von Adrian Scherrer

Das Mantra zum Medienwandel

Vor einem Jahr wurde das Jahrbuch «Qualität der Medien» veröffentlicht. Seither wird eifrig debattiert, ob die Qualität in den vergangenen Jahren nachgelassen habe. Regelmässig gipfelt die Kritik in der Behauptung, die neuen Medien brächten die Demokratie in Gefahr. Neu ist dieser Vorwurf nicht. Wann immer sich die Medienlandschaft wandelt, taucht er mit schöner Regelmässigkeit auf.

Als Ringier am 14. Oktober 1959 den «Blick» lancierte, reagierten die etablierten Zeitungen heftig. Der neuen Boulevardzeitung stehe «auf der Stirne das Geschäft und nicht das Informationsbedürfnis des Lesers geschrieben», der «Blick» verkaufe «Sensationen um der Sensation willen und nicht im Interesse der sauberen Information», schrieben die katholisch-konservativen Zeitungen «Vaterland» und «Bündner Tagblatt». Die massiven Proteste gegen den «Blick» gipfelten in Demonstrationen und einer öffentlichen Zeitungsverbrennung in Luzern, schildern die Medienhistoriker Peter Meier und Thomas Häussler.

Auch der «Tages-Anzeiger» schlug in die gleiche Kerbe: «Man schätzt uns Hirtenknaben schon sehr gering ein, so gerade knapp vor dem Verblöden.» Diese Kollegenschelte ist mittlerweile ein halbes Jahrhundert alt – und gleicht dennoch verblüffend den Argumenten, die heute gegen die Gratiskultur der Pendlerzeitungen und Online-Medien ins Feld geführt werden.

Ende der fünfziger Jahre war der «Blick» die erste Zeitung hierzulande, die eine neue Form von Journalismus pflegte: bildlastig, emotional und personalisiert. Gleichzeitig stieg das Fernsehen als gänzlich neues Medium auf. Beides zusammen führte zu einem tiefgreifenden Wandel der Medienlandschaft. Der Niedergang der Partei- und Gesinnungspresse machte den Forumszeitungen Platz. Pluralismus innerhalb eines Titels begann den Meinungswettbewerb zwischen den Titeln zu ersetzen.

Gegenwärtig befindet sich die Medienlandschaft in einem ähnlich starken Wandel wie in den sechziger Jahren, allerdings mit anderen Vorzeichen. Waren vor fünfzig Jahren die Boulevardpresse und das Fernsehen die Aufsteiger, sind es heute Online-Medien und Pendlerzeitungen. Letztere bedrängen als gedruckte Variante der kostenlosen Häppchenkultur des Internets die abonnierten Forumszeitungen.

Zwar greifen heute Politiker, Intellektuelle und Kulturschaffende nicht mehr zum Zweihänder, wenn sie die Gratiskultur von Pendlerzeitungen und Online-Medien kritisieren, auch Zeitungen werden keine mehr verbrannt. Aber die Kritik fällt deswegen nicht weniger heftig aus. Damals wie heute zielt die publizistische Kritik an den neuen Medien auf journalistisch-handwerkliche und berufsethische Aspekte und die politische Kritik moniert die negativen gesellschaftlichen Auswirkungen.

So sieht zum Beispiel SP-Nationalrat Hans-Jürg Fehr die Demokratie in Gefahr: «Die Presse spielt in der direkten Demokratie eine zentrale Rolle. Einiges deutet darauf hin, dass sie diese wichtige Rolle bereits nicht mehr in allen Landesteilen in der erforderlichen Vielfalt spielt.» Das schrieb Fehr im Postulat, mit dem er den Bericht des Bundesrates zur Lage der Medien einforderte.

Die meisten Verleger sind in Verteidigungsstellung. So wie die Parteipresse 1959 auf den «Blick» – und gelegentlich auch auf das Fernsehen – einprügelte, schiessen die abonnierten Zeitungen heute gegen Online-Konkurrenten. Ob es sich um Google oder die SRG handelt, spielt dabei keine Rolle.

Gelassen gibt sich hingegen Tamedia-Verwaltungsratspräsident Pietro Supino als Verleger von «20 Minuten». Nie sei das Informationsangebot vielfältiger als heute gewesen, wird er nicht müde zu betonen. «20 Minuten» erschliesse eine Zielgruppe, die früher gar keine Zeitungen gelesen habe, junge Leute und Personen ausländischer Herkunft nämlich.

Ähnlich wie Supino reagierte ein halbes Jahrhundert zuvor auch Ringier. Als der Bundesrat auf eine Anfrage im Parlament antwortete, der «Blick» widerspreche «gesunder schweizerischer Pressetradition», hiess es in fetten Lettern in der Boulevardzeitung: «Wir brauchen keine Pressegouvernante.» Schon 1962 konnte Ringier-Manager Heinrich Brunner das Fazit ziehen: «Die Kampagne von Presse und Bundesrat darf als Schlag ins Wasser bezeichnet werden. Man wollte Blick schädigen. Nass geworden ist aber nicht Blick, sondern die Urheber dieses Spiels.»

Supino wurde für seine Äusserungen von Medienwissenschaftlern und Journalisten hart kritisiert. Denn Strukturwandel erzeugt zwangsläufig Aufregung. In der Hitze des Gefechts aber gleich die Demokratie in Gefahr zu sehen, scheint hoch gegriffen. Zumindest zeigt die historische Rückschau, dass der Medienwandel der sechziger Jahre die Demokratie nicht gefährdet hat.

Leserbeiträge

ensuite 29. August 2011, 18:56

Hm. Aber vor 50 Jahren war in der Zukunft von Hoffnung und Vision. Das ist der grosse Unterschied zu heute. Unser medialer Nonsense ist an einem Ende angekommen: Die Medienökonomie ist zusammengebrochen. Die Wirtschaft bezahlt nicht mehr für schlechte Medien. Ich wäre froh, wir hätten wieder einen BLICK wie vor 50 Jahren. Der war besser als das abgeschriebene Kurzfutter, die schlecht recherchierten Baschings oder die PR-gesteuerten Artikel von heute.

Wir dürfen ruhig noch weiter mit dem Mantra meditieren. Wir sind noch nicht gestorben.

Rainer Stadler 30. August 2011, 11:47

Von jemanden, der als Medienhistoriker auftritt, würde ich etwas mehr erwarten als ein paar Fastfood-Anekdoten im Stil von „schon die Römer..“.
Ja klar, auch unter den Römern gab es Traditionalisten und Modernisten.
In historischer Hinsicht würde ja mehr interessieren, wo die Differenzen in der Themen-Wahrnehmung und in den Debattenschwerpunkten liegen, als die Feststellung, dass es ein paar oberflächliche Gemeinsamkeiten zwischen gestern und heute gibt. Der Autor hat offensichtlich den historischen und den medienpolitischen Blick auf sein Thema verwechselt. Damit erliegt er einer verbreiteten journalistischen Krankheit.

Adrian Scherrer 01. September 2011, 15:46

Mir scheinen die Gemeinsamkeiten nicht bloss oberflächlich. Aber selbstverständlich enthält ein Vergleich eines bestimmten Zeitabschnitts mit der Gegenwart auch politische Implikationen. Gerade dies verhindert aus meiner Warte indessen, dass die Mediengeschichte nur im Anekdotischen stecken bleibt.