von Lothar Struck

Sehnsucht nach Autorität

Warum wird Schriftstellern a priori zugestanden, ein qualifizierteres politisches Urteil fällen zu können als die mit der Sache beschäftigten Fachleute oder der Durchschnittsbürger? In der Zuweisung des Schriftstellers als eine Art «Universalgelehrter» lebt immer noch der Geniekult des 18. Jahrhunderts weiter. Eine literaturgeschichtliche Einordnung von Lukas Bärfuss‘ Auftritt als Schweiz-Kritiker.

«Die Schweiz ist des Wahnsinns». So lautet die Überschrift eines Aufsatzes des Schriftstellers Lukas Bärfuss, der in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 15.10.2015 abgedruckt war. Die Überschrift fasste auch gleich den Inhalt des Textes zusammen. Kein gutes Haar lässt Bärfuss an der Schweiz, die er wie ein Psychiater untersucht. Dabei macht sich Bärfuss unter anderem Sorgen um das Wirtschaftswachstum der Schweiz und um das Ansehen des Landes im Ausland, um dann die Bevölkerung pauschal als «ein Volk von Zwergen» zu charakterisieren.

Als aussenstehender Deutscher hätte man einen solchen Text eher von dem Berufskritiker der Schweiz Jean Ziegler erwartet. Aber bereits seit geraumer Zeit äussert sich auch Lukas Bärfuss zu gesellschaftspolitischen Fragen der Schweiz – und wird gehört. Mit seiner rhetorischen Vehemenz katapultiert er sich selbst zum Nachfolger von Schweiz-Kritikern wie Max Frisch, Friedrich Dürrenmatt und Niklaus Meienberg.

Die «Einmischung» des Schriftstellers zu politischen und gesellschaftlichen Fragen ist nicht neu. Sie erreichte schon im 19. Jahrhundert eine erste Blüte. Gründe waren hierfür die politischen Umbruchsituationen wie Aufklärung, Vormärz oder die Revolutionen von 1848/49, einher gehend mit einer stärkeren Politisierung einer zunehmend besser alphabetisierten Bevölkerung und die technische Weiterentwicklung des Buch- und Zeitschriftendrucks. Immer häufiger und wirkungsvoller traten Schriftsteller neben (bzw. in) ihren dichterischen Werken auch als politische Publizisten in Leitartikeln, Glosse oder Pamphleten auf. Unter anderen wären Heinrich Heine, Georg Büchner, Bettina von Arnim, Ludwig Börne und aus der Schweiz vor allem Gottfried Keller zu nennen.

Am 13. Januar 1898 publizierte der französische Schriftsteller Emile Zola in der Zeitung «L’Aurore» einen offenen Brief an den französischen Präsidenten zur sogenannten «Dreyfus-Affäre». Drei Jahre zuvor war der französische Hauptmann Alfred Dreyfus unter dem Vorwand der Spionage für Deutschland festgenommen, abgeurteilt und auf die sogenannte Teufelsinsel vor Französisch-Guayana interniert worden. Zolas Text mit dem emphatischen Titel «J’accuse» («Ich klage an») bündelte die inzwischen aufgekommenen Ungereimtheiten bei der Beweisführung, die jedoch allesamt offiziell ignoriert wurden. Er kam am Ende zu dem Schluss, dass Dreyfus unschuldig und das Opfer einer Verschwörung von Militär, Geheimdienst und Politik geworden war. Verstärkend war hier der bei den damaligen Eliten weit verbreitete Antisemitismus – Dreyfus war Jude. Zola wurde für seinen Text zu einem Jahr Gefängnis verurteilt und floh vor Antritt der Haftstrafe nach England. Erst knapp anderthalb Jahre später kehrte er nach Frankreich zurück, nachdem er begnadigt worden war. Die vollständige Rehabilitierung von Dreyfus 1906 erlebte er nicht mehr.

