von Ronnie Grob

Im Hort der Hochkultur

Seit 38 Jahren schreibt Martin Meyer für das Feuilleton der NZZ, seit über 20 Jahren als dessen Leiter – und dennoch ist er, ausser mit seinen Artikeln, in der Öffentlichkeit kaum präsent. Wer ist dieser Mann, der sich dezidiert für einen engen Kulturbegriff starkmacht und gerne aufs Altertum zurückgreift, um aktuelle Entwicklungen zu erklären?

Es gibt einen, der konsequent keinen Boulevard macht. Der Mann mit dem sorgfältig zurückgekämmten Haar holt mich in der Lobby des altehrwürdigen NZZ-Gebäudes an der Falkenstrasse ab und empfängt mich in seinem Büro, einem Eckzimmer im dritten Stock. Die Wärme, die das Büro ausstrahlt, kühlt Meyer mit seiner ernsten Art auf eine angenehme Raumtemperatur herunter. Hinter dem Schreibtisch steht eine wohlgeordnete Bücherwand, auf der Tastatur des Firmencomputers liegen von Hand beschriebene Papiere. Ich erlaube mir, meinen Laptop auf der Gegenseite des Tischs aufzubauen, Meyer redet lebhaft moduliert, in klassisch schönem Schweizerdeutsch. Trotz äusserer Ruhe bewegt er sich öfters, was auf eine gesunde innere Spannung hinweist.

Meyer war schon Feuilletonredaktor der NZZ, als ich noch nicht geboren war. Als er zu dessen Leiter befördert wurde, war ich im 2. Lehrjahr. Die Antwort auf meine Einstiegsfrage, wie sich die Welt seit 1974 verändert hat, ist bezeichnend: Meyer geht gleich ein paar Jahrzehnte weiter zurück. Die Welt ist nicht zu erklären ohne die Entwicklungen, die zu ihr geführt haben.

In Berlin habe ich Leute beobachtet, die ins Café kommen und von allen verfügbaren Zeitungen zuerst die NZZ in die Hand nehmen. Gelobt wird der entspannte und freie Kosmopolitismus des NZZ-Feuilletons, der so in Deutschland kaum verfügbar ist. Erhalten sie viele Rückmeldungen aus dem Ausland?

Ja, wir haben in Deutschland und natürlich auch in Österreich eine aufmerksame und intelligente Leserschaft. Wenn die NZZ als Weltblatt gilt, dann ist das nicht nur ein Schlagwort.

Andere Stimmen, die ich eingeholt habe, sagen zum NZZ-Feuilleton: «Gepflegte Langeweile gepflegter Langweiler».
Das müsste spezifiziert werden, mit einem solchen Pauschalurteil kann ich wenig anfangen, und es müsste ja auch am Einzelfall nachgewiesen werden können. Wenn Sie ein journalistisches Profil haben, können Sie es nie allen recht machen. Franz Josef Strauss hat einmal gesagt: «Wer immer Everybody’s Darling sein will, wird schliesslich Everybody’s Depp.» Es stört mich auch gar nicht, wenn da und dort andere Leute nicht einverstanden sind mit unserem Feuilleton. Allerdings wäre es mir natürlich lieber, wenn sich die Ablehnung auf eine andere Meinung als einfach auf die Langeweile stützt.



Die NZZ führt als einzige mir bekannte Schweizer Zeitung den Kulturteil unter dem Titel «Feuilleton». Was bedeutet der Begriff für Sie?

Es handelt sich um ein Traditionslabel, das früher gang und gäbe war. Es stammt aus dem französischen Sprachgebrauch des 19. Jahrhunderts. Zeitungen hatten sogenannte «Blättchen» eingerückt, häufig auch unterhaltender Art und bestückt mit Fortsetzungsromanen. Jeden Tag oder jeden zweiten Tag wurde ein Teil eines neuen Romans vorabgedruckt. In der NZZ haben wir den Fortsetzungsroman bis in die späten 1970er-Jahre beibehalten.

