Schnorri-Themen am Abend
«Die Emotionalisierung hat auch ihr Gutes. Sie führte zum Beispiel zu 230 Millionen Franken Spenden beim Tsunami» sagte der ehemalige «Blick»-Chefredaktor und jetzige PR-Mann Sacha Wigdorovits gegen Schluss der fast einstündigen Podiumsdiskussion am «Communication Summit 2011» im gut gefüllten Auditorium Maximum der ETH Zürich. Und doch sei es richtig, wenn ihr Grenzen gesetzt werden. Für Ausländerhetze beispielsweise würde er sich niemals hingeben, schliesslich komme er aus einer jüdischen Flüchtlingsfamilie.
Für die Misere des hiesigen Journalismus machte er die Führungsspitzen der Verlage verantwortlich: «In den Verwaltungsräten ist keine journalistische Kompetenz vorhanden. Diese Leute wissen nicht, was ein gut gemachtes journalistisches Produkt ist.» Er zeigte sich aber auch von den Journalisten enttäuscht: «Die Arbeitsethik der Journalisten, der Wille, Journalismus zu machen, ist heute nicht mehr im gleichen Masse vorhanden wie früher. Das Problem ist, dass viele glauben, Emotionen reichten aus. Es braucht aber auch Recherche.» Das Ziel von so vielen, mit einer Geschichte möglichst sofort und als erste Publikation online zu sein, sei nicht ausreichend: «Die Geschichte muss in erster Linie mal stimmen. Das ist heute vergessen und das ist inakzeptabel. Diese Medien verstehen nicht, dass sie dabei ihren eigenen Ast absägen.»
Nicht nur Wikileaks wurde behandelt – «wäre eine grosse Chance für die Medien» (Marlies Prinzing) bzw. «ein Armutszeugnis für die Journalisten» (Wigdorovits) -, es ging auch um die ewiggleichen und ermüdenden Fragen, ob Journalismus eine Zukunft habe, ob der Journalistenberuf eigentlich noch attraktiv sei und ob Journalisten im Vergleich zu Lehrern nicht viel zu wenig verdienten. Das Thema Emotionalisierung war nur eines von vielen in einer Runde über die Befindlichkeiten der Branche der von den Verbänden ZPV und ZPRG organisierten Veranstaltung.
In der von ECO-Moderator Reto Lipp geführten Runde sassen neben Wigdorovits auch Marlies Prinzing («Die Medien haben in den Fällen Hirschmann und Kachelmann vorverurteilt.»), Peter Röthlisberger («‹Blick› und ‹Blick am Abend› werden nicht fusionieren – Wir haben nicht mal 10 Prozent Doppelleser.») und Karl Lüönd, der feststellte, dass der Begriff «Boulevardzeitung» ein Kampfbegriff der Bildungsbürger sei, es sich eigentlich um eine «Volkszeitung» handle.
Neben dem üblicherweise bei Podiumsdiskussionen zu hörenden Lamento über den allgemeinen Niedergang war immerhin einer aufrichtig gut gelaunt: Die Frohnatur Peter Röthlisberger eröffnete den Abend mit einem bildlastigen Vortrag, in dem er seine Erfolge mit dem «Blick am Abend» präsentierte, auch wenn er zugeben musste, dass das Produkt «noch nicht» rentabel sei. Die Leserzahl wurde verdoppelt, die Auflage stabil gehalten, denn: «Mehr Auflage bedeutet höhere Kosten.»
Von Röthlisberger waren viele betont optimistische Sätze zu hören:
- «Ich glaube nicht, dass die Journalisten schlechter sind als vor zehn Jahren.»
- «Wir unterdrücken keine Neuankömmlinge.»
- «Der Turnaround beim Blick ist geschafft.»
- «Das Schöne ist: Wir sehen am Abend, was wir gemacht haben.»
- «Leute unterhalten ist etwas Nobles.»
Nachhaltigen Eindruck machte dabei ein Foto der Berner Badeanstalt Marzili aus der Vogelperspektive, gesprenkelt mit Dutzenden Badetüchern, auf dem er ganze sieben «Blick am Abend»-Badetücher mit Kreisen fürs Publikum sichtbar identifizierte. Röthlisberger wertete so das gesteckte Ziel, Berührungsängste gegenüber der Marke «Blick» abzubauen, als erreicht. «Das ist eigentlich die grosse Leistung des ‹Blick am Abend›.»
Brombeer als Farbe, die eigenwillige, aber einprägsame Schöpfung von Röthlisberger, kann ihn regelrecht begeistern! Er schwärmte vom «Brombeer-Meer», das abends in den öffentlichen Verkehrsmittel zu sehen sei, und wer Zweifel daran hatte, wurde mit einem Beweisfoto vom Gegenteil überzeugt. Nicht zu Wort meldeten sich jene, in denen das Foto Bilder von Altpapierbergen und Massen geistig Verarmter hervorrief.
Das Konzept der durchaus erfolgreichen Abendzeitung in einem Satz: «Wir wollen mit Verspieltheit ein Schnorri-Thema setzen.» Der Zeitung ist tatsächlich zugute zu halten, dass sie oft ideenreich und witzig ist, kaum je Kampagnen fährt und Empörungsbewirtschaftung auf eine meist gerade noch angemessene Art betreibt. Allerdings verlässt sie sich fast komplett auf die Recherchen anderer und schreibt überhaupt kaum je etwas Verwertbares oder Bedeutungsvolles. Die Zukunft des Journalismus ist da also nicht zu finden. Aber mehr als ein zeitgemässes Unterhaltungsblättchen will der «Blick am Abend» ja auch nicht sein.