Bereits in seinen Romanen thematisierte Zola die politischen, ökonomischen und sozialen Ungerechtigkeiten der französischen Gesellschaft. Mit «J’accuse» wurde jedoch eine neue Qualität des politisch engagierten Schriftstellers erreicht. Der Text war mehr investigative, journalistische Recherche als politisches Pamphlet. Seine Intervention ist bis heute Vorbild, weil sie tatsächlich den Wendepunkt in der Dreyfus-Affäre einläutete und wirkungsvoll die Verkrustungen der französischen Eliten bis hinein in die Justiz blosslegte. Der Schriftsteller als politischer Aktivist, dessen Handeln Veränderungen auslösen konnte, war geboren.

Insbesondere in Deutschland feierte man mit der informellen Schriftstellervereinigung der «Gruppe 47» ab den 1960er Jahren eine Renaissance des aktivistischen Schriftstellers. Die Mehrzahl der «Gruppe 47»-Mitglieder hatte das eher halbherzige Engagement der deutschen Intellektuellen zur Weimarer Republik (1919-1933) und den anschliessenden Aufstieg des Nationalsozialismus noch in bitterer Erinnerung. Die Folge war nun ein hybrides publizistisches Unterstützungsmanagement von Proklamationen und «Resolutionen», besonders befeuert vom Initiator der Gruppe, Hans-Werner Richter und vor allem Günter Grass. Max Frisch nannte in seinen Aufzeichnungen Grass‘ «Hang zur Publizität» eine «Sucht». Grass hatte zwischen 1965 und 1972 offensiv Wahlkampf für den sozialdemokratischen Kanzlerkandidaten Willy Brandt gemacht. Das in Schriftsteller- und Kritikerkreisen kursierende Vorurteil, dass unter einer zu starken Beschäftigung mit politischen Fragen die literarisch-ästhetische Kraft leide, sah Grass nicht (andere schon). Aber selbst Richter wurde mit der Zeit die Koordination der zahlreichen Erklärungen und Unterschriftensammlungen zu allen möglichen politischen Themenfeldern zu viel.

Heutzutage ist die öffentliche politische Positionierung des Schriftstellers nahezu Alltag geworden. Es vergeht kaum eine Sendung des fünfmal wöchentlich ausgestrahlten 3sat-Fernsehkulturmagazins «Kulturzeit» in der nicht politische Engagements von «Intellektuellen und Schriftstellern» (sic!) zu aktuellen politischen, ökonomischen, ökologischen und/oder sozialen Fragen publiziert und kommentiert werden. Wo sie vermeintlich fehlen, werden sie bisweilen angefordert. Der Schriftsteller als Aktivist – für die Menschenrechte, den Weltfrieden, die Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit, Klimaverträglichkeit, gegen Grosskonzerne, usw. Gerne wird in diesem Zusammenhang das hohe Lied auf die politische Literatur intoniert. Diese Sicht geht zuweilen bis in die Stockholmer Akademie, die alljährlich den Literaturnobelpreis vergibt.

Leicht vergessen wird dabei, dass das politische Engagement der Schriftsteller durchaus ambivalent gesehen werden muss. Es gab schreckliche Verirrungen. So begrüsste nahezu die gesamte künstlerische Avantgarde 1914 den beginnenden europäischen Krieg als notwendige Begradigung und «Reinigung» angeblich unfähiger Politik – unter ihnen auch Thomas Mann. Die junge Demokratie in Deutschland, die 1919 etabliert wurde, war auch bei denen eher unbeliebt und wurde hart kritisiert, die heute als hellsichtige Zeitgenossen gelten. Während des Schreckensregimes des Nationalsozialismus gingen Schriftsteller, die nicht exilieren konnten oder wollten, in die sogenannte innere Emigration; sie versuchten irgendwie durchzukommen. Aber es gab eben auch ideologische Sympathisanten für faschistische Ideen wie Ezra Pound, Knut Hamsun, Gottfried Benn oder Louis-Ferdinand Céline – die Liste liesse sich problemlos verlängern. Und auch auf der anderen politischen Seite gab es Irrende. Louis Aragon, Ernst Bloch, Lion Feuchtwanger und Jean-Paul Sartre verteidigten beispielsweise die Säuberungsaktionen Stalins und die Gulags als eine bittere Notwendigkeit um am Ende eine bessere Gesellschaft zu erschaffen.

