Wollt ihr die totale Sicherheit?
Seit 9/11 wird die staatliche Überwachung weltweit massiv ausgebaut. Wer das kritisiert, sieht sich dem Vorwurf ausgesetzt, den Kampf gegen den Terrorismus zu schwächen. Daran haben auch die Snowden-Enthüllungen nichts Grundsätzliches geändert. Sicherheit kommt immer noch vor Freiheit – für Regierungen sowieso, aber auch für Medien, die als Erfüllungsgehilfen der Staats- und Kontrollmacht agieren. Eine vernünftige Abwägung zwischen Sicherheit und Freiheit können nur die Bürger vornehmen.
«Man kann nicht 100 Prozent Sicherheit und 100 Prozent Privatsphäre und null Unannehmlichkeiten haben. Wir werden als Gesellschaft einige Entscheidungen treffen müssen.»
US-Präsident Barack Obama am 7. Juni 2013
Am 9. Juni 2013 bekannte sich Edward Snowden verantwortlich für ein Leak, das die Öffentlichkeit über das Ausmass der weltweiten Überwachungs- und Spionagepraktiken von Geheimdiensten informiert. MEDIENWOCHE beschäftigt sich ein Jahr später mit der Beziehung zwischen Journalisten und Whistleblowern.
Der Terroranschlag am 11. September 2001 auf die Twin Towers in New York war eine Zäsur in der westlichen Sicherheitspolitik. Das Ereignis, bei dem 2977 Opfer und 19 Attentäter den Tod fanden, verunsicherte die westliche Elite bis ins Mark und diente als Rechtfertigung für nahezu jede ergriffene Sicherheitsmassnahme. An Flughäfen werden seither unbescholtenen Menschen Wasser- und Weinflaschen weggenommen deswegen. Das zu fast 100 Prozent sinnlose Prozedere bei der Sicherheitskontrolle, vom ausgepackten Laptop über die ausgezogenen Gürtel und Schuhe bis zum Metalldetektor, kennt jeder Flugreisende.
Wer die totale Sicherheit anstrebt, kommt um den Generalverdacht nicht herum, denn Terrorist kann schliesslich jeder sein, ein Kind genau so wie ein Greis. Dennoch lohnt es sich, die Opferzahlen des Terrorismus in Relation zu setzen, so wie das kürzlich Jürgen Todenhöfer getan hat, in einem Gastbeitrag für die Berliner Zeitung:
«Von 1970 bis 2012 wurden in den USA und Westeuropa 8131 Menschen durch die verschiedensten Arten von Terrorismus getötet. Das ist viel. Doch mehr als eine Million starben durch ‹gewöhnlichen Mord›. Wir leben nicht im Zeitalter des Terrorismus, sondern im Zeitalter einer gigantischen Irreführung der Öffentlichkeit.»
8131 Menschen in 42 Jahren bedeuten jährlich rund 194 (westliche) Todesfälle durch Terrorismus – demgegenüber kann man viele Zahlen setzen, zum Beispiel die 151 Menschen, die 2011 in den Schweizer Bergen tödlich verunglückten (64 beim Bergwandern, 33 auf Hochtouren, 3 beim Klettern, 21 auf Skitouren, 8 auf Variantenabfahrten und 22 bei anderen Tätigkeiten).
Gemäss Europol starben 2013 in der Europäischen Union sieben Personen aufgrund terroristischer Handlungen: ein britischer Soldat in London, ein älterer Muslim in den britischen West Midlands, zwei Mitglieder einer rechtsextremen Partei in Athen und drei Mitglieder der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) in Paris.
