«Wer als Wissenschaftler an die Öffentlichkeit tritt, muss Politik und Medien verstehen»
Forschung und politischer Aktivismus schliessen sich nicht a priori aus, findet Sabine Süsstrunk. Dennoch rät die Präsidentin des Schweizerischen Wissenschaftsrats SWR, dass Forschende klar zwischen Forschung, Beratung und Aktivismus trennen sollten. Und sie hat Verständnis, wenn die Politik nicht jeder wissenschaftlichen Empfehlung folgt.
Das Klima ist zurück in den Medien. Nachdem Corona zwei Jahre lang die Schlagzeilen dominiert hatte, sorgten 2022 zahlreiche legale und illegale Klimaproteste dafür, dass sich nicht nur das Klima, sondern auch die Diskussion darüber erhitzte. «Hört auf die Wissenschaftler!», war dabei oft zu hören. Die Forderung, die die Klimaaktivistin Greta Thunberg 2019 ans amerikanische Parlament gestellt hat, ist zu einem Schlachtruf der Klimabewegung geworden. Dahinter steckt eine Überzeugung, die bei vielen Wissenschaftlern tief verankert ist. Sie lautet: Schlechte Politik ist das Resultat von Ignoranz – wüssten Politiker, was Wissenschaftler wissen, würden sie bessere Entscheide treffen.
Erstaunlicherweise scheint auch der Schweizer Bundesrat der Überzeugung zu sein, dass es mehr Wissenschaft in der Politik braucht – zumindest in Krisenzeiten. Er kündigte jüngst an, Prozesse etablieren zu wollen, um wissenschaftliche Expertise im Ernstfall schnell und effektiv in die Politik fliessen zu lassen. Dabei stützte er sich wesentlich auf einen Bericht des Schweizerischen Wissenschaftsrates («Wissenschaftliche Politikberatung in Krisenzeiten»). Darin wird unter anderem empfohlen, die Vernetzung von Wissenschaft und Politik zu fördern und die Kapazitäten für wissenschaftliche Politikberatung auszubauen. Vor dem Hintergrund der Erfahrungen in der Pandemie rät der Bericht aber auch zu klaren Regeln für wissenschaftliche Taskforces in Krisenzeiten.
Sabine Süsstrunk ist Professorin an der EPFL in Lausanne und die aktuelle Präsidentin des Schweizerischen Wissenschaftsrates. Die Medienwoche hat mit ihr über aktivistische Klimaforschende, Wissenschaftsberatung in Krisenzeiten und das wissenschaftliche Gehör der Politik gesprochen.
MEDIENWOCHE:
Frau Süsstrunk, Sie meinten kürzlich: «Man hört in Bern durchaus auf die Wissenschaft.» Wenn man mit Forschenden spricht, scheinen das viele anders zu sehen. Wie kommen Sie zur Einschätzung, dass die Politik ein offenes Ohr für die Wissenschaft hat?
Sabine Süsstrunk:
Aus Erfahrung. Der Schweizerische Wissenschaftsrat berät den Bundesrat ja in wissenschaftspolitischen Fragen, also im Bereich von Policy for Science. Zudem evaluieren wir alle vier Jahre Forschungseinrichtungen von nationaler Bedeutung. In beiden Fällen können wir recht gut sehen, zum Beispiel anhand der Verteilung von Fördergeldern, dass der Bund unseren Empfehlungen oft folgt. Aber der Wissenschaftsrat ist natürlich nicht der einzige Kanal, über den Wissenschaft in die Politik gelangt. Bei der Bundesverwaltung wird beispielsweise sehr viel Forschung zu politisch relevanten Sachfragen betrieben – und zwar von Wissenschaftlern, die direkt beim Bund angestellt sind, oder aber an Hochschulen und sonstigen Institutionen, die für den Bund forschen.
MEDIENWOCHE:
Für die Wetterprognosen von Meteo Schweiz zum Beispiel.
