Zehn Tage im Energie-Dschungel
Das erste Massnahmenpaket zur Energiestrategie 2050 ist ein Monsterprojekt und eine Herausforderung für Berichterstattung in den Medien. Wie bereitet man sich als Journalist darauf vor? Welchen Einfluss haben die zahlreichen Lobbyisten? Unser Kolumnist hat es im Bundeshaus aus der Nähe miterlebt.
Hand aufs Herz: Haben Sie schon einmal vom «Market Coupling» gehört? Sind Ihnen «weisse Zertifikate» ein Begriff? Und können Sie erklären, wie das sogenannte Langzeitbetriebskonzept – übrigens mein Vorschlag fürs Unwort des Jahres – genau funktioniert? Falls nicht, geht es Ihnen wie mir, bis vor ungefähr drei Wochen. Seither musste ich mich zwangsläufig mit solchen und Dutzenden weiteren Fachbegriffen aus der Energiebranche herumschlagen.
Ein, zwei Wochen vor einer Parlamentssession trifft sich unsere Inlandredaktion jeweils zu einer längeren Sitzung. Mit dem Sessionsprogramm vor den Augen gehen wir die einzelnen Traktanden durch, besprechen grössere Themen und legen grob fest, wer sich worum kümmert und in welcher Form – ob Vorschau, Reportage, Interview, «Matchbericht» oder Kommentar. Da der bisherige Dosierverantwortliche für die Energiepolitik während der Session abwesend war und ich mich in der Regel um Themen aus dem Demaprement Leuthard kümmere, war klar, dass die Berichterstattung zur nationalrätliche Energiedebatte in meiner Verantwortung liegen würde.
Nur: Das erste Massnahmenpaket zur Energiestrategie 2050 ist kein Parlamentsgeschäft wie viele andere. Inflationär verwendete Schlagwörter wie Mammutprojekt, Monsterdebatte oder Überthema sind für einmal keine Übertreibung, im Rat war gar mehrmals von der «Mutter aller Debatten» die Rede. Alleine die Eckwerte des Pakets – eine «Fahne» von 115 Seiten, eine Beratungsdauer von sechs Tagen und Kommissionssitzungen während über eines Jahres – stellten alle anderen Geschäfte der Session, ja der vergangenen Jahre in den Schatten, zumindest in Bezug auf den Umfang.
Ich wusste, dass das Thema während annähernd zwei Wochen meinen Arbeitsalltag dominieren wird. Für mich war das absolutes Neuland: Jedem Mitglied unseres Ressorts ist zwar ein Departement zugeteilt, die Grösse unserer Inlandredaktion sowie der Umfang der Departemente lassen es normalerweise aber schlicht nicht zu, dass wir allzu monothematisch unterwegs sind. Der Begriff «Allrounder» umschreibt mein Profil definitiv besser als «Fachspezialist».
Wie arbeitet man sich also in ein solches Megadossier wie die Energiestrategie 2050 ein? Ein Begleiteffekt der grossen Politgeschäfte ist, dass sich die Interessengruppierungen nicht hinter dem Ofen verstecken. Alle wollen die Journalisten von den eigenen Standpunkten überzeugen – und sie nehmen dafür auch einigen Aufwand auf sich. Die Woche vor dem Beginn der Wintersession zeigte dies exemplarisch: Am Montag lud die Umweltallianz zum Hintergrundgespräch für Journalisten, am Dienstagmorgen veranstaltete das Bundesamt für Energie (BFE) einen Informationsanlass und am gleichen Nachmittag präsentierte die Atombefürwortergruppe AVES seine «Korrekturvorschläge» für die Energiestrategie. Die Liste der Anlässe könnte beliebig weitergeführt werden.
Das Ziel aller Lobbyorganisationen ist logischerweise, die Journalisten von ihren Sichtweisen zu überzeugen. Nicht alle sind dabei gleich erfolgreich: Während die Umweltallianz ein Übersichtsdokument erstellte, das ich in den Folgetagen noch mehrfach zur Hand nahm, blieben die Referate des BFE so technisch und publikumsfern, dass man sich kaum getraute, eine Frage zu stellen, um sich nicht selbst als Unkundigen zu brandmarken. Immer mit dem Wissen im Hinterkopf, dass die präsentierten Informationen gefärbt sind, war ich persönlich aber froh um die Veranstaltungen – auch wenn ich aufgrund des nebenher normal laufenden Redaktionsalltags nur wenige besuchen konnte.
Als es dann endlich losging mit der Nationalratsdebatte spielten sich schnell bestimmte Muster und Routinen ein. Auf der Journalistentribüne traf ich immer auf den selben Kollegen von der NZZ. In der Wandelhalle sprach ich zumeist mit den gleichen paar Parlamentariern, den Röstis, Wasserfallens, Nussbaumers, Müller-Altermatts oder Girods – also den Energie-Wortführern ihrer Parteien. Und wenn ich mal ein Detail verpasste, wusste ich, dass die zuständige Redaktorin der SDA stets auf der Höhe war. Es fühlte sich fast wie eine Schicksalsgemeinschaft an, geeint vom gleichen, buchdicken Gesetzesvorschlag.
Das erste Kapitel ist nun geschrieben, das nächste wird aber nicht lange auf sich warten lassen. Ich freue mich darauf, ist der Zugang zu Parlamentariern und Fachleuten doch bedeutend einfacher, wenn sie merken, dass man sich nicht zum allerersten Mal mit dem Thema befasst. Bin ich nun ein Energiespezialist? Nein, dafür ist die Materie schlicht zu umfassend und komplex. Bei aller Liebe zur thematischen Vielfalt, die eine Inlandredaktion ausmacht, habe ich mich durchaus damit anfreunden können, einen vertieften Einblick in ein Dossier zu werfen. Die rund 50’000 Zeichen, die ich in den vergangenen zehn Tagen über die Energiestrategie 2050 geschrieben habe, werden nicht die letzten gewesen sein. Beruhigend, dass ich beim nächsten Mal nicht mehr bei Null anfangen muss.