Warum wird Schriftstellern a priori zugestanden, ein qualifizierteres politisches Urteil fällen zu können als die mit der Sache beschäftigten Fachleute oder der Durchschnittsbürger? Der journalistische (wie auch der akademische) Betrieb rekurriert normalerweise auf Fachleute mit entsprechenden Formalqualifikationen. Der Schriftsteller hingegen scheint ein universalistisches Expertentum zu besitzen, obwohl die Erfahrungen der Vergangenheit mitunter anderes zeigen. In der Zuweisung des Schriftstellers als eine Art «Universalgelehrter» lebt immer noch der Geniekult des 18. Jahrhunderts weiter.

In der vorliegenden Causa Bärfuss verblüfft, dass der Autor die «Direkte Demokratie» in der Schweiz ursächlich dafür verantwortlich macht, den «nationalen Karren […] so tief in den Dreck gefahren» zu haben, «dass keiner weiss, wie er jemals wieder befahrbaren Boden unter die Räder bekommen soll.» Wäre es nicht die genuine Aufgabe der Politik, auch mit vielleicht unpassenden oder unbequemen demokratisch zustande gekommenen Entscheidungen handlungsfähig zu bleiben? Bärfuss zieht dies nicht ins Kalkül, sondern suggeriert in seinen Äusserungen, das «Heiligtum» direkte Demokratie besser gleich abzuschaffen oder zumindest zu reglementieren. In Anlehnung an das berühmte Zitat Brechts, ob es nicht einfacher wäre, die Regierung löse das Volk auf und wählte sich ein neues könnte man Bärfuss‘ Interpretation dahingehend interpretieren, dass Abstimmungen und Wahlen immer nur noch dann abgehalten werden sollten, wenn sie die (von ihm) gewünschte Resultate erbringen.

Dem Wunsch von Künstlern und Intellektuellen nach einem politischen Engagement liegt eine starke, unterschwellige Sehnsucht nach Autorität und Unterordnung zu Grunde. Der Schriftsteller als Intellektueller wird dabei zu einer Art ausserparlamentarischer Rädelsführer stilisiert, der im Besitz der Wahrheit ist. Er betreibt Komplexitätsreduktion, postuliert extreme politische Positionen, wohl wissend, dass sie realpolitisch nicht umsetzbar sind. Die Legitimation wird durch die (imaginäre) vierte Gewalt der Journalisten erteilt, die seine Äusserungen veröffentlichen. So entwickeln sich publizistische Rollenspiele, die schnell zu Automatismen führen. In dem bereits erwähnten Tagebucheintrag Max Frischs zu Grass schreibt Frisch von «Staatsschriftsteller(n)» (gemeint ist neben Grass auch Heinrich Böll). So absurd diese Bezeichnung in Anbetracht der staats- und regierungsoppositionellen Stellungnahmen von Grass und Böll auf den ersten Blick anmutet (müsste man nicht eher von einem «Anti-Staatsschriftsteller» sprechen?), so stimmig erscheint diese Zuweisung bei der näheren Betrachtung: Die Rolle des «guten Gewissens der Nation», die den beiden im Laufe der Jahre zukam, hatte am Ende nahezu staatstragende Dimensionen: Solange solche Stimmen noch möglich waren, konnte es nicht ganz so schlecht mit dem Land stehen. Dass Frisch Jahre später ebenfalls in die Rolle als eine Art Schweizer Staatsschriftsteller gepresst wurde, entbehrt in diesem Zusammenhang nicht einer gewissen Komik.