Süsstrunk:
Genau. Aber es gibt natürlich auch Bereiche, bei denen die Verbindung von Forschung und Politik weniger stark ausgeprägt ist.
MEDIENWOCHE:
Zum Beispiel?
Süsstrunk:
Während der Pandemie hat sich beispielsweise gezeigt, dass die für die Behörden zugängliche wissenschaftliche Beratung zur Bewältigung der Krise nicht ausreichte. Deshalb wurde dann ja auch eine wissenschaftliche Taskforce gegründet, die ebenfalls von der Politik gehört wurde. Der Bundesrat hat ja viele Empfehlungen der Taskforce übernommen und implementiert.
MEDIENWOCHE:
Das heisst umgekehrt aber auch: Dort, wo etablierte Strukturen für solche Forschung oder eine Taskforce fehlen, hat es die Wissenschaft schwerer, gehört zu werden?
Süsstrunk:
Ganz genau. Aus diesem Grund haben wir in unserem jüngsten Bericht auch erläutert, warum es mehr Schnittstellen zwischen Wissenschaft und Politik braucht – aber nicht unbedingt in Form von schwerfälligen Organisationen. Natürlich könnte man für jede Krise oder jede potentielle Krise ein eigenes Institut an einer Universität eröffnen oder verwaltungsinterne Forschungsstellen aufbauen, aber das wäre unrealistisch.
«Wir plädieren dafür, mehr Schnittstellen zu schaffen, an denen sich Wissenschaft und Politik schon vor einer Krise begegnen können.»
MEDIENWOCHE:
Was braucht es stattdessen?
Süsstrunk:
Am Ende des Tages ist erfolgreiche Politikberatung eine Beziehungsfrage: Wenn man sich vor einer Krise schon kennt und vertraut, dann hört man auch eher aufeinander, wenn es brennt – das ist nur menschlich. Aus diesem Grund sollten die Beziehungen zwischen Wissenschaftlern und Politikern viel aktiver gepflegt werden. Wissenschaftler sollten wissen, wie sie an Politik und Verwaltung herantreten können, um ihre Expertise zu teilen. Und gleichzeitig muss auch die Politik wissen, wie sie zu verlässlicher wissenschaftlicher Expertise kommt, wenn noch keine bestehenden Gefässe dafür vorhanden sind. Aus diesem Grund plädieren wir dafür, mehr Schnittstellen zu schaffen, an denen sich Wissenschaft und Politik schon vor einer Krise begegnen können.
MEDIENWOCHE:
Aber reicht das, um gehört zu werden? Anders gefragt: Woher wissen Sie, ob eine wissenschaftliche Empfehlung auch tatsächlich angekommen ist?
Süsstrunk:
Wenn etwas in der Politik diskutiert wird, dann wissen wir, dass wir gehört wurden. Beim Covid-Gesetz, aber auch beim abgelehnten CO2-Gesetz hat man gut gesehen, dass viele wissenschaftliche Empfehlungen von der Politik umgesetzt wurden. Aber, das muss man dazu schon auch sagen: Die Politik muss bei ihren Entscheiden nicht nur die Wissenschaft, sondern die Gesellschaft als Ganzes berücksichtigen. Sie muss Entscheide treffen zum Wohle der Bevölkerung, aber die Bevölkerung muss diese Entscheide auch mittragen können. Damit eine Empfehlung ankommt, muss sie also nicht nur wissenschaftlich, sondern auch sozial und politisch umsetzbar sein. Sie muss von der Bevölkerung akzeptiert werden. Über die Akzeptanz politischer Massnahmen in Krisenzeiten haben wir in diesem Jahr übrigens auch einen Bericht verfasst. Dass einige Wissenschaftler – ob bei Corona oder beim Klima – deshalb das Gefühl haben, die Politik höre zu wenig auf sie, kann ich zwar nachvollziehen, aber …
MEDIENWOCHE:
Aber was?
Süsstrunk:
Belassen wir es mal bei: Ich kann es nachvollziehen.
