von Marko Ković

Internet und Demokratie: «Unsere Ergebnisse geben Anlass zur Sorge.»

Eine Analyse von rund 500 wissenschaftlichen Studien zeigt: Das Internet beeinflusst Demokratie positiv und negativ, doch das Negative ist schlimmer als das Positive gut ist. Polarisierung, Populismus, Falschinformation und Hass nehmen zu und das Vertrauen in Institutionen nimmt ab. Es ist höchste Zeit für eine Kurskorrektur.

Als sich das World Wide Web in den 1990er Jahren langsam zu einem Massenphänomen mauserte, keimte die Hoffnung auf, dass damit eine neue Ära der Demokratie anbricht. Die weltweite Vernetzung und der freie Fluss von Informationen und Ideen würden eine «Erneuerung der Demokratie» einläuten, hiess es. Mehr noch: Diese neue «elektronische Demokratie» würde die «alte» Demokratie vor ihren von Geld und Macht geprägten Zerfallserscheinungen retten. Endlich würden auch marginalisierte Stimmen zu Wort kommen und Politik dadurch eine ganz neue Qualität erhalten.

In einer neuen Ära der Demokratie scheinen wir tatsächlich angekommen zu sein – aber sie hat, der gesellschaftlichen Debatte der letzten Jahren zufolge, eher dystopische als utopische Züge angenommen. Extremismus, Radikalisierung, Hass, Cybermobbing, Verschwörungstheorien, Desinformation: Die Pathologien des Internets sind zahlreich und weitreichend. In den vergangenen Jahren fragen wir uns nicht, ob das Internet die Demokratie rettet, sondern eher, ob Demokratie das Internet überleben kann.

Doch wie arg ist die Situation tatsächlich? Ist das Internet wirklich so schlimm, wie wir befürchten, oder vielleicht doch annähernd so gut, wie wir es uns erhofft hatten?

Einzelfälle, die Anlass sowohl zu Pessimismus als auch zu Optimismus geben, gibt es zuhauf. Die QAnon-Verschwörungsbewegung hat viel Schaden angerichtet; das ist schlecht. Online-Kommunikation ermöglicht oder vereinfacht die Proteste gegen das theokratische Regime im Iran; das ist gut. Im Internet werden vulnerable Gruppen wie LGBTQ-Angehörige mit Hass eingedeckt; das ist schlecht. Das Internet gibt marginalisierten Gruppen, die sonst stumm bleiben würden, eine Stimme; das ist gut.

Das Verhältnis zwischen Internet und Demokratie ist keine einfache Schwarz-Weiss-Angelegenheit, sondern eine Beziehung mit Grautönen. Diese Grautöne genau und präzise zu erfassen, ist ausgesprochen schwierig. Eine im November erschienene grosse Übersichtsstudie stellt sich dieser Mammutaufgabe: Die Studienautor:innen haben fast 500 einzelne Untersuchungen aus den letzten 20 Jahren ausgewertet, um zu erfassen, wie es um Demokratie im digitalen Zeitalter steht. Es ist die bislang umfangreichste Studie zu dieser Frage. In den Worten der Studienautor:innen: «Unsere Ergebnisse geben Anlass zur Sorge.»

Das Internet hat politischen Aktivismus befeuert. Dank Online-Kommunikation können sich Protestbewegungen heute einfacher koordinieren.

Einer der klarsten Befunde der Studie ist sehr ermutigend: Die Kommunikationsmöglichkeiten des Internets haben weltweit die Möglichkeiten für politische Partizipation stark erhöht. Und zwar auf der ganzen Bandbreite: Dank des Internets und heute vor allem dank Social Media können Milliarden von Menschen mit wenig Aufwand an der öffentlichen Debatte teilnehmen. Bereits ein geteiltes oder geliktes politisches Meme bedeutet im Prinzip ein Mehr an Partizipation.

