Weniger Klischees als erwartet
Westschweizer Leitmedien betonen stärker Trennendes als Verbindendes in ihrer Berichterstattung über die Deutschschweiz. Die Autorin hat Artikel des Nachrichtenmagazins L’Hebdo aus den Jahren 2010 bis 2012 untersucht.
Die Romands waren gekränkt. Von einem Eselstritt, einem «inakzeptablen Affront» sprach die Westschweizer Tageszeitung Le Temps. Und selbst Bundespräsident Didier Burkhalter fühlte sich verpflichtet, an einer Medienkonferenz der Regierung gegen die unliebsame Deutschschweiz zu sticheln.
Auslöser der heftigen Reaktionen war ein einziger Satz, gar nur einige Worte – gesprochen vom Übervater der Schweizerischen Volkspartei (SVP), Christoph Blocher. Nach dem hauchdünnen Volks-Ja zur von seiner Partei lancierten Masseneinwanderungs-Initiative bezeichnete er die Landesgenossen aus dem französischsprachigen Teil der Schweiz als Personen mit einem «schwächeren Bewusstsein für die Schweiz». Als «Schweizer zweiter Klasse», so die Interpretation der Betroffenen.
Denn die Westschweizer Kantone hatten die Volksinitiative am 9. Februar geschlossen abgelehnt. Im Gegensatz zu der Mehrheit der Deutschschweizer Kantone, welche schliesslich – nicht zum ersten Mal – mit einem Ja einer Abstimmung zum Sieg verhalfen.
Die Reaktionen spiegeln die in der Schweiz als «Röstigraben» bezeichnete Differenz zwischen den französisch- und deutschsprachigen Landesteilen; eine Beziehung, die von Spannung, gegenseitiger Abneigung und Unwissenheit geprägt ist. Letztere äussert sich nicht selten in weit verbreiteten Klischees über den jeweils anderen. Doch wie gehen die Medien mit solch stereotypen Bildern um? Eine Studie hat untersucht, inwiefern sich der Röstigraben in der medialen Berichterstattung französischsprachiger Schweizer Medien wiederfindet – und so die öffentliche Wahrnehmung der Deutschschweiz und ihrer Bewohner prägt.
Welche Stereotypen werden angesprochen?
Als zu untersuchendes Medium wurde exemplarisch das Nachrichtenmagazin L’Hebdo gewählt. Es gehört Ringier, dem in der Westschweiz auch noch die Hälfte der Tageszeitung Le Temps gehört. Seit der Gründung im Jahr 1981 sieht sich L’Hebdo laut Chefredaktor Alain Jeannet als «Debattenplattform für die Romandie», der langjährige Westschweiz-Korrespondent der NZZ, Christophe Büchi, bezeichnet die wöchentlich erscheinende Zeitschrift gar als «Stimme der Romandie schlechthin».
Anhand einer Inhaltsanalyse sowie einer Textanalyse wurde untersucht, in welchem Rahmen und in welchem Ton L’Hebdo über die Deutschschweiz und ihre Bewohner berichtet. Die rund 200 analysierten Artikel stammen aus den Jahren 2010 bis 2012. Sie wurden einerseits dahingehend analysiert, welche Stereotype angesprochen werden, andererseits wurden Charakterisierung und Konnotation der Deutschschweiz und Deutschschweizer sowie des Verhältnisses zwischen den Landesteilen untersucht.
Angesichts der Tatsache, dass Stereotypen häufig dann auftreten, wenn Wissen und insbesondere persönlicher Kontakt zu einer bestimmten Gruppe von Menschen fehlt, könnte man davon ausgehen, dass die Berichterstattung stark stereotyp geprägt ist. Was die Konnotation betrifft, wurde die Hypothese formuliert, dass diese eher negativ ausfällt. Denn die sozialwissenschaftliche Theorie der «sozialen Identität» besagt unter anderem, dass die «Anderen» eher negativ betrachtet werden, um im gleichen Zug ein positiveres Selbstbild zu generieren.