Wie fragil die Rolle des Schriftstellers als «moralische Instanz» sein kann, zeigte sich 2006, als Grass gestand, 1944/45 als 17jähriger Soldat einer Einheit der Waffen-ss angehört zu haben. Weniger die Tatsache dieser Verirrung an sich schlug hohe Wellen, sondern dessen vermeintliches Verschweigen über mehr als 60 Jahre (enge Freunde sollen es gewusst haben). Dabei wurde ausser Acht gelassen, dass Grass‘ politische Stellungnahmen über Jahrzehnte hinweg nicht wahrer oder falscher dadurch waren, ob er nun diesen Teil seiner Biografie verschwiegen hatte oder nicht.

Aber wie sieht es eigentlich aus, wenn Schriftsteller politische Stellungnahmen abgeben, die mit dem Mainstream der Meinungsführer in den Redaktionen nicht übereinstimmen? Der Philosoph Peter Sloterdijk rekapitulierte 2009 über die Exzesse im französischen, stark moralistisch geprägten Kulturjournalismus: «Unübersehbar war die geistige Dekomposition während der letzten Jahre bei den nationweit ausgreifenden medialen Treibjagden auf vermeintliche Konvertiten oder Verräter der fortschrittlichen Sache, die man nach scheinmoralischen Schauprozessen auf der Place de Grève der öffentlichen Meinung hinzurichten versuchte.» Und über das deutsch(sprachig)e Feuilleton schrieb Sloterdijk damals: «Die Analogie zu den deutschen Skandalphänomenen der letzten anderthalb Jahrzehnte springt ins Auge – denn auch hierzulande konnte das dominante linksliberale Feuilleton seine zunehmende Weltfremdheit nur durch erhöhte moralische Aufgeregtheit kompensieren.»

Neben den Aufregungen zu seinem eigenen Text «Regeln für den Menschenpark» dachte Sloterdijk womöglich auch an die Auseinandersetzungen über Peter Handkes zwischen 1995 und 2006 entstandenen Jugoslawien-Texte, in denen er erzählerisch und essayistisch die Berichterstattung und die einseitigen Schuldzuweisungen der Medien in den Jugoslawienkriegen befragte. Wie wurden und werden die zuweilen sperrigen, konservativ-kritischen Einwände von Schriftstellern wie Botho Strauss, Sibylle Lewitscharoff oder Martin Walser abgehandelt? Bis auf wenige Ausnahmen wurden in den genannten Fällen die ansonsten so sehnsüchtig erwarteten Kommentare der Schriftsteller mit grossem rhetorischen Furor abgekanzelt. Man scheute dabei auch vor der Diffamierung des jeweiligen Autors ad personam nicht zurück. Das «Verbrechen», dass die Genannten begangen hatten: Ihre Äusserungen widersprachen der «richtigen» Gesinnung, dem Common Sense. Damit scheint der wichtigste Grund für den Wunsch des öffentlichen gesellschaftspolitischen Engagements des Intellektuellen gefunden: Es geht darum, die jeweils eigene politische Meinung bestätigt, ausformuliert, verstärkt und schliesslich beglaubigt zu finden. Oliver Zimmer, Professor für moderne europäische Geschichte an der University of Oxford, nennt dies in seiner Replik zum Bärfuss-Text in der Neuen Zürcher Zeitung die «jakobinische Position, die für Teile der Linken bis heute wegweisend geblieben ist. Sie geht davon aus, dass es zu zentralen Fragen immer nur zwei Sichtweisen geben kann: die wahre und die falsche. Die wahre ist stets nur einer relativ beschränkten Avantgarde zugänglich.»

Inzwischen gibt es zeitgenössische SchriftstellerInnen, die fast nur noch als Ein-Mann-NGOs (bzw. Ein-Frau-NGOs) wahrgenommen werden. Ihre literarischen Werke – falls überhaupt noch welche entstehen – treten hinter ihrer politischen Agitation nahezu in den Hintergrund. In Zeiten eines Journalismus, der sich mehr und mehr ebenfalls parteiisch und aktivistisch gibt und der den Namen des Journalisten als publizistische Marke setzt, wird der sich politisch eindeutig bekennende Schriftsteller von der Referenzgrösse zum Komplizen. Das Feuilleton wird sich sehr viel stärker auf die politische Bearbeitung von Ereignissen fokussieren. Literatur wird zunehmend als «l’art pour l’art», als Nebensache, subsumiert werden, sofern sie nicht eine «Botschaft» transportiert. Es muss natürlich unbedingt die «richtige» Botschaft sein.