Mit diesem Wort wurde später eigentlich immer das Richtige assoziiert: Ein Kulturteil, der über verschiedene Themen berichtet. In der Schweiz ist es so, dass man der Leserschaft offenbar nicht mehr zutraut, das Wort Feuilleton so zu verstehen, wie man es verstehen kann und muss – man überschreibt es darum mit «Kultur». Wenn Sie nach Deutschland schauen: Alle überregionalen Tageszeitungen haben den Titel «Feuilleton» beibehalten.

Es gibt Stimmen, die sagen: Kultur kann überall stattfinden, es braucht also gar kein Kulturressort. Kulturjournalisten sollen nur kulturelle Themen für die Allgemeinheit zugänglich machen und sich nicht als Teil eines elitären Kunst-Kultur-Kreises verstehen.
Da bin ich nicht einverstanden. Was wäre denn allgemeine Kultur? Ein Eishockeymatch?  Oder das Zürcher Seenachtsfest? Es gibt einen engeren und einen weiteren Kulturbegriff. Wir pflegen mit unserem Ressort den engeren, ohne darüber elitär zu sein.

Warum sollte man generell Feuilleton lesen?

Erstens erfrischt es den Geist. Das Turnen mit dem Gehirn hält nicht nur das Hirn jung, sondern letztlich auch die ganze physische und psychische Erscheinung. Zweitens lebt der Mensch nicht vom Brot allein, er ist auch ein Wesen, das kulturpflichtig ist. Oder so gesagt: Wir wissen nicht genau, was die Motive unserer Vorfahren waren, Ornamente, wilde Tiere, Jäger zu zeichnen. Aber das war doch eine Art von Distanzierung von sich selbst durch einen ästhetischen Ausdruck – mit dem man sich anders sieht und anders begegnet als in der reinen Unmittelbarkeit, für damals: den anderen abmurksen und schauen, dass das Feuer in der Höhle erhalten bleibt.

Andere Schweizer Medien berichten über Malerei, bildende Kunst, Literatur oder europäisches Theater nicht oder nicht kontinuierlich. Hat die NZZ in diesem Bereich ein De-Facto-Monopol?

Nun, das ist wohl etwas übertrieben; wir hätten allerdings nichts dagegen. Es hat immer zum Kerngeschäft des Feuilletons gehört, über ästhetische Hervorbringungen zu berichten. Kunst, Künstler, Literatur, Theater, Musik, Geisteswissenschaften, Theologie, das ist der Hauptauftrag unserer Berichterstattung. Ab 1992 habe ich das Feuilleton für politische, gesellschaftspolitische und teilweise auch wirtschaftliche Themen geöffnet sowie eine Globalisierung der Wahrnehmung gefordert. Also: nicht nur zu schauen, was zwischen Genf und Rorschach passiert, oder, europäisch gesehen, zwischen Lissabon und Athen, sondern auch zu beobachten, was zwischen Seattle, Katmandu und Südafrika geschieht.

Ich sehe das Feuilleton auch als politischen Debattenraum. Andere führende Feuilletonisten, zum Beispiel Frank Schirrmacher (FAZ) oder Thomas Steinfeld (SZ), lancieren gerne mal Debatten oder greifen politische Themen auf und stellen sich dazu. Von Ihnen persönlich lese ich dazu wenig. Warum nicht?
Das sehe ich gar nicht so, Sie müssen nur ins NZZ-Archiv und nachschauen, was ich zuletzt geschrieben habe. In den letzten Wochen erschienen Texte von mir über die Idee Europas, über Habgier und Mässigung im Zusammenhang mit der Finanz- und Schuldenkrise, über die Thesen von Niall Ferguson, warum der Westen und die westliche Kultur anderen Kulturen überlegen waren.

Aber beim Wechselspiel der deutschen Feuilletons, die sich gegenseitig die Themen zuspielen, stehen Sie doch eher abseits.

Das hat auch mit der Schweiz zu tun. Wir sind trotz allem eine Schweizer Zeitung. Die deutschen Feuilletons haben manchmal eine etwas selbstreferenzielle Art, mit der sie einen Diskurs, einen Streit oder was auch immer führen – für den Aussenstehenden ist das manchmal kaum mehr richtig nachvollziehbar. Stichwort: selbstreferenzielle Selbstläufer. Natürlich kann man das machen, hie und da ist es sogar interessant. Manchmal aber ist es auch einfach viel Aufwand für wenig Ertrag. Wir greifen dann in Debatten ein, wenn wir sie als wichtig empfinden.

