Weniger Kritik, mehr Emotionen
Nach den Wirren um den Abgang von Stefan Zweifel als Moderator befindet sich der «Literaturclub» unter der Leitung von Nicola Steiner auf dem Weg zu einer Neupositionierung. Nach drei Sendungen zeichnet sich ab, dass die eigentliche Literaturkritik in der neuen Runde einen schweren Stand haben dürfte.
Vielleicht kann man die Streitigkeiten aus dem Frühsommer des Jahres um den damaligen «Literaturclub»-Moderator Stefan Zweifel auf eine einfache Formel reduzieren: Zweifel verstand den «Literaturclub» als Raum, in dem Literaturkritik angewandt werden sollte. Die Redaktion wollte stattdessen Literaturjournalismus.
Das neue Kritikerteam des «Literaturclub» besteht aus acht Personen, die im Wechsel um die Moderatorin Nicola Steiner über literarische Bücher (meist Neuerscheinungen) diskutieren sollen. Dabei waren Hildegard E. Keller, Rüdiger Safranski und Elke Heidenreich bereits bei Stefan Zweifel dabei. Neu hinzu gekommen sind Philipp Tingler (Philosoph und Autor), die Kritiker Martin Ebel und Julian Schütt und die Literaturwissenschaftler Thomas Strässle und Christine Lötscher.
Die Frage, ob der «Literaturclub» im neuen Gewand noch ein «Literatur»-Club oder nicht doch eher eine Art Buchclub mit einem Überhang von teilweise lieblos vorbereiteten Literaturjournalisten ist, kann man auch nach drei Sendungen noch nicht abschliessend beantworten. Im nachfolgenden versuche ich, die sich mir aufzeigende Tendenz zu skizzieren.
Der Unterschied zwischen Kritik und Journalismus ist deutlich: Literaturkritik beschäftigt sich zunächst originär mit einem vorliegenden Text, analysiert dessen Sprache, ordnet eventuell das Werk in die Literaturgeschichte ein und gibt ein begründetes Urteil ab. Kritiker haben – so sollte es wenigstens sein – das Buch aufmerksam und vollständig gelesen, und nicht nur «diagonal». Kritik abstrahiert tunlichst von ausserliterarischen Umständen wie Biographie, medialer Präsenz, kommerziellem Erfolg und politischer Gesinnung des Autors, der Autorin. Der Literaturjournalismus, der die Buchberichterstattung auch in den Print-Feuilletons längst zu dominieren beginnt, verwertet mit Vorliebe ausserliterarische Kriterien, orientiert sich an der Person des Autors, Bestsellerlisten, Preisen und kleinen und grossen Skandalen.
Literaturjournalisten bedienen sich für ihre Urteilsbildung gerne mit den von Verlagen herausgebrachten sogenannten Waschzetteln und anderer Kritiken. Sie lesen häufig nur noch ausschnittweise. Sibylle Lewitscharoffs Katzenkrimi oder Martin Heideggers Notizbuch muss man, so die unausgesprochene These, nicht zwingend vollständig gelesen haben um sie abzulehnen. Ausserliterarische Kriterien genügen; zur Not werden Zitate herbeimanipuliert. Das Bestehen auf korrektes Zitieren wird als Erbsenzählerei bewertet.
Eines der beliebtesten Spiele von Literaturjournalisten ist das Suchen nach Übereinstimmungen zwischen Text und Biographie des Autors; das erspart eine tiefergehende literarische Auseinandersetzung beispielsweise mit der Sprache des Werkes. Sympathie oder Antipathie mit dem jeweiligen Autor, der Autorin, genügen. Im Fall von Thomas Pynchon (17.11.) thematisiert man zur Not das Gegenteil – dessen vollständige mediale Absenz. Die Suche nach Übereinstimmungen zwischen Fiktion und Realität lässt Literaturjournalisten häufig vergessen, dass Literatur per se fiktional ist, auch wenn sie noch so «realistisch» daherkommt.
Dies war sehr gut in der September-«Literaturclub»-Sendung zu beobachten. Charles Lewinskys «Kastelau» ist zwar ein Roman, ist jedoch teilweise aufgemacht als eine Art Doku-Fiction mit (scheinbar) lexikalischen und dokumentarischen Einschüben. Nicole Steiner sah sich in der Diskussion veranlasst auf die «Pointe des Buches» hinzuweisen, «die man auch verraten darf»:
«Das alles ist erfunden!» Perplex über dieses investigative Postulat bekundete Julian Schütt immerhin, dass er «überhaupt keine Mühe damit» habe. Zurück blieb ein etwas verstörter Philipp Tingler, der den fiktionalen Status des Buches niemals in Zweifel gezogen hatte.