Die beiden Zitate von Peter Sloterdijk stammen aus dem Buch «Theorie der Nachkriegszeiten», Suhrkamp Verlag, 2009, S. 44-45.

Der Autor hat u. a. ein Buch über Texte Peter Handkes zu Jugoslawien und die Rezeption hierauf in den Feuilletons verfasst: «’Der mit seinem Jugoslawien‘ – Peter Handke im Spannungsfeld zwischen Literatur, Medien und Politik», Ille & Riemer, 2013/2015 (auch als E-Book erhältlich)

Leserbeiträge

Thomas Läubli 25. Oktober 2015, 21:00

Dieser überlange Text ist ebenfalls intellektuell und sehnt sich nach Autorität. Dabei liesse sich die allererste Frage viel kürzer beantworten. Es sehnt sich hier niemand nach Autorität. Autorität erhält derjenige, der für seine Meinung Anerkennung erhält. In einer Demokratie äussern sich ausser den Kulturschaffenden auch Politiker, Wirtschaftsführer, Wissenschaftler, Journalisten, Werber, Blogger usw. Dass hier wieder einmal nur bei den Kulturschaffenden versucht wird, deren Meinungsäusserung zu diskreditieren, sagt mehr über den Autor dieser Zeilen aus als über die Kulturschaffenden.

Lothar Struck 25. Oktober 2015, 23:03

Ich bedauere das dieser Text mit seinen vier Seiten (TNR 12) für Sie „überlang“ und zu intellektuell ist. im Text selber geht es eben nicht um die Meinungsäußerungen von Wirtschaftsführern, Journalisten oder Politikern. Es ging – das haben Sie richtig erkannt – um die Meinungsäußerung von Schriftstellern, Intellektuellen oder, wie Sie es nennen, „Kulturschaffenden“. Dies als Vorwurf zu formulieren ist lächerlich. Um eine Diskreditierung handelt es sich übrigens nicht. Eher um den Versuch einer Einordnung. Das dieser Versuch Ihrer Meinung nach gescheitert ist, muss ich hinnehmen.

Thomas Läubli 27. Oktober 2015, 02:20

Ja, Ihr Versuch einer Einordnung ist gescheitert. Und das liegt gerade an der Psychologisierung des Schriftstellers. Wenn psychologisiert oder soziologisiert statt argumentiert wird, kann man zeigen, dass die Psychologisierung bzw. Soziologisierung gleichermassen auf alle anderen inklusive den Autor des Textes anwendbar ist. Damit verlieren Ad-hominem-Versuche ihre Erklärungskraft.

Im übrigen halte ich Sloterdijk für einen Schwätzer, sehe nicht ein, warum Grass durch sein Schweigen als moralische Instanz gelitten haben soll, kann beurteilen, dass Pound, Benn und Sartre gut schreiben konnten, und lese gerne Bücher von Handke und Botho Strauss. Was letzterer an Kulturkritik (siehe «Bocksgesang») anzubringen hat, kann ich grossenteils unterschreiben. Insbesondere bei der Verdummung der Bevölkerung durch die gekauften Medien dürfte er sich wiederum mit Bärfuss treffen, worauf Sie ja gar nicht eingegangen sind.

Hingegen teile ich Ihre Sorge um die Politisierung der Kulturschaffenden (so nennt man sie in der Schweiz) in derjenigen Hinsicht, dass sie in den Medien sich immer häufiger zu politischen Themen äussern müssen statt über Literatur, Kunst und Musik reden zu dürfen. Dieser Trend ist leider auch in bisher eher neutralen Tageszeitungen wie der FAZ und der NZZ («Politisches Feuilleton») zu beobachten. Nur hat sich Bärfuss eben freiwillig aus innerer Notwendigkeit geäussert, und viele Schweizer sind froh darum, weil hier selbst Leitmedien zunehmends nur noch kommerziellen und (partei-)politischen Interessen dienen. Diese um unser System besorgten Schweizer sehen es u.a. auch kritisch, wie der Chefredaktor der Weltwoche, Roger Köppel, durch die deutschen Talkshows gereicht wird. Diesem Herrn könnte man nämlich zu Recht eine Sehnsucht nach Autorität unterstellen.