Meyer weist auf das NZZ-Feuilleton am Tag des Gesprächs hin. Die erste Seite füllt ein Text von Obi Nwakanma, einem Lyriker aus Nigeria ohne Wikipediaeintrag, in dem es um die Sekte Boko Haram geht. Der die Feuilletons täglich durchforstende Perlentaucher jubelt: «Solche Artikel gibt es nur noch in der NZZ!» Doch werden sie auch gelesen? Man weiss es nicht, die NZZ gibt es nur im Gesamtpaket. Für den Alltagsleser ist der Text von Obi Nwakanma auf jeden Fall zähe Kost, doch er funktioniert im Long Tail, als seriöse Information über ein Nischenthema, das andere ignorieren. Auch wenn das NZZ-Feuilleton keine Gebührengelder kassiert – verdient hätte es welche, denn es produziert klassischen Service Public.

Manchmal scheint es, als wolle es die Redaktion den Lesern nicht zu einfach machen. Sätze wie «Stören tut allein das Fehlen von Verweisen im Text zu den ausführlichen Anmerkungen» (Dickens-Rezension von Susanne Ostwald) sind doch eher umständlich als intelligent formuliert.



Was waren erinnerungswürdige Debatten der Ära Martin Meyer? 

In den 1980er-Jahren stolperte der damalige «Zeit»-Feuilletonchef Fritz J. Raddatz über einen Text, den ich ins Blatt gesetzt hatte als Einleitung zu einer Beilage mit lauter ausgedachten Texten. Darin hatte ich ein Goethe-Zitat erfunden, in dem sich Goethe angeblich über den Frankfurter Bahnhof beklagt, den es damals noch gar nicht gab. Kollege Raddatz merkte es offenbar nicht und setzte das Zitat auf die erste Seite, als ob es wahr wäre. Was dazu führte, dass er seinen Posten verlor – was ich gar nicht beabsichtigt hatte. Für zwei oder drei Wochen ging darauf in Deutschland ein Lachen und Rauschen durch den Blätterwald.

Doch Scherz beiseite: Wir haben immer wieder grössere Projekte angepackt. Wir hatten grosse Beilagen über die Französische Revolution, über die Kultur der Moderne, über den Islam usw. Wir werden bald eine Demokratie-Serie starten. Wir haben vielleicht ein anderes Verständnis für die Debatte als die Deutschen, die auch von der Grösse und den Herausforderungen des Landes her anders fokussieren als wir. Mit der Aussenpolitik von Joschka Fischer können wir keine Debatte entfachen; das ist auch nicht nötig. Zu dieser Art der Debatte gehört auch eine gewisse Thesenfreudigkeit und Vereinfachung. Angenommen, Kollege Roman Bucheli würde behaupten, die ganze Schweizer Literatur der letzten dreissig Jahre tauge nichts, dann gäbe das natürlich eine Debatte; aber die These wäre so hanebüchen, dass sie Bucheli nie in den Sinn käme. Deshalb würden wir auch keine Debatte riskieren wollen um des reinen Debattierens willen.

Welche kulturellen Neuentdeckungen aus dieser Zeit werden die Gegenwart überdauern?

Das kann ich nicht einfach so beantworten. Es wäre, bei allen möglichen Irrtümern,  einen verlockenden Aufsatz von mindestens zwanzig Seiten wert. In der Literatur sicher Peter Handke, vielleicht auch Botho Strauss, um wenigstens zwei zu nennen. Für die zeitgenössische Kunst freilich wäre dies schon wesentlich schwieriger zu entscheiden.

Haben Sie Lieblingskünstler, bei denen Sie aufpassen müssen, nicht zu viel über sie zu schreiben? Oder gibt es Feuilletongrössen, die Sie hassen, über die sie aber schreiben müssen?

Nein, ich bin sehr ausgeglichen: preise alles Gute, kritisiere das weniger Gute.

Wo stehen Sie eigentlich politisch?
In der Mitte, ganz genau. Liberal.



