Lernen von Kalle
Während Zeitungen reihum in die Krise stürzen, kann sich die Berliner «Tageszeitung» erstaunlich gut halten. Ihr Vorteil: Sie war schon immer dazu gezwungen, auf die Leser als Haupteinnahmequelle zu setzen und nicht auf Anzeigenkunden. Karl-Heinz «Kalle» Ruch, seit der Gründung vor 35 Jahren Geschäftsführer der linken Zeitung, zum Erfolgsmodell der Taz auf Papier und im Netz. – Die Branche könnte von seiner Zeitung lernen, wenn es denn nicht schon zu spät ist.
Kalle Ruch arbeitet nicht im Taz-Redaktionsgebäude, an dem das provokante Kunstwerk von Peter Lenk, bekannt als «Pimmel über Berlin», hängt, sondern gleich um die Ecke im fünften Stock, in einem grosszügig eingerichteten Büro mit drei Arbeitsplätzen. Im Gespräch fällt nur 6 mal das Wort «ich», dafür 27 mal das Wort «wir».
Auf dem Weg hierher wurde mir an der U-Bahn-Station Kochstrasse die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» in die Hand gedrückt. Ist es nicht erstaunlich, dass die Printverlage dauernd die Gratismentalität beklagen und sie gleichzeitig bedienen?
Das war bei den Zeitungen schon immer so, ein Teil der Auflage geht auch als Bordexemplare durch. Die Zeitungskrise hat zwei Seiten: Die Leser verschwinden, weil sie digitale Medien nutzen. Aber auch die Anzeigenkunden gehen andere Wege. Man hat die Inhalte kostenlos verteilt, weil man sich im Grunde nicht durch den Verkauf von Inhalten finanzierte, sondern durch den Verkauf von Werbung. Man dachte, man könnte dieses Geschäftsmodell wunderbar von Print ins Netz übernehmen, doch das hat nicht funktioniert.
Die Taz stellt ja alle ihre Inhalte kostenlos ins Netz, nur die Suche im Archiv ist kostenpflichtig.
Man kann alle unsere Artikel, und sei es über eine Suchmaschine, im Netz finden. Aber wir wollen, dass die Leser dafür bezahlen und vertrauen darauf, dass uns das mit unserem Taz-zahl-ich-Modell auch gelingt.
Die Taz hat weder eine harte noch eine durchlässige Paywall, sondern eine «Pay-Wahl», eine vorgeschaltete Informationsseite, die einen Seitenabruf mehr erzeugt.
Das ist nicht der Grund, weshalb wir das eingeführt haben.
Aber ein willkommener Nebeneffekt?
Wenn’s einer wäre, dann wäre das auch nicht schlimm. Tatsächlich hat dieser Bezahlaufruf unser Taz-zahl-ich-Modell erst richtig populär gemacht. Das läuft nun schon seit zwei Jahren, zu Beginn beschwerlich, dann immer besser. Im Grunde sind wir der einzige deutsche Web-Auftritt, der überhaupt eine Paywall hat. Die anderen reden vor allem davon, die NZZ und die «Welt» mal ausgenommen. Wenn ich tatsächlich mal etwas auf Welt.de lesen will, gehe ich über Google rein, so geht das. Eine richtige Paywall kann eigentlich nur der Marktführer, aktuell Spiegel.de, einführen; Bild.de ist wieder ein anderer Fall. Ich glaube, der Marktführer könnte das erfolgreich machen, wenn er denn wollte.
Ihr kümmert Euch eigentlich als Einzige um kleinteilige Einkommen wie zum Beispiel von Flattr. Warum machen das die anderen nicht?
Dazu muss ich etwas ausholen: Die meisten Zeitungen in Deutschland sind schon seit kurz nach dem Krieg auf dem Markt; sie haben von den Alliierten richtiggehende Lizenzen zum Geld drucken erhalten. Das Geschäftsmodell war wie folgt: Morgens das Scheunentor aufmachen, das Geld fliegt den Tag über hinein, abends das Scheunentor wieder zumachen, dann das Geld zählen. Das hat auch ein gutes halbes Jahrhundert funktioniert, bis 2001. Die Taz ist dagegen eine neue Zeitung, und wir haben ein anderes Geschäftsmodell. Als wir kamen, war der Markt verteilt – in das Anzeigengeschäft zum Beispiel sind wir nie hineingekommen. Leser haben wir in den 1990er-Jahren vor allem durch Rettungskampagnen bekommen, durch Abonnements, durch regelmässig zahlende, feste Leser. 1992 haben wir dann die Genossenschaft gegründet und die Solidarabos eingeführt.
Den ermässigen Abo-Preis von 23.90 Euro pro Monat kriegt jeder, «Nachweise sind nicht nötig». Wie viel Prozent der Abonnenten zahlen nur so wenig?