Das Internet hat auch Aktivismus befeuert. Dank Online-Kommunikation können sich Protestbewegungen heute einfacher koordinieren und öffentlichkeitswirksamer kommunizieren als in den Zeiten vor dem Internet; besonders in autoritären Ländern mit begrenzten Freiheiten ist der Unterschied eklatant. Auch klassische politische Partizipation wie die Teilnahme an Wahlen wurde durch das Internet zumindest nicht geschädigt. Social Media hat uns nicht zu einem Volk politikverdrossener Internet-Zombies gemacht, sondern mobilisiert uns tendenziell sogar eher, politisch mitzuwirken. Von den untersuchten 105 Studien zu Partizipation zeigen 87 positive Effekte, 13 keine Effekte und nur 5 negative Effekte.

Ein weiterer positiver Befund der Studie ist, dass Medienrepertoires dank des Internets tendenziell eher umfangreicher wurden. Vor dem Internet war Mediennutzung oft ritualisiert und tradiert: Man las die Zeitung, mit der man aufgewachsen ist, und schaute die Handvoll Fernsehsender, die das grosse Publikum ansprachen. Im Internet hingegen herrscht eine journalistische Reizüberflutung. Nicht zuletzt auf Social Media werden News-Inhalte aus sehr vielen Quellen geteilt und wahrgenommen. Die Diversität der Medien-Menus hat zugenommen.

Die urmenschliche Neigung zur Stammesbildung und zur Abgrenzung gegen Aussengruppen bekommt im Digitalen eine neue Bedeutung.

Die Studie kommt aber leider auch zum Schluss, dass das Internet auch ernsthafte Bedrohungen für die Demokratie geschaffen hat: «Neben den positiven Auswirkungen der digitalen Medien auf die Demokratie gibt es auch eindeutige Hinweise auf ernsthafte Bedrohungen der Demokratie.»

So fördern Online-Kommunikation die «Netzwerk-Homophilie»: Wir bewegen uns im Internet stark unter Gleichgesinnten. Die urmenschliche Neigung zur Stammesbildung und zur Abgrenzung gegen Aussengruppen bekommt im Digitalen eine neue Bedeutung. Das bedeutet nicht, dass es auf Ebene der wahrgenommenen Informationen nur noch Echokammern und Blasen gibt. Dank des Internets nehmen wir durchaus Informationen aus einem breiten ideologischen Spektrum wahr; die Diversität an Newsquellen ist gestiegen. Aber wir verarbeiten diese Informationen tendenziell in Netzwerken von Gleichgesinnten.

Als Folge davon steigt auch gesellschaftliche Polarisierung, so ein weiterer Befund der Studie: «In den etablierten Demokratien verstärkten sowohl die Nutzung sozialer Medien als auch die allgemeine Internetnutzung die politische Polarisierung.» Gesellschaften waren natürlich immer schon von tiefen Konfliktlinien geprägt. Fortschritt gibt es denn auch nur mit positiver Reibung aus Konflikten. Zunehmende Polarisierung bedeutet aber, dass sich Konflikte von Routinekonflikten in Richtung nur schwer lösbarer Fundamentalkonflikte wandeln. Online-Kommunikation begünstigt diese Belastung des gesellschaftlichen Zusammenhaltes.

Wer auf Social Media am lautesten schreit und am meisten moralische Tabus bricht, wird mit Aufmerksamkeit belohnt.

Zu dieser Belastung trägt auch das Erstarken des Rechtspopulismus bei. Die Bedingungen der modernen Online-Kommunikation, so die Studie, haben rechtspopulistischen Akteuren und ihrer destruktiven, polemischen Rhetorik Auftrieb verschafft. Das ist keine Überraschung: Wer auf Social Media am lautesten schreit und am meisten moralische Tabus bricht, wird mit Aufmerksamkeit belohnt. Rechtspopulistische Parteien und Akteure haben rasch gelernt, auf der Klaviatur von Social Media zu spielen.

Die Studie kommt bezüglich Hass und Falschinformation zu einem Schluss, der sich unerfreulicherweise mit der gesellschaftlichen Debatte der vergangenen Jahre deckt: «Auch Hass, Polarisierung und Populismus wurden in der deutlichen Mehrzahl der Artikel nachteilig mit der Nutzung digitaler Medien in Verbindung gebracht. Ebenso war eine verstärkte Nutzung digitaler Medien oft mit einer grösseren Anfälligkeit für Fehlinformationen verbunden.». Mit dem Internet und insbesondere den heutigen Social Media-Plattformen hätten Hass und Falschinformation Verbreitungskanäle gefunden, in denen sie sich in grossem Umfang und mit hohem Tempo verbreiten könnten.

