Das zweite Radio-Jahrhundert beginnt: Fragen an die Zukunft
Am 14. Oktober 1922 konnten die Passagiere auf einem Flug zwischen Paris und Lausanne erstmals durch den Äther gesendete Musik zur Unterhaltung an Bord empfangen. Diese Übertragung vor 100 Jahren gilt als Geburtsstunde des Radios in der Schweiz. Wie damals weiss man auch heute nicht genau, wohin sich das Radio entwickeln wird.
Man soll die Feste feiern, wie sie fallen, sagt ein Sprichwort. Das sagte man sich offenbar auch dies- und jenseits des Röstigrabens. Während in der Westschweiz der 14. Oktober 1922 als Geburtsstunde des Radios in der Schweiz gilt, nimmt das Deutschschweizer Radio den 26. Oktober zum Anlass, um seiner Ursprünge zu gedenken. Die Episode liefert eine wichtige Erkenntnis: Es gibt in der Schweiz nicht «die» und nicht «eine» Radiogeschichte. Die Entwicklung des Radios und der Blick darauf sind stark regional geprägt. Deutlich zeigt das auch der aktuelle Dokumentarfilm «Il était une voix – 100 ans de radio» vom Westschweizer Fernsehen RTS. Wer nicht wüsste, dass die Schweiz aus mehreren verschiedensprachigen Landesteilen besteht, die alle ihre eigene Radiokultur und -geschichte pflegen, könnte glatt den Eindruck gewinnen, Radio sei einzig ein Phänomen der Romandie.
Umgekehrt liesse sich die Zurückhaltung beim Deutschschweizer Radio, seinen 100. Geburtstag gebührlich zu feiern, damit erklären, dass die Ursprünge in der Westschweiz liegen. Während Radio RTS mit einer sommerlichen Sendetour durch die ganze Romandie und einem Tag der offenen Tür im Lausanner Studio das Jubiläum ausführlich beging, brachte Radio SRF im vergangenen Jahr eine Serie mit «Perlen aus dem Archiv» und wird nun Ende Oktober noch ein bisschen «weiterfeiern», unter anderem mit der Wiederausstrahlung der gleichen Archivperlen. Die SRG als gesamtschweizerisches Unternehmen verzichtet auf eigene Aktivitäten zum runden Radiogeburtstag.
Vieles von dem, was Radio in den ersten 100 Jahren ausgemacht und definiert hatte, steht heute in Frage.
Naturgemäss richtet sich der Blick an runden Geburtstagen zurück in die Vergangenheit, auf das Erlebte und Erreichte. Bei einem so alten Jubilar wie dem 100-jährigen Radio sollten aber genauso die weiteren Lebensaussichten interessieren. RTS-Direktor Pascal Crittin sagte in seinem Fernsehen, es würden zwei Dinge gefeiert: 100 Jahre Radio und der Anfang des zweiten Jahrhunderts Radio. Das Jubiläum bedeutet mehr als eine zufällige Zeitmarke. Tatsächlich befindet sich das Radio, nicht nur in der Schweiz, in einer Übergangsphase. So klar wie sich die bisherige Geschichte zeigt, so unklar erscheint die Zukunft. Vieles von dem, was Radio in den ersten 100 Jahren ausgemacht und definiert hatte, steht heute in Frage.
Produktion, Distribution oder Rezeption, aber auch Finanzierung und regulatorische Rahmenbedingungen wandeln sich zum Teil radikal. Um nur ein Beispiel zu nennen: Radio, das akustische Medium per se, gibt es vermehrt auch als bewegtes Bild. Kameras im Studio werden zum Normalfall. Das Westschweizer Radio RTS produziert seit 2019 die abendliche Nachrichtensendung «Forum» als Audio-Video-Hybrid. «Das ist keine Spielerei», betont RTS-Direktor Pascal Crittin. «Wir machen das, um mehr Zuschauer zu erreichen – und wir gewinnen tatsächlich Publikum dazu.» Findet Radio künftig auf den unterschiedlichsten Plattformen und Kanälen statt, und sei es als Video?
Heute stehen wir in der Schweiz vor der Abschaltung von UKW. Doch wie lange hält sich DAB als designierte Nachfolgetechnologie?
