Ein Schritt zurück für den Blick auf die Totale
Als Datenjournalist haucht Julian Schmidli trockenen Zahlen und Statistiken Leben ein und macht sie lesbar. Seine Begeisterung für das Datenmaterial ist ansteckend: Bei Tamedia hilft er spannende Projekte entstehen zu lassen. Neustes Beispiel: der Datenblog von tagesanzeiger.ch/Newsnet.
Ein frisch gebrühter Espresso steht auf dem Tisch in der Tamedia-Kantine. Julian Schmidli sitzt da, mit zerzaustem Haar und hellwachem Blick. Er spricht über seine ersten Gehversuche im Datenjournalismus. Die Augen funkeln wie die eines Kindes im Spielwarenladen: Alles ist zu haben, man muss nur zugreifen.
«Mit Daten zu arbeiten ist unglaublich spannend. Man geht einen Schritt zurück und nimmt das Thema in die Totale. Die Geschichte entwickelt sich nicht anhand eines konkreten Beispiels, sondern durch den systemischen Blickwinkel. Da bilden sich plötzlich Muster heraus, die man dann näher untersuchen kann.»
Der 28-jährige Journalist wuchs in Luzern auf, studierte in Basel und machte den Master in Journalismus am MAZ und in Hamburg. Jetzt arbeitet er in Zürich an der Werdstrasse. Er begann als freier Lokaljournalist. Es waren gemütliche Aufträge, die den neugierigen Studenten zu Veranstaltungen führten, bei denen er sonst nie gelandet wäre. Die definitive Entscheidung, Journalist zu werden, fällte er erst spät im Studium: Fasziniert vom reflektierten Denken und Arbeiten seines damaligen Dozenten, dem Journalisten Christoph Keller, wusste Schmidli, welche Richtung er einschlagen wollte.
«Ich trage auch Verantwortung für eine so junge Gattung des Journalismus.»
Instinkt bewies er auch, als er für seine Bachelor-Arbeit die Geschäftsmodelle Schweizer Medienhäuser untersuchte und sie mit den amerikanischen verglich. Er stiess dabei auf den Datenjournalismus und sein unentdecktes Potenzial: als einer der ersten in der Schweiz. Wer heute einen versierten Datenjournalisten sucht, kommt um ihn nicht herum. 2012 kürte ihn das Magazin «Schweizer Journalist» zu einem der «30 Talente unter 30». Weitere Ehrungen folgten.
«Ich trage auch Verantwortung für eine so junge Gattung des Journalismus. Noch gibt es kaum Erfahrungen damit – weder in Redaktionen noch bei den Behörden. Dementsprechend gross ist der Druck: Wer macht als erster einen Fehler?»
Heute werden zu schnell Trends herbeigeschrieben auf Grund von einzelnen Beobachtungen. Der Datenjournalismus hingegen belegt Trends. Es ist mehr als ein kurzfristiger Hype, nämlich beinharte Recherche mit Zahlen als Quellen. Man ackert sich durch Zeilen und Spalten, trennt die Spreu vom Weizen. Doch so relevant die Themen auch sein mögen: Auf den ersten Blick scheint dieser Journalismus wissenschaftlich und trocken zu sein.
«Datenjournalismus bietet den Menschen einen Mehrwert.»
Jetzt zückt Julian Schmidli den Zweihänder, das Prestige-Projekt: die Unfallkarte. Die Daten basieren auf der Datenbank des Bundesamts für Strassen (ASTRA) und zeigt alle erfassten Verkehrsunfälle eines Jahres. Das klingt erst einmal so spannend wie eine Abhandlung zur Bananen-Norm der EU. Als Journalist muss man durch dieses Rauschen tausender Zahlen blicken, sagt Schmidli. Die Geschichte verbirgt sich dahinter. Mal harmlos, mal tragisch.