In der Schweiz sind Terroranschläge wie das Attentat in Kloten 1969 und der Bombenanschlag auf den Swissair-Flug 330 1970 zwar nicht vergessen, aber auch nicht omnipräsent. Im Zusammenhang mit dem Art. 260quinquies1 des Strafgesetzbuchs, «Finanzierung des Terrorismus», wurden von 2009 bis 2013 drei Fälle polizeilich registriert, davon in einem auch beschuldigt und aufgeklärt (2012). (Im gleichen Zeitraum gab es übrigens 25 aufgeklärte Straftaten bezüglich Art. 256, «Grenzverrückung» und 43 bezüglich Art. 262, «Störung des Totenfriedens», mehr in der Datenbank des Bundesamts für Statistik).
Während die Personen an der Macht warnen, sichern und überwachen, schätzt die Bevölkerung die statistisch geringe Gefahr von Terrorismus und die durch die Snowden-Leaks erwiesene hohe Gefahr von Internetangriffen absolut richtig ein, wie eine Isopublic-Repräsentativbefragung von 1200 Schweizer Stimmberechtigten zeigt:
Eintrittswahrscheinlichkeit von Bedrohungen – Grafik aus der Jahresstudie «Sicherheit 2014: Aussen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitische Meinungsbildung im Trend», herausgegeben von der Militärakademie an der ETH Zürich und dem Center for Security Studies (CSS), Seite 98.
Trotzdem werden Sicherheitsmassnahmen auf Kosten der Freiheit weiter vorangetrieben, und zwar von einem Dreigespann der Eliten, das aus Politikern, Experten und Journalisten besteht (vgl. «Auf Kosten der Freiheit»), die sich gegenseitig übertrumpfen mit dem Ausmalen von sicherheitsgefährdenden Szenarien. Nicht zu unterschätzen ist, dass bei einem Terroranschlag vom Format 9/11 alle drei Gruppen profitieren würden: Die Politiker können sich dann als unverzichtbare Beschützer des Volkes aufspielen, die Medien und die Experten profitierten von der Aufmerksamkeit, die ein solches Ereignis mit sich bringt.
Dass Exekutivpolitiker, die nach einem Terroranschlag mit Opfern (vor allem durch totale Sicherheit fordernde Medien) in die Kritik geraten, eher pro Überwachung reden, ist durchaus nachvollziehbar. Barack Obama verteidigte im Juni 2013 in Berlin das Internet-Überwachungsprogramm PRISM, durch das «mindestens 50 Bedrohungen» vereitelt wurden, darunter auch in Deutschland. «Also wurden Leben gerettet», sagte Obama weiter.
«Diese Behauptungen sind übertrieben und sogar irreführend», stellt dagegen der Bericht «Do NSA’s Bulk Surveillance Programs Stop Terrorists?» der New America Foundation fest, eine Non-Profit-Organisation in Washington. Sie untersuchte 225 Fälle von Personen, gegen die seit 9/11 Anklage wegen terroristischer Aktivitäten erhoben wurde. In lediglich 4 davon (1,8 Prozent) stammte der Anstoss zur Untersuchung aus der Massenüberwachung der Telefon-Metadaten (NSA Bulk Collection Under Section 215). In 10 davon (4,4 Prozent) wurde die Untersuchung durch eine NSA-Überwachung von Nicht-US-Bürgern ausserhalb der USA ausgelöst, in 3 davon (1,3 Prozent) durch NSA-Überwachung einer nicht-identifizierten Behörde (hier eine detailierte Auflistung).
Grafik aus der Untersuchung «Do NSA’s Bulk Surveillance Programs Stop Terrorists?» der New America Foundation
Der Report kommt zum Schluss, dass nicht die mangelnde Datengrundlage das Problem der NSA ist, sondern das Wissen und Verständnis darüber, wie man die existierenden Informationen zielführend auswertet. Die flächendeckende Überwachung verhindert also den Terror bisher kaum oder gar nicht. Edward Snowden äussert sich in einem «Stern»-Interview (Ausgabe 23/2014) wie folgt:
Im Lauf des vergangenen Jahres wurde klar, dass all diese Überwachungsprogramme nicht halfen, auch nur ein einziges Menschenleben vor einem Terroranschlag zu retten. Der grösste Erfolg war wohl der Nachweis, dass ein Taxifahrer Geld nach Somalia überwiesen hatte. Das hätte man auch mit klassischen Methoden ermitteln können.
