Medienkritik nach Precht und Welzer: Skandalisierung als Verkaufsmotor
Die Bestsellerautoren Richard David Precht und Harald Welzer kritisieren in ihrem neuen Buch ein Mediensystem, von dem sie selbst profitieren: Die öffentliche Erregung über das vermeintliche Skandalwerk kurbelt den Verkauf kräftig an.
Es gibt nicht viele Bücher, die bereits Wochen, ja sogar Monate vor Erscheinen besprochen werden. Bei «Die vierte Gewalt – Wie Mehrheitsmeinung gemacht wird, auch wenn sie keine ist» von Richard David Precht und Harald Welzer war genau das der Fall. Vom Verlag mit markigen Worten angekündigt («Meinungsmache!» «Einseitigkeit!» «Zerfall der Gesellschaft!»), erschien bereits im Juli ein erster rezensionsähnlicher Beitrag im Berliner «Tagesspiegel», wenige Wochen später folgte ein grosses Interview in der Branchenpublikation «Börsenblatt», wo die Autoren über ihr neues Buchprojekt plaudern durften.
Nachdem der TV-Philosoph Precht von einer «Selbstgleichschaltung der Medien» schwadroniert hatte, durfte man sich auf eine gepfefferte Medienschelte gefasst machen. Nun liegt das Werk vor. Was die beiden Bestsellerautoren auf 288 Seiten zusammengeschrieben haben, bewegt sich weitgehend entlang bekannter Argumentationslinien. Die Kritik an Boulevardisierung, Erregungsökonomie oder Clickbaiting hat man schon oft gelesen, und auch der Befund einer «Inkongruenz von öffentlicher und veröffentlichter Meinung» ist nicht neu. Die innovative Leistung der Autoren besteht einzig darin, dass sie für diese Phänomene neue Wortmünzen prägen («Gala-Publizistik», «Stock-market-Publizistik», «Cursor-Journalismus»).
Zitatfetzen aus Zeitungsartikeln und Alltagsbeobachtungen aus dem Internet werden mit Allgemeinplätzen und bekannten Studien zu einer diffusen Medienkritik zusammengeschustert.
Lediglich drei Monate hatten sich Precht und Welzer Zeit genommen für das Projekt, und das merkt man dem Buch leider an. Vieles ist mit heisser Nadel gestrickt. Zitatfetzen aus Zeitungsartikeln und Alltagsbeobachtungen aus dem Internet werden mit Allgemeinplätzen und bekannten Studien zu einer diffusen Medienkritik zusammengeschustert; das obligate Böckenförde-Diktum, wonach der Rechtsstaat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht schaffen kann, das in jedem Welzer-Vortrag vorkommt, darf in dem Werk natürlich nicht fehlen.
So krawallig, wie der Verlag das Buch angekündigt hatte, ist es bei Weitem nicht: Die steile These von der «Meinungsmache», wird schon in der Einleitung relativiert, die bissige Formulierung von der «Selbstgleichschaltung» wurde in der Verlagsankündigung zu «Selbstangleichung» abgemildert und taucht im Buch erst gar nicht auf. Dort ist lediglich vom «Gleichklang» die Rede. Zwar ist das Geraune vom angeblichen «Cursor-Journalismus», der die moralische Richtung der Berichterstattung vorgibt, kaum zu überhören, aber das Autorenduo gibt sich immerhin redlich Mühe, sich von «Schwurblern» und «Querdenkern» abzugrenzen.
Die prominenten Autoren, die beide Erfahrung im Journalismus haben – Precht leitete in den 1990er vorübergehend die Medienseite der «Zeit», Welzer arbeitete vor seiner Universitätskarriere als Radiojournalist für Technik und Wissenschaft beim NDR in Hannover – sind Medienprofis genug, um zu wissen, dass es eine pauschale und wenig fundierte Medienschelte bei den von ihnen kritisierten «Leitmedien» nicht sonderlich gut ankommt.
