zeitung» zum Schluss, dass der Vorwurf kultureller Aneignung in Tat und Wahrheit «kulturelle Apartheid» sei, und die «Woke-Bewegung» sich in ihren «inneren Widersprüchen» verheddere: Man darf «frei das jeweils gefühlte Geschlecht wählen […], nicht aber die Frisur?». Eine Erklärung dafür, wie Geschlechtsidentität mit dem Konzept kultureller Aneignung zusammenhängen soll, und was daran «kulturelle Apartheid» ist, bleibt Senti schuldig.

Viele der journalistischen Kommentare zum Berner Konzertabbruch sind eine zwar wortreiche, inhaltlich aber nur leidlich mit Argumenten untermauert.

Ebenfalls in der «Neuen Zürcher Zeitung» schreibt David Signer, der Vorwurf kultureller Aneignung sei gefährlich, weil er «rassistisches Denken» fördere. Wie tut er das? Indem Kultur mit Hautfarbe gleichgesetzt werde, was eine «rassistische Kategorie» sei. Eine genauere Erklärung oder einen Beleg dafür, dass im Rahmen des Konzeptes der kulturellen Aneignung Kultur mit Hautfarbe gleichgesetzt werde, findet sich in Signers Text nicht.

Jean-Martin Büttner findet im «Tages-Anzeiger», der «Zensurentscheid von Bern» – eine Beschreibung, die so klingt, als ob ein staatliches Organ und nicht die Konzertveranstalter das Konzert abgebrochen hätten – reihe sich ein in einen «linken Rigorismus», der für Toleranz eintrete, diese aber mit einer «wachsenden Intoleranz» einfordere. Was sind weitere Beispiele für diesen Rigorismus? Die üblichen Verdächtigen: Gendergerechte Sprache, «schrilles Gerechtigkeitsverlangen von Transleuten» (was das sein soll, erklärt Büttner nicht) sowie «eine Mentalität, die keine anderen Meinungen akzeptiert» (was Büttner unter dieser «Mentalität» versteht, erklärt er nicht).

Viele der journalistischen Kommentare zum Berner Konzertabbruch sind eine zwar wortreiche, inhaltlich aber nur leidlich mit Argumenten untermauerte Fortführung der Social-Media-Empörung. Wer den Vorwurf kultureller Aneignung mit Apartheid, Rassismus oder gar Faschismus gleichsetzt, demonstriert in erster Linie eine für journalistische Verhältnisse alarmierende Ignoranz.

Journalismus muss die Debatte entschleunigen und das Problem kritisch und wertend, aber unaufgeregt behandeln.

Doch nicht alle journalistischen Analysen zum abgebrochenen Konzert schlugen in die gleiche empörte Kerbe. Nachdem der Zenit des Medienhypes nach den ersten Stunden und Tagen langsam erreicht war, erschienen auch Beiträge, die das Thema der kulturellen Aneignung zwar immer noch kritisch, aber differenzierter diskutieren. Zum Beispiel ein Interview von Andrea Fopp bei «Bajour». In dem unaufgeregten Gespräch erklären die Tänzerin, Choreographin und Aktivistin Anna Chiedza Spörri sowie der Musikredaktor, Reggae-Kenner und ehemaliger Rasta-Träger Lukie Wyniger, warum Bedenken rund um kulturelle Aneignung angebracht sein können. Und Fopp schlägt ein Gedankenexperiment vor: Was, wenn nicht-jüdische Klezmer-Musiker eine Kippa tragen würden? Die Analogie geht nicht ganz auf, denn anders als die jüdische Kippa kommen Dreadlocks historisch in unterschiedlichen kulturellen Kontexten vor und sind entsprechend weniger spezifisch kulturell aufgeladen.

Auch der Musikredaktor Ane Hebeisen nimmt in den Tamedia-Zeitungen den Shitstorm zum Anlass, den Vorwurf kultureller Aneignung kritisch, aber konstruktiv zu analysieren. Er kommt zum Schluss, dass einzelne gut gemeinte Aktionen wie in der Brasserie Lorraine rein symbolisch sind und am eigentlichen Problem – eine jahrzehntelange kulturelle Plünderung unter anderem durch und zugunsten der westlichen Musikindustrie – rein gar nichts verändern und schlimmstenfalls sogar den Blick auf den strukturellen Charakter des Problems versperren.

In der «WOZ» analysiert Kaspar Surber die weiter oben angesprochene kontrovers geführte akademische Debatte zu kultureller Aneignung. Er liess die Historikerin Jovita dos Santos Pinto zu Wort kommen, die erklärt, dass kulturelle Aneignung nur dann potenziell vorliegt, wenn kulturelle Symbole einer benachteiligten Gruppe durch privilegierte Gruppen kommerziell verwertet werden. Auch verweist Surber auf das Buch «Kulturelle Aneignung» des Sozialwissenschaftler Lars Distelhorst, in dem die Gefahr der impliziten Essenzialisierung von Kultur im Rahmen der Idee kultureller Aneignung kritisch thematisiert wird.

Ein kleiner Funke reichte, um einen internationalen Skandal heraufzubeschwören, der schlicht nicht hält, was die Schlagzeilen versprechen.

Was bleibt nach diesem Shitstorm und Medienhype über kulturelle Aneignung? Zum einen die Erkenntnis, dass nach Jahren der «Cancel Culture»- und «Wokeness»-Empörungsbewirtschaftung, die nicht zuletzt in rechtskonservativen Medien und Publikationen stattfindet, schon ein kleiner Funke reicht, um einen internationalen Skandal heraufzubeschwören, der schlicht nicht hält, was die Schlagzeilen versprechen.

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Man kann es Medienschaffenden grundsätzlich nicht verübeln, in den vielleicht etwas ruhigeren Sommermonaten eine Geschichte, die grosses Potenzial für Skandalisierung hat, mit Kusshand anzunehmen. Doch Journalismus hat bei moralischen Fragestellungen nicht die Aufgabe, das unmittelbare Bauchgefühl der wütenden Mehrheit zu reproduzieren und damit das Tempo der Empörung zu erhöhen. Journalismus muss die Debatte im Gegenteil entschleunigen und das Problem kritisch und wertend, aber unaufgeregt behandeln.

Mit anderen Worten: Wer reflexartig und ohne Argumente «Apartheid!» und «Faschismus!» schrei(b)t, entkräftet nicht die Haltung der Kritisierten (die durchaus kritisiert werden soll), sondern demonstriert lediglich intellektuelle Faulheit, intellektuelle Inkompetenz oder beides.

Gleichzeitig hat die Empörungsdynamik des Shitstorms und Medienhypes eine differenziertere Debatte vielleicht sogar befruchtet. Jenseits der hohen Wellen der Empörung gab es durchaus auch Analysen und Aufarbeitungen, die sich dem Thema der kulturellen Aneignung kritisch, aber inhaltlich fundiert widmen. Analysen und Aufarbeitungen, die es ohne den ursprünglichen, zornigen Anti-Wokeness-Aufschrei wohl nicht gegeben hätte. Der Shitstorm war bildlich gesprochen also vielleicht so etwas wie der Dünger, der eine seriösere Diskussion aufkeimen liess.

Klingt fast nach einem Happy End. Nur stellt sich die Frage, was die öffentliche Diskussion und die öffentliche Meinung letztlich stärker geprägt hat: Das leise Abwägen von Argumenten und Sichtweisen oder der laute Krach des Shitstorm.

Bild: Unsplash/Karsten Winegeart