Differenzierter als angenommen
Doch weit gefehlt. Das Bild der Westschweiz von der Deutschschweiz ist differenzierter als angenommen. Die Verwendung von expliziten Stereotypen kann an einer Hand abgezählt werden. Nur selten wird die Deutschschweiz als Kollektiv mit klischeehaften Eigenschaften umrissen. Geht es jedoch nicht um den Landesteil als Ganzes, sondern um die einzelnen Deutschschweizer Akteure, fällt die Charakterisierung dann doch auffallend stereotyp aus.
Ob es an einer bewussten Auswahl der Personen liegt oder schlicht auf Zufall beruht: Die Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer werden in den Artikeln – sei es Porträt, Interview oder Bericht – überdurchschnittlich häufig mit Eigenschaften wie Fleiss, Pragmatismus und Ehrgeiz charakterisiert. Ausserdem wird durch die Erzählweise das stereotype Bild der Deutschschweizer zementiert – zum Beispiel durch einen Texteinstieg, der beschreibt, wie überpünktlich eine Versammlung der Grünliberalen der Sektion Zürich vonstattenging.
Auch die Konnotation fällt weit weniger negativ aus als angenommen. Meist wird relativ neutral über die Deutschschweiz geschrieben; Personen aus der deutschsprachigen Schweiz werden sogar in einer deutlichen Mehrzahl positiv assoziiert. Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass es ganz auf den Themenbereich ankommt, dem eine Person angehört. Akteure der Politik werden häufiger negativ dargestellt, Akteure der Kultur jedoch überwiegend positiv.
Ungleichgewicht wird betont
Lässt die Berichterstattung also darauf schliessen, dass der Röstigraben also nur Einbildung, das Verhältnis zwischen den Landesteilen gar nicht so zerrüttet ist, wie dies gemeinhin angenommen wird? Nein. Betrachtet man, wie L’Hebdo die Beziehung zwischen der Romandie und der Deutschschweiz charakterisiert, wird deutlich: Wäre die Deutschschweiz ein souveräner Staat, wären Ihre Bewohner vielleicht ganz sympathisch. In Beziehung zur Romandie stehend, kann von Freundschaft jedoch nicht die Rede sein. Ausgesprochen häufig wird das Ungleichgewicht zwischen den Landesteilen angesprochen, ebenso die Unterschiede zwischen den Deutsch- und Französischsprachigen, das Minoritäts- beziehungsweise Majoritäts-Verhältnis sowie das Desinteresse der Deutschschweiz an der Romandie.
Nur sehr selten werden Gemeinsamkeiten der deutschen und französischen Schweiz thematisiert. Stattdessen werden zur Beschreibung der Beziehung nicht selten Formulierungen aus der Kriegsmetaphorik verwendet. Die Deutschschweizer würden gegen die Romands «kämpfen, es herrsche «Krieg» und «erbitterte Schlachten» würden geführt. Eine deutliche Mehrheit der Verhältnis-Charakterisierungen lässt wenig Gutes an der Deutschschweiz.
Dies zeigt sich auch in der aktuellen Berichterstattung der französischsprachigen Medien über die zu Beginn angesprochene Masseneinwanderungs-Initiative der SVP. Angesichts des Abstimmungsresultats schreibt Le Temps von einer «Niederlage» für die Romandie. Nichtsdestotrotz oder gerade deswegen betonte Bundespräsident Didier Burkhalter wenige Tage nach der Abstimmung, dass zum jetzigen Zeitpunkt besonders eines zentral sei: nationale Einheit. Und mahnte: Wenn man jedoch gewisse «Schweizer als schweizerischer betrachtet als andere», könne man dies nur schwerlich erreichen.
Dieser Artikel wurde zuerst auf der Plattform ejo-online.eu des European Journalism Observatory veröffentlicht.