Viele Journalisten haben irgendwann mal den 1949 veröffentlichten Roman «1984» von George Orwell gelesen (und wer es noch nicht getan hat, dem sei die Lektüre empfohlen). Das Internet hat Orwell nicht vorhergesehen, aber die Zustände, die er vor 65 Jahren beschrieb, sind von den heutigen so weit nicht weg (archive.org, Seite 235/236):
Mit der Entwicklung des Fernsehens und bei dem technischen Fortschritt, der es ermöglichte, mit Hilfe desselben Instruments gleichzeitig zu empfangen und zu senden, war das Privatleben zu Ende. Jeder Bürger oder wenigstens jeder Bürger, der wichtig genug war, um einer Überwachung für wert befunden zu werden, konnte vierundzwanzig Stunden des Tages den Argusaugen der Polizei und dem Getrommel der amtlichen Propaganda ausgesetzt gehalten werden, während ihm zugleich alle anderen Informationsquellen verschlossen blieben.
Jetzt, zum ersten Mal, bestand die Möglichkeit, allen Untertanen nicht nur vollkommenen Gehorsam gegenüber dem Willen des Staates, sondern auch vollkommene Meinungsgleichheit aufzuzwingen.
Orwell kennen wir heute als Schriftsteller, seinen Zeitgenossen war er aber vor allem als Journalist bekannt. Man kann aus seinem Buch den Schluss ziehen, dass lückenlose Überwachung totalitär ist und die gefährlichste Situation für Menschen dann besteht, wenn eine Bürokratie die Übermacht gewinnt, hinter der sich Täter verstecken können. Wenn nicht mehr der einzelne Bürger mit seinen Sorgen und Nöten im Zentrum der demokratischen Gesellschaft steht, sondern ein allem übergeordnetes ideologisches Ziel. Im Namen der Sicherheit und der Terrorabwehr nimmt derzeit eine solche Übermacht ihren Platz ein – und kaum jemanden scheint es zu stören. Nicht mal Journalisten (die eigentlich die kritische Öffentlichkeit bilden sollten), wie auch Glenn Greenwald in seinem Buch festhält (vgl. «Gegen Journalisten, die der institutionellen Autorität dienen»). Viele der etablierten Journalisten führen heute nur noch Scheindebatten innerhalb der von der Regierung wohlwollend akzeptierten Grenzen – weshalb die Regierung wirklich herausfordernde Figuren wie Edward Snowden, Chelsea Manning, Julian Assange, Glenn Greenwald, Laura Poitras und auch George Orwell für die kritische Öffentlichkeit wichtiger werden.
Der Wunsch nach totaler Sicherheit ist heute in vielen Lebensbereichen zu spüren. Der Strassenverkehr soll ohne jedes Opfer auskommen, die Utopie Vision Zero ist heute im Gesetz verankert als Via Sicura. Kinder wachsen überbehütet auf – wäre nicht die Schulpflicht, dürften wohl einige bis in die Pubertät nicht einen unbeaufsichtigten Schritt tun. Männer, die mit Kindern im Umgang sind, werden nicht selten pauschal als mögliche pädophile Gewalttäter eingestuft, im Mai erst haben die Schweizer Stimmbürger die Volksinitiative «Pädophile sollen nicht mehr mit Kindern arbeiten dürfen» angenommen.
Ausufernde Sicherheitswünsche gehen zulasten der Freiheit und zulasten von Möglichkeiten und Rechten. So wie totale Transparenz führt auch totale Sicherheit am Ende in totalitäre Zustände. Ist denn nahezu vollständige Sicherheit und Kontrolle wirklich beängstigender als totale Sicherheit und Kontrolle? Oder ist es nicht umgekehrt? Wer nicht in der Unfreiheit von «1984» erwachen will, fährt besser, zu akzeptieren, dass 90 Prozent oder 95 Prozent an Sicherheit ausreichen.