Das Internet war von Anfang an ein Nährboden für Hass, weil Menschen online enthemmter sind als offline. Eine Person direkt ins Gesicht primitiv zu beleidigen, benötigt Überwindung, weil so eine persönliche Beleidigung unmittelbare Konsequenzen hat – wir sehen, dass die Person, die wir beleidigen, ein Mensch ist, der darauf reagiert, und wir müssen uns mit unserer Beleidigung exponieren. In der Online-Kommunikation entfallen diese hemmenden Faktoren zu grossen Teilen. Online hetzen wir in der subjektiven Wahrnehmung nicht gegen Menschen, sondern gegen die abstrakte Kontur von Menschen.

Auch Falschinformation aller Art – Gerüchte, Fake News, Verschwörungstheorien – verbreiten sich dank des Internets so schnell und so breit wie noch nie. Auch deshalb, weil politische Desinformation mit dem Internet einen zweiten Frühling erlebt. Politische Akteure aller Art können heute so einfach und so günstig wie noch nie gezielt hergestellte Falschinformation streuen und damit ein grosses Publikum manipulieren.

Die Kultur des Internets ist oft eine des überbordenden Misstrauens.

Die vielleicht gravierendste Folge des Internets für Demokratie, den die Studie ausmacht, ist die Erosion von Vertrauen in politische Institutionen: «Die Nutzung digitaler Medien steht im Zusammenhang mit der Erosion des ‹Kitts, der Demokratien zusammenhält›: dem Vertrauen in politische Institutionen.» Mit dem Siegeszug des Internets hat nicht nur das Vertrauen in Journalismus und Wissenschaft abgenommen, sondern auch das Vertrauen in Demokratie an und für sich. Die Kultur des Internets ist oft eine des überbordenden Misstrauens. Die Medien, die Politik, die Wissenschaft erscheinen aus der Perspektive des Online-Zynismus alle als dunkle Machtzentren, die irgendwie unter einer Decke stecken.

2013 meinte die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel, dass das Internet für uns alle Neuland sei. Stimmte diese Einschätzung schon damals nicht, so heute erst recht nicht mehr. Nach Jahren der Forschung auf der ganzen Welt haben wir eine Landkarte, die im Detail zwar noch nicht perfekt sein mag, das Terrain aber in den wichtigsten Zügen klar abbildet. Nicht alle Folgen des Internets sind schlecht, aber das Schlechte ist schlechter als das Gute gut ist. Darum ist jetzt die Zeit reif für einen Paradigmenwechsel.

Wie können wir das Gute beibehalten und das Schlechte minimieren? Das Internet und Social Media können eine konstruktive Kraft sein, aber nur, wenn wir anerkennen, dass es sich dabei nicht um eine beliebige Industrie handelt, sondern um die digitale Infrastruktur der Demokratie. Private Internetunternehmen haben nur begrenzt Anreize, diese Infrastruktur demokratieverträglich zu gestalten – wenn Selbstregulierung hier wirklich eine realistische Option wäre, gäbe es die Probleme schliesslich gar nicht. Genauso wenig zielführend sind Appelle an Nutzer:innen als Individuen verantwortungsvoller und bewusster mit dem Internet umzugehen. Das von Individuen zu fordern, ohne dabei die strukturellen Rahmenbedingungen anzupassen, erinnert an das absurde Bild des Baron von Münchhausen, der sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf zieht.

Die einzige Lösung, um das demokratische Potenzial des Internets zu maximieren, ist vorausschauende, gemeinwohlorientierte Regulierung. Ob das seit rund 30 Jahren laufende globale Experiment Internet gelingt, hängt massgeblich davon ab, ob wir heute die Rahmenbedingungen schaffen, um die revolutionäre Kraft des Internets in konstruktive Bahnen zu leiten.

Bild: Christian Wiediger auf Unsplash