Urs Hochstrasser 26. Oktober 2015, 15:08

Warum wird Schriftstellern a priori zugestanden, ein qualifizierteres politisches Urteil fällen zu können?

Genauso könnte man fragen, warum wird es Journalisten zugestanden, oder Bloggern, oder einfachen Bürger in der Gemeindeversammlung?

Lothar Struck 26. Oktober 2015, 15:29

Nicht ganz. Es geht darum, dass Medien die intellektuellen Stimmen zu politischen und/oder gesellschaftlichen Fragen geradezu anfordern. Es geht nun nicht darum, ihnen diese Meinungen oder Urteile nicht zugestehen zu wollen. Ich frage mich eben nur, warum sie von besonderer Relevanz sein sollen. Es wird ja immer dargestellt, als sei der Schriftsteller eine Art primus inter pares. Statt eines Dichters könnte man sich genau so gut die Stellungnahme eines Physiknobelpreisträgers, einer Supermarktkassiererin oder eines LKW-Fahrers einholen.

Ihr Einwand bzgl. der Journalisten greift nicht, denn es sind ja gerade die „Gatekeeper“ , die entscheiden, was publiziert wird und was nicht. Das zweite Problem des Journalismus ist, dass er in den meisten Fällen längst nicht mehr versucht, möglichst neutral zu berichten und das Urteil dem Rezipienten überlässt, sondern bereits eine Meinung anbietet. Hierfür sucht der Journalismus natürlich Referenzen wie bspw. Schriftsteller.

Urs Hochstrasser 26. Oktober 2015, 15:56

Wenn man Relevanz meint, sollte man es auch so formulieren. Genauigkeit beugt i.d.R. Missverständnissen vor 🙂
Ich erwähnte die Journalisten als Gegensatz zum Schriftsteller, weil ihnen meist wie selbstverständlich das Recht und der Raum zugestanden wird, in ihrer Zeitung politische Vorgänge zu kommentieren. Die Gatekeeper-Funktion würde im Idealfall zur Qualität beitragen, ist aber in der Praxis fragwürdig geworden, da stimme ich Ihnen zu.
Ich persönlich finde: Der Bärfuss schreit? Umso besser! Dann gibt es etwas zu diskutieren. Wenn er vielleicht auch nicht in allen Punkten ins Schwarze trifft, so ist sein Beitrag bestimmt nicht dumm. Über die „Zwerge“ beleidigt zu sein ist da schon fast herzig.

Thomas Läubli 27. Oktober 2015, 02:29

Ihre Romantisierung des Proletariats in Ehren, aber ich glaube nicht, dass eine Supermarktkassiererin oder ein LKW-Fahrer gleich viel über den Zustand einer Demokratie zu sagen hat als ein Kulturschaffender. Wir können diese Leute gerne interviewen und in Talkshows einladen, aber sie dürften wohl kaum über grössere Zusammenhänge, sondern eher über ihre Arbeits- und Lebensbedingungen etwas zu sagen haben. Man sollte sich vielmehr über Politiker, die bloss Unternehmer in einer Firma oder Juristen sind, wundern, die bspw. beim Kulturbudget entscheiden, welche Kultur staatliche Unterstützung verdient und welche nicht. Das sind für mich eigentlich die viel seltsameren „Autoritäten“.

