von Lukas Leuzinger

Als brasilianische Därme die Schweiz in Atem hielten

Einwanderung? Steuerhinterziehung? Strommarkt? Peanuts! Es gab Zeiten, da ging es in den Konflikten mit der EU um wirklich wichtige Dinge – zum Beispiel das Überleben der Schweizer Nationalwurst. Wie die Cervelat-Krise die Schweizer Medien auf Trab hielt.

Die Schlagzeile: «Cervelat-Notstand!»
In den Jahren 2007 und 2008 wird die Schweiz in ihren Grundfesten erschüttert. Ein nationales Symbol, ja ein Bestandteil der Identität des Landes, ist in seiner Existenz bedroht. Der Notstand ruft Politik und Wirtschaftsführer auf den Plan, ausserordentliche Massnahmen werden ergriffen, um die drohende Katastrophe noch abzuwenden.

Nein, die Rede ist nicht von der UBS. In Gefahr ist nicht ein Unternehmen, sondern etwas viel Grundlegenderes: der Cervelat.

Erstmals an die Öffentlichkeit kommt die Geschichte Mitte 2007. «Es droht eine Cervelat-Knappheit», berichtet die NZZ (08.06.2007). Konkret geht es um die Hülle der Wurst, für die brasilianische Rinderdärme verwendet werden. Diese dürfen allerdings nicht mehr in die Schweiz eingeführt werden. Der Grund: Wegen des BSE-Risikos in Brasilien hat die EU per 1. April 2006 ein Importverbot verhängt, dem sich die Schweiz – aufgrund des bilateralen Veterinärabkommens – anschliessen musste.

Die Vorräte reichten nur noch bis im Herbst, heisst es beim Schweizerischen Fleisch-Fachverband. Und ein Ausweg ist nicht in Sicht. Inländische und europäische Därme kommen nicht in Frage – sie sind seit den BSE-Fällen um die Jahrtausendwende bereits verboten, zumal sie in Sachen Konsistenz und Grösse weniger geeignet sind als die bewährten Därme brasilianischer Zebu-Rinder. Auch Schweine- oder Kunstdärme genügen den hohen Anforderungen an Cervelat-Häute (leicht schälbar, elastisch, grillierfähig) nur bedingt.

Die besorgniserregende Situation der Schweizer Nationalwurst ist ein gefundenes Fressen für die Medien. In der Folge vergeht kaum eine Woche ohne neue Alarmmeldungen, wonach das Ende des Cervelats unmittelbar bevorsteht, begleitet von so geistreichen Schlagzeilen wie «Cervelat-Notstand!» (Sonntagsblick, 30.12.2007), «Alarm an der Wurstfront» (St. Galler Tagblatt, 31.12.2007) oder «Metzger rüsten sich für den Cervelat-Supergau» (Südostschweiz, 18.01.2008).

Um das Problem zu lösen, setzt der Fleisch-Fachverband im Januar 2008 gemeinsam mit dem Bundesamt für Veterinärwesen, den Grossverteilern und den Schweizer Darmhändlern eine Arbeitsgruppe ein. Die «Task Force Cervelat» will den EU-Behörden mit einer Studie die Unbedenklichkeit brasilianischer Rinderdärme beweisen. Parallel dazu wird fieberhaft nach Alternativen gesucht. Die Einfuhr von Därmen aus Uruguay und Argentinien vermag die Knappheit etwas zu entschärfen, das Angebot ist allerdings begrenzt. Gerettet werden könne der Cervelat nur durch Aufhebung des Importverbots für Brasilien, erklärt Rolf Bütikofer, FDP-Ständerat und Präsident des Fleisch-Fachverbands.

Was seither geschah: Abflachendes Interesse an der Nationalwurst
Dank der Aushilfe aus Uruguay, Argentinien und später Paraguay kam die Schweiz heil durch die Cervelat-Krise, ohne auf Schweine- oder Kunstdärme ausweichen zu müssen. Die Medien verloren irgendwann die Lust an den immer neuen Notstandsmeldungen, zumal die Cervelat-Krise bald durch eine Finanz- und Bankenkrise aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit verdrängt wurde. Selbst als die EU 2009 die Bitte der Schweiz abwies und das Importverbot bestätigte, löste das nicht mehr als ein Rascheln im Blätterwald aus. Und als die Sperre im Herbst 2012 schliesslich doch noch aufgehoben wurde, war die endgültige Rettung der Nationalwurst den meisten Zeitungen kaum noch eine Kurzmeldung wert. Seither hat Brasilien laut dem Fleisch-Fachverband seine Stellung als wichtigster Cervelathüllen-Importeur wieder zurückerobert.

Und doch bleibt von der Cervelat-Krise mehr als die Erinnerung an eine weitere gross angekündigte Katastrophe, die dann doch nicht eintrat. Denn die Geschichte passt geradezu perfekt zum Selbstbild der heutigen Schweiz. Es ist das Bild eines kleinen Landes, das in seiner Identität bedroht ist. Ein Land, das im Kampf gegen alle äusseren Widerstände ganz auf sich alleine gestellt ist. Abgesehen vielleicht von Uruguay, Argentinien und Paraguay.

Übrigens gab die Cervelat-Krise auch in der Westschweiz zu reden. Nimmt man die Statistik der Schweizer Mediendatenbank SMD als Massstab, schlug die «crise du cervelas» in der dortigen Presse sogar noch etwas höhere Wellen als in der Deutschschweiz. Da sage noch einer, die Romands hätten ein schwächeres Nationalgefühl!