Eine Vision der Menschheit in totaler Sicherheit und Kontrolle, inklusive sofortiger Befriedigung jedes aufkommenden individuellen Willens hat 2008 der Disney/Pixar-Film «Wall-E» gezeigt:
Wollen wir denn so leben?
Moritz Kaufmann 18. Juni 2014, 11:59
Kluger Text. Und endlich wird George nach all den platten 1984-Vergleichen mal richtig gewürdigt.
Martin Steiger 18. Juni 2014, 14:12
Die Erwähnung der Rolle der Journalisten ist besonders wichtig. In der Schweiz gibt es leider keinen einzigen Journalisten, der sich mit den Snowden-Dokumenten befasst – vielleicht fehlt es auch aus diesen Gründen an direkten Enthüllungen zur Schweiz?
Oli 19. Juni 2014, 14:25
Die Frage, ob die niedrige Zahl von Terroranschlägen damit zusammenhängt, dass es gar keine echte Bedrohung gibt, oder eher damit, dass die Geheimdienste eine gute Arbeit leisten, scheint mir berechtigt und wird in diesem Beitrag nicht wirklich geklärt. Auch halte ich den Kollektivvorwurf an „die Journalisten“ als Gehilfen eines Sicherheitstotalitarismus etwas wenig differenziert.
Trotzdem ist der Grundgedanke und die Stossrichtung des Textes unbedingt zu unterstützen. Denn die Sicherheit dient letztlich oft nur als Vorwand, um wirtschaftliche Interessen durchzusetzen. An Festivals gibt es teilweise Eingangskontrollen, bei denen Besucher mit dem Hinweis auf die Sicherheit die Getränke abgenommen. Wahrscheinlicher ist indes, dass es den Stadionbetreibern darum geht, mehr Getränke selber zu verkaufen. Ein Verdacht, der sich übrigens auch auf den Flughäfen aufdrängt.
Auch die Immigrationsdebatte wird häufig mit Verweis auf die Sicherheit geführt, auch wenn dahinter meistens ganz andere Motive stehen.
bob 20. Juni 2014, 10:16
Dass die Geheimdienste eine gute Arbeit leisten, zumindest im Sinne des Textes, kann man ausschliessen. Die Geheimdienste hätten ja ein grosses Interesse, Erfolge (die nie geheim sein können) zu präsentieren, wenn es sie denn gäbe.
Im Text ist die Untersuchung der New America Foundation erwähnt. Oder wie John C Inglis gesagt haben, soll ging es nur um einen einzigen „Erfolgsfall“:
„… NSA’s outgoing deputy director John C Inglis … admitted that the NSA’s mass surveillance program had foiled a total of one terrorist plot … in its entire history.“
http://boingboing.net/2014/01/13/nsa-official-mass-spying-has.html
bob 20. Juni 2014, 10:14
Gratulation zu diesem Text.
Man mag nicht ganz überall einverstanden sein, aber im Grundsatz sehr gut.
Bspw. sind Vergleiche von Menschenleben nicht nur in diesem Fall problematisch; die Unmittelbarkeit oder Betroffenheit (und viele weitere Faktoren) spielen auch bei Katastrophen, Unfällen usw. eine ähnliche Rolle. Diese Form von Irrationalität scheint generell zuzunehmen, ebenso wie die teilweise irrationale Forderung nach mehr Sicherheit.
Bitte dran bleiben!
Clyde Burke 01. Juli 2014, 12:14
Die in Anlehnung an Josef getextete Headline finde ich voll daneben.
Ronnie Grob 01. Juli 2014, 12:22
Und weshalb?