Muss man als NZZler nicht FDP wählen?
 
Nein, das ist ein uraltes Vorurteil. Ich stehe dem Freisinn nahe, teile das liberale Gedankengut, bin aber nicht Parteimitglied.

Ist das Schreiben im Feuilleton eigentlich mit dem Bloggen verwandt? Beides ist doch nicht so streng in Textformen gepresst und lässt auch mal Gedankenexperimente zu …

Wenn ich sehe, mit welchen sprachlichen Mitteln gebloggt wird, dann machen wir eigentlich das pure Gegenteil. Wir machen Gedankenkonzentration, wir versuchen, gut und konsistent zu argumentieren und  das in eine Sprache zu fassen, die den Regeln der Grammatik und des Stils genügt. Wenn Sie die meisten Blogs anschauen, dann geht es dort sprachlich und häufig auch gedanklich drunter und drüber. Warum? Weil das schnelle Medium dazu einlädt. Weil es aber heute so viele Ablenkungsmöglichkeiten gibt, ist es eine Kunst, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Die Schwierigkeit liegt darin, bei enormem Angebot das herauszufiltern, was einen selbst weiterbringt. Anders gesagt: Dass man nicht zuletzt einen unendlich grossen Legokasten mit vielen halbangefangenen Modellen am Boden herumstehen hat, über die man stolpert – ab und zu bricht etwas zusammen, aber einen von A bis Z durchgestalteten Prozess gibt es kaum mehr. Das heisst: Für die Kreativität ist es eher schwieriger geworden, weil man sich disziplinieren muss.


In meinem Umfeld schauen alle US-amerikanische Fernsehserien, von «Homeland» über «Breaking Bad» bis «The Wire». Wieso lese ich darüber im NZZ-Feuilleton kaum etwas? Online gefunden habe ich nur einen Artikel, vom 17. Oktober 2010.

Um Himmels willen – selber schuld! Ich finde das in der Regel weder intellektuell noch ästhetisch ergiebig. Es ist eine Art von Unterhaltung, die man sich passiv hineinzieht, und wenn man am Ende die eine Serie noch mit der anderen verwechselt, ist das Chaos komplett. Wir besprechen keine Serien, das ist auch eine Frage der Ökonomie.

«The Wire» wird mit den grossen Romanen von Tolstoj, Balzac oder Dickens verglichen.
Es gibt auch Leute, die Jeff Koons oder Urs Fischer mit Rembrandts Statur vergleichen. Lesen hat überdies den Vorteil, dass es die Vorstellungskraft aktiviert.

Wie stehen Sie zur fast schon flächendeckenden Subventionierung des Kulturbetriebs?

Sie sagen selbst: flächendeckend. Ich finde das tatsächlich auch nicht unproblematisch. Früher gab es praktisch keine staatliche Kulturförderung: Im 19. und anfangs des 20. Jahrhunderts sind grosse Künstler fast verhungert, weil sie den Markt, das Publikum, den Gönner, den Fürsten nicht gefunden haben. Das konnte sehr hart sein, und zur Romantisierung des darbenden Künstlers besteht kein Anlass. Heute anderseits möchten viele, die sich als Künstler sehen, auch staatlich alimentiert werden. Das hat zum Teil ein fast beamtenartiges Künstlertum zur Folge. Und dies tut der Kunst auch nicht bloss gut.

Welche Hochkultur lässt sich problemlos vom freien Markt finanzieren?

Die zeitgenössische Kunst in ihren Hypes, weil sie auch immer ein ökonomischer Faktor ist. Bei den anderen Künsten ist es schwierig. Literatur ist nichts, das grundsätzlich vom Markt finanziert werden kann. Es sei denn, es geht um Bestseller, und da kommen wir auch gleich zu den Querfinanzierungen innerhalb der Verlage. Ein sich gut verkaufendes Buch von Umberto Eco finanziert auch noch drei oder vier hervorragende Lyrikbände.



Könnte sich das NZZ-Feuilleton auf dem freien Markt behaupten, ohne den Rest der Zeitung?

Eine interessante Idee, ich kann nur sagen, ich möchte es hoffen. Aber zum Glück sind wir nur pars in toto.