«Ich gehe von den Daten aus und suche mir dann eine konkrete Geschichte. So haben wir im Lokalteil des Tages-Anzeigers einen Artikel gemacht mit den gefährlichsten Strassenecken der Stadt Zürich. Das bietet den Menschen einen Mehrwert.»
Zwar geht es auch ohne Grafiken, allerdings lebt der Datenjournalismus vor allem von interaktiven Elementen und erklärenden Darstellungen. Man kann noch tiefer schürfen; Programmiersprachen lernen oder Data-Mining, das selbständige Sammeln von Daten, betreiben. Das sind bereits komplexere Formen des Datenjournalismus.
«Als Journalist sollte man heute wissen, wie man Daten gewichtet und in eine Grafik packt.»
Heute tummeln sich bereits einige Journalisten in dem Feld wie Sylke Gruhnwald von NZZ Data oder David Bauer von der Tageswoche. Schmidli bedenkt aber, dass nicht jeder in diese Richtung gehen muss. Gewisse Grundfähigkeiten setzt Schmidli allerdings für alle Journalisten voraus: «Als Journalist sollte man heute wissen, wie man Daten gewichtet und in eine Grafik packt. Zumindest sollte man fähig sein, seine Idee einem Grafiker erklären zu können.»
Heute arbeitet Julian Schmidli für die Sonntagszeitung und den Tages-Anzeiger. Neben der journalistischen Arbeit ist er zugleich Vermittler und Berater. Er beantwortet die Fragen der Kollegen oder weist Reporter auf die Möglichkeiten hin, wie sie Geschichten anhand von Daten erzählen können. Dafür brauche es sowohl technologische als auch menschliche Kenntnisse.
Nachdem Schmidli interne Weiterbildungen im Datenjournalismus geleitet hatte, sprang der Funke auf viele Redaktoren über. Also stellte man den Journalisten neue Tools zur Verfügung und sie lieferten die Geschichten. Die Idee für einen Datenblog kam dann von Marc Brupbacher, der das Newsdesk leitet. Aus allen Ressorts waren Leute Feuer und Flamme für das Projekt. Sie wirken alle freiwillig mit, ihr Lohn ist der Erfolg. Die gutgelesenen Artikel verzeichnen mehr als 50’000 Besuche, der Blog erreicht etwa 380’000 Leser im Monat. Ein fulminanter Start, denn der Blog existiert erst seit Ende Februar.
«Der Blog ist ein Erfolg auf mehreren Ebenen. Einerseits zeigt er die Lust der Redaktoren, mit Daten zu arbeiten, andererseits das Bedürfnis der Leser, solche Artikel zu lesen.»
Der Datenblog will selbst keine Leuchtturm-Projekte wie die Unfallkarte realisieren. Solche grösseren Arbeiten werden als eigenständige, interaktive Geschichten in den jeweiligen Medien präsentiert. Dass sich der Blog bereits jetzt einer grossen Beliebtheit erfreut, zeigt, dass auch kleinere Storys beim Publikum auf Interesse stossen. Es ist eine Spielwiese, auf der sich die Journalisten austoben können.
«Wir entwickeln uns weiter und lernen als Redaktion dazu.»
Als der Datenblog kürzlich in die Kritik kam, weil die Methodik und die Daten hinter einer Analyse vom Politologen Michael Hermann zur Entwicklung der Positionierung der politischen Parteien im Laufe der Zeit nicht klar waren, hat das Team schnell reagiert und die Informationen nachgereicht. Für Schmidli ist das Teil des Lernprozesses: «Wir entwickeln uns weiter und lernen als Redaktion dazu. Das ist hart, klar, aber es macht auch Spass.»
Schmidli steht mit zusammengekniffenen Augen auf der sonnigen Terrasse vor den Redaktionsräumen. Ein Hauch von Entdeckertum und Pioniergeist umgibt den jungen Journalisten. Eines ist sicher: Die Daten lassen ihn nicht mehr los.
Julian Schmidli auf Twitter folgen: @julianschmidli