Was Precht und Welzer wortreich kritisieren nutzen sie selbst, um den Verkauf ihres Buchs zu pushen.
Viel interessanter als der Inhalt des Buchs ist daher seine Rezeption. FAZ-Redaktor Harald Staun kommentierte, der Auftritt der beiden Herren sei «ein Experiment, das testen soll, wie empfänglich die von ihnen so genannten Qualitätsmedien inzwischen für unterkomplexe Empörung sind, solange sie mit einer gewissen Prominenz daherkommt». Weiter schreibt er: «Der grösste Coup der Autoren aber dürfte sein, dass sie ihre abweichende Meinung über die Aufgabe der Journalisten geschickt an den Kontrollen der Medien vorbeischmuggelten, indem sie sie als unumstössliches Prinzip verkleiden.» Auch Michael Angele, Chef der Wochenzeitung «Freitag», wunderte sich über die Doppelbödigkeit der Medienkritik. Auf seiner Facebook-Seite schrieb er: «Die beiden schaffen es, eine ultraradikal klingende Medienkritik zu formulieren, ohne es sich konkret auch nur mit einem einzigen ‹Leitmedium› zu verscherzen. Auch das muss du erst mal hinkriegen. Bravo!»
Das Buch ist der performative Beweis für die darin beklagte Erregungsindustrie. Dem Autorenduo gelingt es, eine als Skandalwerk getarnte Allerweltskritik in den Agenda-Setting-Prozess einer digitalen Aufmerksamkeitsökonomie einzuschleusen und zum Gesprächsthema zu machen. Was Precht und Welzer wortreich kritisieren – die moralische Entrüstung, die öffentliche Erregung, die «Echokammern einer Szene, die stets darauf blickt, was die oder der jeweils andere gerade sagt oder schreibt» – nutzen sie selbst, um den Verkauf ihres Buchs zu pushen.
Der absehbare Erfolg von Precht und Welzer belegt auch die Selbstreferenzialität eines Mediensystems, das jenen Themen und Personen Prominenz verschafft, die ohnehin schon prominent sind.
Man muss wissen, dass pro Jahr rund 60’000 neue Bücher auf dem deutschen Markt erscheinen. Wer in der Flut der Neuerscheinungen nicht sichtbar ist, dessen Buch wird nicht gekauft. Verlage versuchen daher, mit pointierten Vorschautexten und auffälligen Covern für Aufmerksamkeit zu sorgen. Der Verkauf eines Buchs umfasst viel mehr Marketing als der Verkauf einer Zeitung. Vertreter müssen Buchhändler überzeugen, dass sie Bücher aus dem Programm in die Regale aufnehmen. Die Rezeptur des S. Fischer-Verlags für das «Die vierte Gewalt» ist denkbar einfach: Man nehme zwei Bestsellerautoren, gebe ein Aufregerthema («Meinungsmache!») dazu und würze das Ganze mit einem schmissigen Vorschautext. Den Rest erledigen die Medien selbst. Nicht immer geht dieser Plan auf, doch bei Precht und Welzer, die so verlässlich Bestseller produzieren wie die «Bild»-Zeitung Schlagzeilen, scheint er zu funktionieren. Der kalkulierte Tabubruch der «Selbstgleichschaltung» provozierte eine hitzige Twitter-Diskussion, die, wie Precht und Welzer sagen würden, «leitmedial verstärkt» wurde.
So gesehen trägt die Systemkritik auch zur Erhaltung des Systems bei, weil der Gegenstand in eben jenen Echoräumen verhandelt wird. Dort absorbieren ein paar wenige Autoren den Grossteil der Aufmerksamkeit, während der Debattenraum für Sachbücher mit geringerer Auflage – die «Süddeutsche Zeitung» etwa druckt aufgrund von Sparmassnahmen Besprechungen des Ressorts «Das Politische Buch» nur noch alle 14 Tage – immer kleiner wird.