Lothar Struck 29. Oktober 2015, 14:55

Um eine „Romantisierung des Proletariats“ geht es mir nicht. Aber ich fürchte auch, dass eine Hagiographisierung der „Kulturschaffenden“ ähnlicher Unsinn ist. Die tatsächliche Crux liegt aber darin, dass die Rezeption von politischen Texten von Schriftstellern nur nach einem kruden Freund-Feind-Verhältnis eingeordnet werden. Sie betreiben das selber (Sloterdijk „Schwätzer“). Sie als Leser „dürfen“ das ja auch. Aber Medien gehen ähnlich vor: Solange die Tendenz der Texte mit ihrem Weltbild übereinstimmt, wird sie als vorbildhaft dargestellt. Handelt es sich um differenziertere, nicht „passende“ Texte, werden sie verteufelt. Daher erwähnte ich Handke und Strauß. (Über Handke habe ich ein Buch über seine Jugoslawien-Texte und die Rezeption im Feuilleton geschrieben – kurz gesagt: es war haarsträubend, wie man Handke diffamiert hat. Und das hat nichts damit zu tun., ob ich seine Schlußfolgerungen in allen Punkten teile.)

Ihr Hinweis auf die staatlichen Geber zu Kultursubventionen ist in diesem Zusammenhang sehr wichtig (ich hätte es gerne aufgenommen, aber dann wäre mein Text noch länger geworden). Hier wird ja meist nach politischen Sympathien gehandelt.

Werner T. Meyer 27. Oktober 2015, 18:09

The proof of the pudding is in the eating.
Wenn ich Lukas Bärfuss eine Einsicht in politische Vorgänge zutraue, die man manchem Chefredakteur wünschen möchte, dann weil er es bewiesen hat.

Seine Analyse in 100 Tage fass Wikipedia beispielsweise so zusammen:

Ein anderes zentrales Thema ist der Vorwurf, dass die Schweizer Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit in Ruanda von Anfang an dem Mordsystem diente, ohne sich dessen bewusst zu sein. Entwicklungshilfe ist auf Stabilität ausgerichtet und nützt deshalb immer dem, der an der Macht ist. Man hatte keinen Sinn für die Konsequenzen dessen, was man tat und dachte nicht darüber nach, wem man nützte, weil man sich als unpolitisch verstand. Man half Telefonleitungen legen, durch die später Mordbefehle weitergegeben wurden, man bot eine hervorragende Ausbildung im Radiojournalismus an, so dass die Hetze in gut gemachten Programmen stattfand. Und ein Schweizer, der bis 1993 direkt auf der Schweizer Gehaltsliste stand, war der Berater des Diktators.

Liest man solchen Klartext in unseren Zeitungen ?
Punkt. Lesen Sie bitte auch den Orginaltext: Link hinter
„Die Schweiz ist des Wahnsinns“ im Artikel
MfG
Werner T. Meyer

Lothar Struck 29. Oktober 2015, 14:45

Mit seinem Text bzw. Teilen seines Textes hätte Bärfuss in den Kommentarspalten der FAZ niemals auch nur die Zensurschranke überwunden. Wer von einem „Volk von Zwergen“ redet und sich um das Wirtschaftswachstum der Schweiz sorgt bedient womöglich Affektkanäle, aber auch nicht mehr. Intellektuell ist der Text höchst bescheiden. Dass man bei der FAZ ausgerechnet Roger Köppel als Gegenredner engagierte, halte ich allerdings auch nicht für eine gute Idee.

Mit Ihrem Stoßseufzer „Liest man solchen Klartext in unseren Zeitungen“ liefern Sie einen Beleg für meine These, dass man die politischen Äußerungen von Schriftstellern immer besonders gerne hört, wenn sie das eigene Urteil stützen. Und natürlich kann ein Schriftsteller in seinen Romanen Vorwürfe erheben, wie er möchte. Sie müssen noch nicht einmal stimmen.