MEDIENWOCHE:
Der jüngste Bericht des Wissenschaftsrates hält fest, dass es gerade in Krisenzeiten mehr Kanäle brauche, damit Wissenschaft und Politik direkt miteinander kommunizieren können. Spräche das angesichts der Klimakrise nicht für eine Klima-Taskforce, analog der Corona-Taskforce?
Süsstrunk:
Ich verstehe eine Krise als etwas, das lokalisierbare und zeitlich beschränkte Auswirkungen hat. So gesehen ist die Klimaerwärmung selbst keine Krise, löst aber ganz viele Krisen aus – und zwar global. In der Schweiz müssen wir ehrlicherweise sagen, dass wir die Auswirkungen der Klimaerwärmung noch kaum als Krise erlebt haben, ganz im Gegensatz zu Ländern, wo wegen fehlendem Regen und Ernteausfällen Menschen verhungern. Weil die Klimaerwärmung globale Auswirkungen hat, bräuchte es eher eine globale Klima-Taskforce. Aber man hat ja bei der Weltklimakonferenz in Ägypten gesehen, wie schwierig es ist, global alle an einen Tisch zu bekommen.
MEDIENWOCHE:
Vielen scheint aber die Geduld auszugehen. Dieses Jahr klebten sich Klimaaktivsten um die Gruppierung Renovate Switzerland an Autostrassen fest und bewarfen das Gebäude des Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation mit Farbe. Mitgemacht haben auch Forschende, denen der aktuelle Klimakurs der Schweizer Politik nicht ambitioniert genug ist. Wie aktivistisch dürfen Forschende auftreten?
Süsstrunk:
Aktivismus und auch ziviler Ungehorsam haben auf jeden Fall ihren Platz in einer Demokratie, gerade wenn es darum geht, breite Debatten zu lancieren. Die Konsequenzen der Klimaerwärmung müssen ja nicht nur in der Politik und in der Wissenschaft diskutiert werden, sondern innerhalb der Gesellschaft als Ganzes. Ansonsten wird es schwierig, Massnahmen zu ergreifen, die auch von einer Mehrheit der Bevölkerung mitgetragen werden.
«Man muss klar kommunizieren, welchen Hut man trägt, wenn man an die Öffentlichkeit tritt.»
MEDIENWOCHE:
Aber geht Aktivismus auch mit Wissenschaft zusammen? Das sind ja doch zwei sehr unterschiedliche Tätigkeiten.
Süsstrunk:
Man muss klar kommunizieren, welchen Hut man trägt, wenn man an die Öffentlichkeit tritt. Wenn ich als Forscherin zu aktivistischen Mitteln greifen würde, dann müsste ich deutlich klarmachen, dass ich so etwas nicht als Präsidentin des Wissenschaftsrates mache, sondern als Privatperson. Ich denke, man muss solche Aktivitäten zurückstecken, sobald man eine offizielle Beratungsrolle übernimmt. Da braucht es ein bisschen Gespür dafür, welche Rollen sich mit Aktivismus vereinbaren lassen und welche nicht.
MEDIENWOCHE:
Professorin Julia Steinberger ist IPCC-Autorin und zugleich eine der Forschenden, die an Protestaktionen von Renovate Switzerland teilgenommen. Auf Twitter schreibt sie, Schweizer Politiker sollen «ihren verdammten Job» machen und die Schweizer Bevölkerung vor der Klimakrise schützen. Renovate Switzerland hat sich sogar das erklärte Ziel gesetzt, «die Regierung zu konkreten Massnahmen zu zwingen». Wie fordernd darf man als Forscher gegenüber der Politik auftreten?
Süsstrunk:
Persönlich stört es mich nicht, wenn eine Professorin wie Julia Steinberger an Protestaktionen teilnimmt oder Forderungen stellt, aber vielleicht hätte sie klarer kommunizieren müssen, dass sie das als Privatperson, als Bürgerin der Schweiz macht, die über die Konsequenzen des Klimawandels stark besorgt ist.