20 Prozent zahlen den ermässigten Preis, 20 Prozent den erhöhten und 60 Prozent den regulären. Dieses mehrstufige Modell wollen wir auch vermehrt auf das Internet übertragen. Es bezahlt natürlich nur mehr, wer ein Bewusstsein dafür hat, dass Journalismus etwas kostet und bezahlt werden muss. Unsere Leser wissen das. Es ist ein Erziehungsprozess, der schon über 20 Jahre andauert.
Die Taz hat immer mal wieder ihre Leser um finanzielle Unterstützung gebeten. Andere Verlage sterben lieber, als dass sie sich dazu herablassen würden.
Was man kürzlich bei der Frankfurter Rundschau gesehen hat: Da fallen nun 95 Prozent von rund 400 Stellen weg, und das ohne irgendeinen Mucks in der Öffentlichkeit. Das wäre bei der Taz tatsächlich anders.
Aktuell diskutiert man in der Taz, die Werktagsausgabe zu stornieren. Warum?
Wir sehen, dass sich das Leseverhalten der Menschen ändert. Um die Höhe unserer Aboauflage zu halten, brauchen wir jedes Jahr 6000 neue Abos. Das geht auch anderen so: Rainer Esser von der «Zeit» hat kürzlich gesagt, dass sie 70’000 neue Abos jedes Jahr brauchen – nur um den Stand zu halten. Aktuell sinken bei uns die Abozahlen, was damit zu tun hat, dass die jungen Leute heute keine tägliche Zeitung mehr abonnieren. Für die 480 Euro jedes Jahr, die das bei uns kostet, leisten sie sich lieber ein Smartphone oder ein Tablet. Diese Frage kann keine überregionale Zeitung ignorieren. Hätte zum Beispiel die FAZ nicht ihre Sonntagszeitung, würde sie mit den gleichen Problemen kämpfen wie die Frankfurter Rundschau.
Wann wird denn die Werktagsausgabe eingestellt?
Von einer Einstellung der Werktagsausgabe kann keine Rede sein. Und doch müssen wir an Alternativen denken: ab April werden wir vermehrt auf das Wochenende setzen. Im Gegensatz zum Wochentagslesemarkt ist der Wochenendlesemarkt noch einigermassen stabil. Die Geschichte der Frankfurter Rundschau und der FTD zeigt uns, dass die Auflage nicht bis auf Null zurückgehen muss, bis eine Zeitung schliessen muss – denn irgendwann übersteigen die Kosten die Erlöse. Bei den meisten Zeitungen gehen die Auflagen zurück, das kann jeder in der IVW überprüfen. Man kann davon ausgehen, dass der Niedergang weitergeht, sich sogar noch beschleunigen wird, denn die Digitalisierung ist ja erst am Anfang, die richtigen Geräte kommen noch. Es geht noch weiter: Sollte die «Bild»-Zeitung schliessen, werden ganze Vertriebsstrukturen zusammenbrechen. Denn der Kiosk an der Ecke lebt von Leuten, die den Laden betreten, um die «Bild» zu kaufen. Die gigantische Leistung von «Bild», jeden Tag rund 2,5 Millionen Leute dazu zu bringen, ihre Zeitung zu kaufen, muss man neidlos anerkennen. Das ist ja keine Abonnement-Zeitung.
Wie sieht das Verhältnis aus zwischen Anzeigenerlösen und
Aboeinkünften bei der Taz?
Zehn Prozent unserer Erlöse kommen aus Anzeigen. Das ist auch ein Vorteil, denn unter dem aktuell dramatischen Anzeigeneinbruch leider wir weniger als andere.
Funktioniert das digitale Geschäftsmodell der Taz nur unter den spezifischen Bedingungen der Taz oder liesse es sich auch auf andere Medienunternehmen übertragen?
Wir haben viele Jahre Erfahrung in dem, was man vielleicht heute «Community-Management» nennen könnte. Das machen wir schon immer, darum sind wir auch im Vorteil und darum ist das für uns auch nichts Neues im Netz. Wir mussten uns schon immer um unsere Leser kümmern, das funktioniert wie bei einer Kirche oder bei einem Versicherungsverein. In anderen Verlagen ist diese Denke nicht vorhanden, da hat der Anzeigenkunde im Zweifel immer eine höhere Bedeutung als der Leser.
Sind Sie eigentlich der Mathias Döpfner der «taz»?
Jaja. Die Taz ist ja eine Genossenschaft, der Axel-Springer-Verlag eine Aktiengesellschaft, wir besetzen beide den Posten des Vorstands des geschäftsführenden Gremiums.
Für die nahe Leserbindung der Taz sind Sie ja zu einem guten Teil verantwortlich, seit 35 Jahren sind Sie der Geschäftsführer.