Es gibt keine Scheu mehr, das Etikett «Bestseller» als Kriterium heranzuziehen. Insgeheim fungiert die Bezeichnung «Bestsellerautor» als Qualitätsmerkmal. Mindestens schwingt Bewunderung mit, als sei durch die Anzahl der verkauften Exemplare ein ästhetisches Urteil gesprochen). So verblüffte Nicola Steiner in ihrer ersten Sendung als «Literaturclub»-Moderatorin mit einer Äusserung über einen so genannten Bestsellerautor: «Was Charles Lewinsky anfasst wird zu Gold». Überhaupt formulieren Literaturjournalisten gerne in Schlagworten und verwenden – sowohl im Verriss wie auch im Lob – häufig übertriebene Superlative. So wird eine gelungene Familiensaga sofort mit Thomas Manns «Buddenbrooks» verglichen (wie «Tiefland» von Jhumpa Lahiri am 21.10.). Der Grund liegt darin, dass der potentielle Leser vielleicht noch Manns Buch (namentlich) kennt, während andere, sich besser eignende Vergleichsbücher beim breiten Publikum unbekannt sind und somit die empfehlende Wirkung verfehlt würde. So greift der Vergleich fast immer weit über das tatsächliche Niveau eines zu besprechenden Textes hinaus und wird zum Superlativ. Nähme man diese Vergleiche Ernst, müssten überall Nachfolger von Franz Kafka, Patricia Highsmith, Virginia Woolf oder James Joyce schreiben. Die Realität sieht anders aus.
Da Literaturjournalisten ihre persönlichen Befindlichkeiten bei der Lektüre absolut setzen, wirken ihre subjektiven Urteile «authentisch». Das ist gewollt, denn längst ist es ein Merkmal des Literaturjournalismus geworden, dass die eigene Person als Marke im «Betrieb» installiert und, das ist wichtig, inszeniert wird. Literaturjournalisten werden damit das Öl in der Maschinerie des Buchbetriebs, sie mutieren häufig (vielleicht ungewollt) zu PR-Managern von Verlagen.
Dabei dominieren zwei Kategorien von Urteilen: Geschmacksurteile und emotionale Bewertungen. Geschmacksurteile sind immun gegen Kritik, denn über einen persönlichen Geschmack kann man nicht diskutieren. Für die Emotionalisierung des Leseeindrucks gilt ähnliches: «Die Urteile des Gefühls können niemals irren. Dass mir etwas angenehm sei, wenn ich es fühle, ist jederzeit wahr.» (Immanuel Kant, aus: «Köche ohne Zunge», Steidl-Verlag 2014, ). Um beiden Urteilskategorien Relevanz einzuhauchen, gibt man sich gerne «postmodern», in dem Kriterien für literarische Texte rundheraus als nicht existent abgelehnt bzw. als gestrig denunziert werden. Fundierte Kritik bekommt dabei noch das Etikett «elitär».
Wie Literaturjournalismus funktioniert, zeigte Thomas Strässle in der Sendung vom 21. Oktober an einem Beispiel. In der Diskussion um Robert Seethalers Buch «Ein ganzes Leben» wurde über den Artikel des Nachrichtenmagazins «Der Spiegel» gesprochen, der auf die Gerüchte Bezug nahm, Teile von Seethalers Buch seien ein Plagiat aus Denis Johnsons «Train Dreams» . Die Überschrift (im gedruckten «Spiegel») lautete: «Ein Plagiat?» – zwar versehen mit einem Fragezeichen, aber dennoch suggestiv. Am Ende kam der Artikel allerdings zu dem Schluss, dass es sich nicht um ein Plagiat Seethalers handelt, aber die effekthascherische Überschrift empörte Strässle. Immerhin: In der Online-Version wählte man einen anderen Titel.
Zwei der acht Personen des neuen Kritikerteams kamen in den ersten drei Sendungen noch nicht zum Einsatz. Hildegard E. Keller und Martin Ebel greifen erst im Dezember ein. Christine Lötscher wurde von der Moderatorin als «Expertin für Fantasy» vorgestellt, was hoffentlich nicht bedeutet, dass bald Vampirschmonzetten verhandelt werden. Rüdiger Safranski (mit Rotweinglas!) schien bei seinem Auftritt am 17.11. ein bisschen über den Dingen zu schweben. Sein Verriss von Thomas Pynchons «Bleeding Edge» hatte durchaus Grandezza. Er fand die Sprache «ranschmeisserisch», den Roman «bildungshuberisch» und attestierte Pynchon «juveniles Getue». Leider ging niemand auf die Übersetzung ein, die vielleicht eine Aufklärung ob der Sprache hätte geben können. Julian Schütt fiel vor allem dadurch auf, dass er in einer Minute den neuen Roman des frisch ausgerufenen Nobelpreisträgers Patrick Modiano verriss:_«dieser Modiano kann mir gestohlen bleiben». Hierzu hätte ich gerne mehr von ihm gehört, aber die Zeit war vorher mit anderem vertan worden (unter anderem mit einer überflüssigen Zwischenmoderation nach ungefähr der Hälfte der Sendung).