Eigentlich haben Sie ihr privates Interesse zu einem fürstlichen bezahlten Beruf gemacht, oder? Sind Sie zufrieden mit Ihrem Einkommen?
Fürstlich? Das ist wohl sehr relativ. Die Hauptsache ist: ich liebe meinen Beruf.



Sie sagten mal, es sei eine Ehre, für die NZZ zu schreiben, auf das Honorar komme es nicht an (2009). Können Sie sich vorstellen, dass das ein Affront ist für einen Journalisten ist, der versucht, sein Geld auf dem freien Markt zu verdienen?

Ich versuche zu erklären, was ich damit – übrigens ohne jede Provokation gegenüber freien Journalisten – gemeint habe, da es zu Missverständnissen Anlass gab. Feuilleton-Berichterstattung ist sehr aufwändig. Wenn Sie ein Buch besprechen müssen, sagen wir: von 500, 1000 oder sogar 1700 Seiten wie das neue von Péter Nádas, dann müssen Sie sich überlegen, wie lange sie brauchen, um das zu lesen. Sie kommen auf eine Woche, vielleicht zwei. Dann erstellen Sie sich ein Schreibkonzept für die Rezension, schreiben den Text, polieren und redigieren ihn. Am Schluss haben Sie sicher einen halben Monat investiert. Auch wenn Sie den Stundenlohn einer Putzfrau einsetzen, kommen Sie auf eine Summe, die wir nie zahlen könnten, weil wir unter Umständen drei, vier, fünf solche Rezensionen täglich im Blatt haben. Darum sind wir auf Idealisten angewiesen, die sich das leisten können und wollen, und das sind eigentlich sehr viele, die für uns schreiben. Ohne diese Schar von freien Mitarbeitern, die bereit sind, auf eine normale Entlöhnung zu verzichten, könnten wir unser Feuilleton gar nicht machen. Ergo: Diese Art von Feuilleton wird mindestens teilweise von unseren freien Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern subventioniert. Ich kann und darf deshalb ergänzen: Es ist uns eine Ehre, dass diese Kolleginnen und Kollegen für uns tätig werden.

Umgekehrt heisst das aber, dass Ihr Job um so beliebter ist. Ich glaube, für ambitionierte Feuilletonisten ist Ihr Job vergleichbar mit dem des Papsts. Im Schweizer Journalismus gibt es ja nur diesen einen Job, in dem man abseits finanzieller Sorgen ähnliche Gestaltungskraft hat.

Das ist wohl doch zu viel gesagt. Abgesehen davon: Ich glaube nicht, dass das Amt des Papsts besonders beliebt ist.

Können Sie sich eigentlich ihren Nachfolger aussuchen?

Das lassen wir lieber mal etwas im Dunkeln, oder sagen wir: im Ungesagten. Diese Frage müssen Sie dem Chefredaktor stellen.

Haben Sie irgendwelche Vorgaben, was Sie im NZZ-Feuilleton machen dürfen und was nicht?

Ich kann alles machen. Das einzige Kriterium: es muss gut sein. Und ich glaube, das ist es auch.

Wie viele Leserbriefe erhalten sie pro Monat?

Das ist unterschiedlich, es kommt etwas auf die Saison an. In den Sommerferien weniger.

«Journalisten sind keine Schriftsteller», sagt Roger Köppel. Einverstanden oder nicht?

Das ist in der Tendenz richtig, ich würde es aber nicht so apodiktisch sagen. Es gibt hie und da auch solche Schreiberinnen und Schreiber, die sowohl journalistische als auch literarische Qualität liefern können.

Reagiert das NZZ-Feuilleton für eine Tageszeitung nicht äusserst bedächtig auf aktuelle Ereignisse?

Ganz im Gegenteil, das war vielleicht in grauer Vorzeit so. Wenn heute Nachmittag jemand stirbt, haben wir den Nachruf heute Nachmittag online und morgen im Blatt. Nein, nein, wir sind genau so aktuell wie andere Ressorts und andere Zeitungen.



Mein Bild des NZZ-Feuilleton-Lesers ist etwa dieses: Goldküste, Ohrensessel, Lesebrille. Und wenn es vor die Tür geht: Pelzmantel. Und Ihres?