Es hat sich bei der Taz kaum je jemand für das Verlegerische interessiert, die wollten alle lieber schreiben und Journalisten sein. Ich glaube, ich hatte immer ein gutes Gespür dafür, was der Taz gut tut und was nicht.
Was hat sich geändert über die Jahre?
Der Stellenwert der Taz unter den Medien. In den 1990er-Jahren waren es immer wir, die um das Überleben kämpfen mussten. Heute steckt der gesamte Markt in grossen Problemen. Ich glaube, die grössten Probleme werden jene bekommen, die einfach nur am bisherigen Geschäftsmodell der Anzeigenerlöse festhalten.
Als Abo-Prämie bietet ihr eine «Mini-Fussluftpumpe» an – so ganz anders als andere Verlage seid ihr hier auch nicht.
Ja, wir haben den Taz-Shop, in dem wir Fahrräder oder Espresso verkaufen. Diese Produkte haben ein gewisses Profil, sind fair hergestellt.
Gibt es Vorbilder für den Weg der Taz?
Bei der Gründung der Taz 1978 waren die Vorbilder Libération und Lotta Continua. Doch die sind andere Wege gegangen und haben immer neue Investoren gefunden oder sind in der Nische verschwunden. Es ist eher ein Glücksfall, das der Kollektiv- und Projektcharakter der Taz mit der Genossenschaft eine gute Form gefunden hat. Es gab auch immer wieder wegweisende Entscheide des Plenums, so der Entschluss, nach Berlin zu gehen und nicht etwa nach Frankfurt oder der Kauf des Berliner Verlagsgebäudes. Das sind alles Entscheidungen, die von 200 Leuten getroffen wurden – man kann nicht sagen, dass Plenumsentscheide nicht zu guten Lösungen führen.
Was halten Sie vom Leistungsschutzrecht für Presseverleger?
Das ist überflüssig wie ein Kropf. Alle Fragen, die damit geregelt werden sollen, deckt in Deutschland bereits das Urheberrecht ab. Die medienpolitische Frage daran ist schon etwas skurill, denn Verlage tun ja alles dafür, dass ihre Newsportale von Suchmaschinen aufgefunden werden; Suchmaschinenoptimierung ist zu einem der wichtigsten Instrumente geworden. Wenn man das betreibt, kann man sich doch nicht gleichzeitig darüber beschweren, gefunden zu werden. Dazu kommt die oft sehr schrille Berichterstattung der Zeitungen in eigener Sache, zum Leistungsschutzrecht und auch zu den Apps der Öffentlich-Rechtlichen. Daran ist gut zu sehen, wie dramatisch die Situation bereits ist. Ein hilfloses Vorgehen.
Macht die Taz auch Suchmaschinenoptimierung?
Wir wissen, was das ist, beschäftigen uns auch damit, konkret scheitert es aber oft an den dafür zur Verfügung stehenden Ressourcen.
Im Print konkurrenziert die Taz inzwischen mit den Boulevardzeitungen und Welt Kompakt regelmässig um das originellste Cover des Tages. Kürzlich stand auf Seite 1: «Merkel wird nicht schwul.» – Ist die Taz eine Witzzeitung?
Deutschland hat Regionalzeitungen, überregionale Zeitungen und Boulevardzeitungen. Wir sind ein Zwitter: Von der Erlösstruktur her eine Abonnementszeitung, aber eben auch eine Zeitung, die auf der Seite 1 oft wie eine Boulevardzeitung funktioniert. Wir wollen den zufälligen Leser am Kiosk erreichen – eine Regionalzeitung hat das nicht nötig, die interessiert gar nicht, was am Kiosk passiert. Wir gefallen uns gut in der Rolle, anders zu sein als alle anderen. Das ist darin begründet, dass der Markt bereits so wohlgeordnet war, als wir dazustiessen.
Könnte die Taz ein Vorbild sein für andere journalistische Projekte?
Das Beispiel der Frankfurter Rundschau zeigt, wie schwierig es ist, vom einen Erlösmodell auf ein anderes zu wechseln. Der Versuch, auf Basis der Leser und Mitarbeiter eine Lösung zu finden, wurde gar nicht gemacht, weil alle viel zu sehr am alten Modell hingen.
Diese Lage war doch schon lange absehbar, viele weitere Zeitungshäuser werden in die exakt gleiche Situation kommen. Warum wurde kampflos aufgegeben?
Zu grossen Wendemanövern ist in Deutschland nur Frau Merkel fähig.
Das Gespräch fand am 7. März 2013 in Berlin statt. Foto von Karl-Heinz Ruch: Taz.de.
Timo 20. März 2013, 21:44
Was ist denn an der taz noch links?