Philipp Tingler gab in den ersten beiden Sendungen sein Bestes, um einen literaturkritik-ähnlichen Diskurs zu implementieren. An Leidenschaft fehlte es ihm dabei nicht. So forderte er zweimal eine ertappte Elke Heidenreich auf, die Bücher auch zu lesen. Einmal entzündete sich der Streit bei der Frage, ob sich der Protagonist des Buches «Ein ganzes Leben» von Robert Seethaler freiwillig zum Krieg gemeldet hatte (Tingler) oder eingezogen worden sei (Heidenreich). Die anderen beiden Diskutanten schwiegen. Richtig ist, dass er sich zunächst freiwillig meldete und abgewiesen, später dann jedoch eingezogen wurde (sagte mir ein Leser).
Bei derart kontroversen Diskussionen (auch Tingler mit Julian Schütt in der ersten Sendung) bleiben die anderen Diskutanten ein wenig im Hintergrund, was bei Thomas Strässle in der zweiten Sendung schade war, denn er erfüllte noch am ehesten die Kriterien des sachorientierten, uneitlen Kritikers. Wobei dies nicht als Plädoyer für dröge Statementabsonderungen zu verstehen ist, sondern für strukturiert-sachlichen Streit. Hierfür eignet sich die neue Moderatorin Steiner übrigens ähnlich wenig wie Stefan Zweifel, wobei man bei Zweifel wenigstens das Gefühl hatte, dass er wusste, worüber man hätte kontrovers diskutieren müssen.
Die Debatte um Seethalers Buch in der Sendung vom 21.10. war dafür exemplarisch: Tingler griff frontal die Qualität des Buches an und entdeckte eine «Lawine des Kitsches». Prompt kam dann die Retourkutsche von Heidenreich zu Tinglers Vorschlag, Bernhard Schlinks «Die Frau auf der Treppe». Aus diesem Streit hätte sich eine erhellende Diskussion ergeben können, was Kitsch ist bzw. wie Tingler und Heidenreich Kitsch in der Literatur definieren. Steiner wich dem aus, thematisierte das nicht. Als sich beide ineinander verhakten, schrie sie schliesslich «Halt! Ich möchte auch mal was sagen!» – und griff den Gesprächsfaden nicht auf. Was blieb, war ein dampfendes Schlachtfeld; der Nebel für den Zuschauer undurchdringlich.
Nicola Steiner verstand sich nicht nur als Moderatorin, die eine Diskussion strukturiert, sondern beteiligte sich – wie alle ModeratorInnen des «Literaturclub» inklusive Stefan Zweifel – aktiv an den Debatten. So stellte sie Dave Eggers Buch «The Circle» als «das Buch der Stunde» vor. Es sei wahrlich «keine Dystopie, keine Zukunftsvision», sondern dicht an der Gegenwart. Tinglers Einwände («flach», «haarsträubend», «literarisch belanglos») insbesondere was die literarischen Qualitäten des Romans angehen, kontrastierte sie mit Empörung: «Jetzt könnte man behaupten, es muss literarisch belanglos sein, weil die Welt, die abgebildet wird, literarisch belanglos ist», so lautete ihre Replik. Die Einwände perlten an ihr ab, weil sie emotional argumentierte. Regelrecht ertappt fühlte sie sich – weil sie auch Bücher im Internet bestelle und Serien anschaue. Leider ist keinem der Diskutanten eingefallen, eine viel interessantere und vor allem auch literarisch gelungenere Prosa zum Thema «Big Data» und dessen Kommerzialisierung zu erwähnen: Benjamin Steins «Replay» von 2012.
Eine der schlimmsten Auswüchse des Literaturjournalismus ist die pädagogisch daherkommende Bevormundung des Lesers. So posaunte Elke Heidenreich, ein Prototyp dieser Spezies, in ihrer ZDF-Sendung «Lesen!» jahrelang ihre Mission in das durch Zigtausende von Neuerscheinungen verunsicherte Publikum. Da passt es wohl, dass Nicola Steiner in ihren Moderationen zu Beginn gelegentlich fragt, «ob man das Buch [X] lesen muss» und am Ende der Diskussion häufiger die «Lesen?»-Frage in die Runde stellt – so, als erkundige sich die Richterin bei ihren Geschworenen nach Schuld oder Unschuld des Angeklagten. Aus dem Ausrufezeichen ist ein Fragezeichen geworden. Geblieben ist die Attitüde, den Rezipienten zum Glück zwingen bzw. vom Bösen abhalten zu wollen. Wer das dauerhaft aushält, muss ein gehöriges Mass an Ekel überwinden.