Es gibt doch keine Pelzmäntel mehr. Und Lesebrillen sind doch patent. Und wenn Sie das Feuilleton lesen, dann stimmt das ja schon gar nicht. Ich denke im übrigen nicht primär an unser Publikum. Wir müssen machen, was wir für gut halten, was uns begeistert – und das überträgt sich auch auf eine sehr breite Leserschaft. Ich habe gar nichts gegen die Goldküste. Ich habe aber auch gar nichts gegen den Kreis 5, und dort werden wir auch gelesen.

Wie viele Stunden pro Tag sind sie aktiv im Netz unterwegs?

Ich habe es nie ausgerechnet, sicher weniger als der Durchschnittsuser.

Wie sind Sie kommunikationstechnisch ausgestattet?

iPhone, iPad, alles, was man so hat.



Wie stehen Sie zum «Perlentaucher»? Lesen Sie die Zusammenfassungen der Feuilleton-Rundschau?

Man hat Freude, wenn man gelobt wird, und ärgert sich kurz, wenn man nicht gelobt wird. Der «Perlentaucher» ist eine Dienstleistung zum Zwecke der Orientierung. Dagegen ist nichts einzuwenden. Aber für unsere Tätigkeit ist dies im Grunde irrelevant. Ganz grundsätzlich: Ich sehe einen Problempunkt darin, dass sich Journalisten zu sehr mit Journalismus und anderen Journalisten beschäftigen anstatt die eigentliche Arbeit zu verrichten: Themen auswählen, Gegenstände anvisieren und kritisch durchleuchten, eine Meinung bilden und die dem Publikum weitergeben.

Das NZZ-Feuilleton bewegt sich meist abseits der Bewegungen in den deutschen Feuilletons, einige Texte könnten auch 1992 oder 1972 erschienen sein. Haben Sie auch schon mal einen alten Text einfach wieder ins Blatt gesetzt?

Ganz so direkt nicht – aber das wäre ja übrigens ein Kompliment gewesen. Die Kultur ist ein grosses Erbe seit den alten Sumerern. Es gibt Bestände, die bleiben, es gibt Bestände, die wieder verschwinden. Sehr viel von heute wird wieder verschwinden, das war schon im 18. und 19. Jahrhundert der Fall. Wir rufen den Leuten immer auch in Erinnerung, was eigentlich Bedeutung, was Wert hat.

Sollte die aktuelle Schuldenkrise den Kulturbetrieb zu massiven Einsparungen zwingen: was müsste auf jeden Fall überleben?

Am liebsten alles. Ach, wissen Sie: Wenn Sie etwas zurückblicken, etwa auf das alte Ägypten: Es gibt noch Gräber, Säulen, Statuen, ein paar Pyramiden, und viel, viel ist verschwunden. Das heisst: Das einzige, was in der und für die Geschichte bleibt, sind die kulturellen Zeugnisse, die literarischen und historischen Quellen. Politik ist verschwunden, Wirtschaft ist verschwunden, es bleibt nur Kultur. Das sollte einen in Bezug auf Kultur etwas aufgeschlossener und in Bezug auf den Rest etwas bescheidener machen. Gutes Wirtschaften ist wichtig, Staatsverschuldung ist schlecht, aber, und das sollten wir nicht vergessen: was am Schluss übrig bleibt von der menschlichen Leistung, sind die Bestände der Kultur.

Das Gespräch mit Martin Meyer wurde am 8. Februar 2012 in Zürich geführt.

Leserbeiträge

Reto Stauffacher 28. Februar 2012, 14:21

„Ich sehe einen Problempunkt darin, dass sich Journalisten zu sehr mit Journalismus und anderen Journalisten beschäftigen anstatt die eigentliche Arbeit zu verrichten.“ –> Dieses äusserst spannende Interview zeigt, dass es noch immer Redaktionen gibt, die auf einer Burg hocken, die umringt ist von Mauern. Die Feuilleton-Redaktion macht Kunst, kein Journalismus – eigentlich schade, dass diese Artikel auf Zeitungspapier gedruckt werden anstatt in Büchern…