MEDIENWOCHE:
Julia Steinberger hat aber von sich aus gesagt, dass sie nicht nur «als Mutter, als Bürgerin, als Lehrerin», sondern eben auch «als Wissenschaftlerin» protestiert.
Süsstrunk:
Auch das ist in meinen Augen zulässig. Heikler ist der Bezug als Leitautorin des IPCC, aber diesen Bezug hat sie ja nicht selbst hergestellt, das waren die Medien. Ich finde, sie hat das eigentlich klar kommuniziert und ihre Rolle als Mutter an erste Stelle gesetzt. Dass sie besorgt ist um die kommenden Generationen – ich kann das absolut nachvollziehen.
«Ich sehe auch die Gesellschaft in der Pflicht zu verstehen, dass Forschende auch Meinungen haben, die nichts mit ihrer Arbeit zu tun haben, und dass sie die auch haben dürfen.»
MEDIENWOCHE:
Machen Sie es aktivistisch tätigen Wissenschaftlern da nicht zu einfach? Wenn ich als Forscher an die Öffentlichkeit gehe, dann wird mir doch viel eher zugehört, als wenn ich als Privatperson spreche. Als Forscher vertrauen die Menschen darauf, dass ich ihnen nicht nur eine beliebige Meinung, sondern wissenschaftlich fundierte Einschätzungen biete. Wie kann eine Leserin, ein Fernsehzuschauer erkennen, ob jemand als Forscherin oder als Bürgerin spricht?
Süsstrunk:
Das ist eine gute Frage. Wissenschaftler sind selbstverständlich zur Transparenz darüber verpflichtet, was ihre persönliche Meinung ist und was die wissenschaftliche Faktenlage wiedergibt. Ebenso sollten sie klarmachen, was wissenschaftlich geklärt ist und wo es auch innerhalb der Wissenschaften Meinungsverschiedenheiten gibt. Aber Wissenschaftler sind keine allwissenden Götter, sondern auch nur Menschen. Da sehe ich dann auch die Gesellschaft in der Pflicht zu verstehen, dass Forschende auch Meinungen haben, die nichts mit ihrer Arbeit zu tun haben, und dass sie die auch haben dürfen. Und da ist es dann auch an den Medien und an uns allen, diese Meinungen korrekt einzuordnen. Nicht als fundierte Faktenaussage, sondern als Äusserungen einer Privatperson.
MEDIENWOCHE:
Innerhalb der Wissenschaften gibt es viele formale Regeln und Forschungsstandards. Wenn es um den Austausch mit der Politik geht, dominiert aber der informelle Austausch. Bräuchte es hier nicht ebenfalls formale Kriterien und Mechanismen, um die Qualität wissenschaftlicher Politikberatung zu gewährleisten?
Süsstrunk:
Wissenschaftliche Resultate in Medien oder Politik zu tragen und so zu erklären, dass es die Leute verstehen, ist eine wichtige Aufgabe. Dennoch glaube ich nicht, dass das alle Forschenden machen müssen. Doch wer als Wissenschaftler an die Öffentlichkeit tritt, muss Politik und Medien verstehen. Ich bin deshalb dafür, dass alle Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die irgendwann mal in die Politikberatung gehen, auch erklärt bekommen, wie das funktioniert. Ebenso finde ich, dass es viel mehr Wissenschaftskommunikation und Wissenschaftsjournalismus braucht, und dass das gelehrt und geübt werden muss. Wir haben in unserem Bericht ja auch vorgeschlagen, dass Hochschulen Wissenschaftskommunikation und Politikberatung stärker pflegen und fördern könnten im Rahmen ihrer Tätigkeiten. Wie gesagt: Nicht für alle Forschenden, aber zumindest so, dass diese Aufgaben mehr oder – wenn ich das so sagen darf – auch besser erledigt werden als heute.
Bild: Keystone