Annabelle Huber 21. November 2014, 15:54
Danke Herr Struck, dass Sie sich geopfert haben, um mich restlos überzeugtermassen definitv davon abzuhalten, diesen Klub jemals wieder anzuschauen.
Den Klub in diesem Format und dieser Besetzung.
Wirklich Jammer Schade sind Sie nicht für die Leitung zuständig beim Literaturklub.
Anna Simone 24. November 2014, 20:30
Vielen Dank für den kritischen Blick auf eine Sendung, die ziemlich dilettantisch daher kommt. Es ist ausserdem unglaublich, dass die SRF Stefan Zweifel hat gehen lassen aber die Frau Heidenreich weiterhin als Kommentatorin ernst nimmt.
Marcuccio 24. November 2014, 23:21
Instruktive Beobachtungen und lobenswerter Ansatz, den Begriff der Literaturkritik für das zu reservieren, was ihn der Sache nach tatsächlich noch verdient! Macht man sich mit Brigitte Schwens-Harrant auf die Suche, so muss man feststellen, dass Literaturkritik inzwischen nur noch einmal jährlich im Fernsehen stattfindet – nämlich dann, wenn 3sat die Klagenfurter Literaturtage überträgt.
Ansonsten sind „Literatur im Foyer“ (seit einem Jahr „lesenswert“), „das Blaue Sofa“ und „druckfrisch“ Formate, die das kritische Gespräch über Literatur in soften Talkformen oder bildgewaltiger Kulissenschieberei auflösen.
Schecks allmonatlicher Showdown mit der Büchermülltonne zeigt, wie die im Beitrag von Lothar Struck idealtypisch getrennte Bestseller- und die Kritiker-Welt längst Mischformen eigener Geltung ausgebildet haben. Wenn nichts zählt, zählen die Zahlen, und am Ende werden weniger Bücher als Listenplätze kommentiert.
Wobei: Zur kanonischen, oft ideologisch verhärteten Literaturkritik früherer Jahrzehnte möchte auch keiner zurück. Insofern ist das Metier per se gefühlsbetonter, weicher, beliebiger geworden. Die Sehnsucht nach dem leidenschaftlichen Zampano, nach dem großen Bücher-Prediger besteht beim Publikum jedoch unverändert fort. Deswegen sind Lesemuttis wie Elke Heidenreich oder Literatur-Onkel wie Scheck oder Safranski eben auch so beliebt. Und mit Raddatz hat die Branche sogar einen Papa emeritus…
Lothar Struck 25. November 2014, 10:32
Danke Marcuccio für den Hinweis auf Schwens-Harrant. Der ist wirklich nützlich, weil sie nicht nur eine profunde Analyse des Status quo liefert, sondern auch Verbesserungsmöglichkeiten aufzeigt. Kritik ist bei Schwens-Harrant emphatisch besetzt: „Der Kritik sind Amt und Würden gleichgültig, auch Wissen beeindruckt sie wenig, wenn es ihr nicht sogar verdächtig erscheint, rhetorische Überredungskunst durchschaut sie und Sendungsbewusste sind ihr suspekt. Kritik stört das Bestehende, sie stellt in Frage selbst das, was ‚gut läuft‘, auch im eigenen Bereich.“ (Zitat aus dieser Kritik). Sie prägt dafür den Begriff „Aufblickend lesen“.
Die Frage ist nun, ob dieses aufblickende Lesen unter den Bedingungen einer solchen Sendung geschehe kann bzw. erwünscht ist. Stefan Zweifel als Moderator und Kritiker hat das m. E. versucht (bzw. etwas ähnliches). Dies war – aus welchen Gründen auch immer – nicht das Konzept der Redaktion. Die setzt auf „Lesemuttis“ und „Literatur-Onkel“ (bis auf wenige Ausnahmen). Das Gros derer, die diesen Kritikerdarstellern folgen, merken natürlich gar nicht, welchen Schaumschlägern sie da aufsitzen. Ich könnte Kritiker/innen nennen, die, sobald sie im Radio oder Fernsehen über ein Buch sprechen, gravierende Fehler bereits in der Inhaltsangabe machen. Das Schlimme ist, dass sich Autoren von dieser Form des Literaturjournalismus längst haben intellektuell korrumpieren lassen. Aber das ist ein anderes Thema.