Der absehbare Erfolg von Precht und Welzer belegt auch die Selbstreferenzialität eines Mediensystems, das jenen Themen und Personen Prominenz verschafft, die ohnehin schon prominent sind. Wenn Precht und Welzer morgen ein Kochbuch schreiben würden, würde das sicherlich reissenden Absatz finden. Doch die Glaubwürdigkeit einer Medienkritik zweier Protagonisten, deren Bekanntheitsgrad sich nicht zuletzt durch TV-Auftritte verdankt, ist ungefähr so hoch, wie wenn sich ein Fussballprofi über den engen Terminplan des Spielbetriebs beschwert, um am Ende doch wieder in der Champions League aufzulaufen. Er ist Teil des Systems.
Eines kann man den Autoren nicht absprechen: Ihre Bücher haben immerhin einen gewissen Unterhaltungswert.
Precht und Welzer spielen das Spiel genüsslich mit. Wenn sie sich über Verlagsangebote von «Wein und Kunst oder Flusskreuzfahrten mit Harald Martenstein» mokieren, dann kritisieren sie ein Geschäftsmodell, von dem sie selbst profitieren mit ihren regelmässigen Gastbeiträgen in eben jenen Medien, die sie nun so laut kritisieren. Wenn die Autoren sich über Talkshow-Gäste auslassen, die zum gleichen privilegierten Teil der Gesellschaft gehören wie sie selbst, dann wird das Ganze unfreiwillig komisch. Das symbiotische Verhältnis zwischen Zeitungs- und Buchverlagen, das ihr Werk an die Verkaufsspitzen katapultieren wird, thematisieren Precht und Welzer natürlich nicht.
Vielleicht muss man das Buch einfach als Meta-Ironie auf den Medienbetrieb lesen. Denn eines kann man den Autoren nicht absprechen: Ihre Bücher haben immerhin einen gewissen Unterhaltungswert.
Axel Dünsch 30. September 2022, 09:03
Statt sich sachlich und selbstreflektierend mit den Thesen, Argumenten und Kritiken auseinanderzusetzen, und ja, auch Gegenkritik sei dabei gestattet, wird in diesem Artikel exakt so simplifizierend reagiert, wie es eben in betrachteten Buch von den beiden Autoren dargestellt wird. Es wirkt, als sei jemand beleidigt und betroffen. Doch wenn Sie sich die Kommentarspalten der Leitmedien online durchlesen, dann werden Sie feststellen, dass die Beschreibungen von Precht und Welzer mehr als zutreffend sind, was die öffentliche Wahrnehmung betrifft.
Adrian Lobe 30. September 2022, 09:08
Lieber Herr Dünsch,
vielen Dank für Ihre Kritik. Was finden Sie an dem Artikel „simplifizierend“?
Beste Grüße
Adrian Lobe
Jan Holler 03. Oktober 2022, 12:00
Wenn Sie sich ein Bild machen wollen, wie Precht oder Welzer auf Kritik reagieren, dann hören Sie sich die Sendung von Lanz im ZDF vom 29.9.22 an. Den beiden wird einige Male der Spiegel vorgehalten, die mangelnde oder fehlende Recherche vorgeworfen. Sie haben dem argumentativ nichts entgegen zu setzen, sondern attackieren Melanie Amann vom „Spiegel“ und Robin Alexander von der „Welt“ und dann sogar das: „Macht keinen Sinn, mit Ihnen zu reden“ und Nieman wurde vorgeworfen, dass sie nichts verstünde.
Die „öffentliche Wahrnehmung“ gibt es nicht. Es gibt nur individuelle Wahrnehmung. Auch das wird in der Sendung thematisiert. Umgekehrt gestattet Precht Niemann nicht das Recht zu, das Buch so wahrzunehmen, wie sie es tut.
Der Artikel hier simplifiziert nichts, sondern stellt umgekehrt sehr gut dar, wie die Autoren die Mechanismen der Medien benutzen, die sie im Buch kritisieren.