die_kalte_Sophie 28. Oktober 2015, 11:48

Ich habe mich auch schon geraume Zeit mit dem Personen-Institut des Intellektuellen beschäftigt, einer Rolle und einem Diskurs-Klischee gleichermaßen. Abgesehen von Zola, der so reintönig am Anfang steht, das Urbild, das nie mehr erreicht werden sollte, haben wir jetzt schon jede Menge „schlechte Nachahmer“ gefunden. Die Qualität ist recht unterschiedlich. Das reicht (Verzeihen Sie mir das Beispiel!) bis in die Niederungen von Akif Pirincii.
Provokationen, Präpotenz, Weltverbesserei, Ideologie, Polit-Marketing, etc. Die Reihe des intellektuellen und moralischen Elends ist lang.
Ich bin nicht der Ansicht, dass sich hinter dem Phänomen als solchem ein „Wunsch nach Autorität“ verbirgt. Ich bin ziemlich sicher, dass dahinter der „Wille zur Macht“ steckt. Das Modell des Intellektuellen ist etwas links-lastig, daher wird man es den „Willen zur Gegenmacht“ nennen müssen. Mit diesem „Gegen“ verbindet sich auch ein Stück weit der Wunsch nach einer unerreichbaren Überlegenheit. Eine „Gegenmacht“ und ein „Jenseits der Macht“ gleichermaßen. –Aber es gibt kein „Jenseits der Macht“. Das sind nichts weiter als narzisstische Andeutungen, die gleichwohl beeindrucken können.
Im Falle von Lukas Bärfuss ist das klar zu erkennen. Mit seinem Macho-Charme will er uns dominieren. Versucht, die Mädels und den lieben Gott gleichermaßen zu beeindrucken. J’accuse, J’accuse.
Zum Staatsanwalt hat es leider nicht gereicht. Da fehlt (Stichwort: Kompetenz) die Intelligenz. Man muss es so schonungslos sagen. Ansonsten diskutieren wir in 100 Jahren noch darüber.

Lothar Struck 29. Oktober 2015, 15:02

„Willen zur Gegenmacht“ ist gut. Aber die Frage stellt sich: Wozu? Als Beruhigung des (warum auch immer) schlechten Gewissens? Als Möglichkeit zur Profilierung? (Schriftststeller wie Ingo Schulze oder Julie Zeh werden ja noch ästhetisch, über ihre Literatur wahrgenommen, sondern nahezu ausschließlich aufgrund ihres politischen Engagements.)

Und gerät man nicht irgendwann wie Grass, Böll oder Max Frisch in eine Art Hamsterrad? Man kann dann nicht mehr anders, als Stellung zu nehmen – Schweigen würde schon als unzulässige Enthaltung aufgefasst.

die_kalte_Sophie 30. Oktober 2015, 13:23

So weit ich es mir zusammen reimen konnte, ist die „Gegenmacht“ auch eine politische Option, die dem Bedürfnis nach demokratischer Teilhabe entspricht.
Ich erkenne da zwei Phasen des politischen Engagements, zwei Haltungen, wenn man so will. Die Politologen kennen eine Analogie, den „Darstellungspolitiker“ und den „Realpolitiker“. Letzterer verlegt sich auf das Handeln, ersterer auf die Rhetorik.
Links und Rechts sind diesem Schema nicht völlig analog, da auch linke Politiker handeln müssen, sobald sie Ämter und Funktionen belegen. Die Einteilung geht wohl mitten durch den linken Flügel des Spektrums.
Will der Schriftsteller, der Intellektuelle handeln?! Sicher nicht, er will „Mehrheiten erzeugen“. Obwohl es keine Pläne gibt, agiert er wie ein Wahlkämpfer. Sein Profil ist der bürgerliche Aktivist, dem gleichwohl die eigentlichen Machtmittel fehlen.
Politiker, Intellektuelle und Journalisten, das ist im Großen und Ganzen die politische Klasse. Dass es sich durchweg nicht um eine „honorige Klasse“ handelt, ist wohl der Tatsache geschuldet, dass es um Macht geht. Da sind meistens nicht die Klügsten der Klugen aktiv. Dies wiederum widerspricht tendenziell dem Begriff „Intellekt“, aber genau diese Zweideutigkeit macht die Sache ja so interessant. Intelligenten Menschen mit zweideutigen Absichten…