Als am 14. Oktober 1922 der diplomierte Funker Roland Pièce über die Antennen von Champ-de-l’Air in Lausanne nicht nur die Wetterdaten einem Piloten auf dem Flug von Paris her mitteilt, sondern zur Unterhaltung der Gäste an Bord auch noch Musik abspielt, gilt dies als Geburtsstunde des Radios in der Schweiz. Die Übertragung der Töne erfolgt mittels drahtloser Telegrafie. Es ist damals die einzige Möglichkeit zur Radioübertragung. Über die Jahrzehnte lösen sich verschiedene Technologien ab, bis in die 1970er-Jahre dominiert die Mittelwelle, danach die Ultrakurzwelle UKW als Übertragungsvektor. In den 1990er-Jahren etabliert sich neben der analogen die digitale Verbreitungstechnologie, einerseits als DAB-Digitalradio, andererseits als Internet-Streaming. Heute stehen wir in der Schweiz vor der Abschaltung von UKW. Doch wie lange hält sich DAB als designierte Nachfolgetechnologie? Oder wird Radio irgendwann nur noch via Internet verbreitet?
Wie sich die Distribution in den ersten hundert Jahren Radio stark wandelt, so verändert sich auch die Rezeption: vom sperrigen Möbel, um das sich die Familie versammelt, über das transportable Transistorradio, der ab den 1950er-Jahren den Empfang auch unterwegs ermöglicht, bis zum Smartphone und den omnipräsenten Kopfhörern. Der Wandel der dominierenden Empfangssituation beeinflusst auch das Angebot. Während sich das Radioprogramm als Rundfunk per Definition an ein breites Publikum richtet, sprechen Podcasts mit einem engeren inhaltlichen Fokus spezifischere Nutzungsbedürfnisse an. Das widerspiegelt sich auch in der Machart durch eine persönlichere Ansprache als bei klassischen Radioprogrammen, was wiederum gut zur intimen Rezeptionssituation mit Kopfhörern passt. Aber was kommt nach dem Podcast, nach den Kopfhörern?
Eine Eigenheit des Radios in der Schweiz ist die Dominanz der SRG-Programme. Ein publizistischer Wettbewerb auf nationaler Ebene findet nicht statt und hat nie stattgefunden. Zur SRG gibt es keine Konkurrenz. Die Privatradios versorgen entweder lokale Publika oder befriedigen als Spartensender spezifische musikalische und thematische Interessen. Die Dominanz der SRG-Programme im Radiomarkt rührt massgeblich von der Finanzierung durch die Haushaltsabgabe her, die das breite Angebot mit insgesamt 17 Programmen ermöglicht. Dass sich eine Reduktion der Gelder für das öffentliche Radio, wie dies die sogenannte Halbierungsinitiative fordert, positiv auf die Privaten auswirken würde, darf bezweifelt werden. Wird ein geschätztes und gut gehörtes Angebot dezimiert, schwächt dies das Radio insgesamt. Aber wer würde davon profitieren?
Keine andere Technologie schafft es, über grosse Distanzen zu vergleichsweise geringen Kosten so viele Leute zu erreichen.
Seit den Anfängen vor hundert Jahren dient das Radio als Informationsmedium. Keine andere Technologie schafft es, über grosse Distanzen zu vergleichsweise geringen Kosten so viele Leute zu erreichen. Als die europäischen Diktaturen der 1930er Jahre das junge Massenmedium als Propagandainstrument missbrauchten, hielten Sender aus den freien Ländern dagegen, so auch das Schweizer Radio. Unabhängige Information steht synonym mit dem Radio. Dafür bürgen Sendungen wie das «Echo der Zeit», das seit 75 Jahren Tag für Tag über das Weltgeschehen informiert. Der Informationsauftrag des Radios ist in der Schweiz politisch gewollt und nach dem Prinzip Geld gegen Leistung in Konzessionen festgeschrieben. So verpflichtet sich nicht nur die SRG, sondern auch Privatsender, über das lokale Geschehen in Politik, Gesellschaft und Kultur zu berichten. Doch in letzter Zeit begann das System zu bröckeln: Immer mehr Sender klinken sich aus und ziehen es vor, ohne Konzession zu senden. Neue Sender mit Schwerpunkt Nachrichten gibt es kaum. Wie lange wird sich Radio noch auf Information reimen?
Bei allen Unwägbarkeiten und Unbilden, die das Radio im nächsten Jahrhundert aller Voraussicht nach zu gewärtigen hat, bieten die ersten hundert Jahre zwar keine Überlebensgarantie, aber doch ein solides Fundament, auf dem sich weiter bauen lässt.
Bild: Unsplash/Ali Yasar isgoren