von Ronnie Grob

Regierungsquellen im Konjunktiv

Russland und China sollen an die Daten von US-Whistleblower Edward Snowden gelangt sein. Das berichtet die britische Sunday Times. Das ist offenbar auch eine Geschichte für die Neue Zürcher Zeitung: «Snowdens Daten in falscher Hand» übertitelt die NZZ eine Spalte in der Montagsausgabe. Aber dann folgen nur noch Konjunktive.

In der Spalte «Snowdens Daten in falscher Hand» (auf Seite 3 in der NZZ vom 15. Juni 2015) geht es um einen Artikel der britischen Sunday Times. Darin behaupten ungenannt bleibende Personen der britischen Regierung, britische Spione hätten aus dem Feindesland abgezogen worden müssen, weil Russland und China in den Besitz von Dokumenten gelangt seien, die Edward Snowden gestohlen hatte. 2013 entwendete der Whistleblower geschätzte 1,7 Millionen Dokumente, um die Öffentlichkeit auf die anlasslose Massenüberwachung durch die britische und US-amerikanische Geheimdienste aufmerksam zu machen (mehr dazu in der MEDIENWOCHE-Serie von 2014).

Nach einem eindeutigen Titel («Snowdens Daten in falscher Hand») wimmelt es im Text des Zeitung lesenden London-Korrespondenten Peter Rásonyi nur so von Konjunktiven (auf der Seite rechts sind in der Möglichkeitsform formulierte Sätze schwarz hinterlegt):

«könnten in falsche Hände geraten sein»

«könnten in die Hände russischer und chinesischer Geheimdienste geraten sein»

«die Russen und die Chinesen seien im Besitz der Dokumente»

«Die Geheimdienste hätten deshalb Agenten in Sicherheit bringen müssen. Wichtige Informationsflüsse seien unterbrochen worden. Allerdings sei bisher keine Person zu Schaden gekommen»

«Doch gemäss dem Zeitungsbericht soll es russischen und chinesischen Geheimdiensten gelungen sein, die angewendeten Verschlüsselungen zu knacken. Darauf schliessen zumindest zitierte Quellen aus dem Geheimdienst und dem Innenministerium Grossbritanniens, die angeblich berichten, britische Agenten seien zu Zielen geworden. Ob Snowden die Dokumente freiwillig an die ausländischen Regierungsstellen übergeben haben könnte oder ob sie ihm entwendet worden sein könnten, blieb offen»

Immerhin bleibt der letzte Satz, ebenfalls in der Möglichkeitsform, berichtenswert:

Die gezielten Lecks an die Sonntagspresse könnten auch bloss, wie britische Bürgerrechtler vermuteten, der Schaffung öffentlichen Goodwills dienen.

Um Aufschluss zu erhalten über das in der Sunday Times erschienene Stück, liest man jedenfalls besser Glenn Greenwalds Text «The Sunday Times’ Snowden Story is Journalism at its Worst — and Filled with Falsehoods»:

Der ganze Artikel macht buchstäblich nichts anderes als namenlose britische Offizielle zu zitieren. Er verleiht die Stimme banalen aber aufrührerischen Beschuldigungen, die über jeden Whistleblower von Daniel Ellsberg bis Chelsea Manning gemacht werden. Er bietet null Beweise oder Bestätigungen für irgendeine seiner Behauptungen. Die «Journalisten», die ihn verfassten, stellten weder irgendeine der offiziellen Aussagen in Frage noch zitierten sie jemanden, die diese bestreitet.

Wurde etwa die «Sunday Times» benutzt, um Zweifel an der Sicherheit der Snowden-Leaks-Dokumente zu schüren? Ein CNN-Interview mit «Sunday-Times»-Journalist Tom Harper, der den betreffenden Artikel verfasst hat, lässt jedenfalls darauf schliessen. Weil Harper auf fast jede Frage mit «We don’t know» antwortet, wirkt das Gespräch etwas wie ein Beitrag aus einer Satire-Sendung.

Harpers Aussagen gemäss kommt die Story aus Regierungskreisen zur Zeitung – um sie zu prüfen, kontaktierte die Zeitung Regierungskreise. Weiter sagt er erstaunliche Sätze wie «Wir publizieren nur, was wir glauben, es sei die Position der britischen Regierung derzeit» oder «Es ist sehr schwierig, etwas mit Sicherheit zu sagen».

Ob andere Zeitungen auf einen ausführlicheren Bericht verzichtet haben, weil sie die Story als pure Spekulation aus ungenannten Regierungskreisen ohne jegliche Beweise erkannt haben oder ob ihnen das Thema Snowden-Leaks nicht wichtig genug ist, sei dahingestellt.

Der NZZ hätte es jedenfalls gut gestanden, abzuwarten, bis handfeste Beweise auftauchen – das tut sie doch bei anderen aufmerksamkeitsheischenden Sonntagszeitungsberichten auch. Dass sie über das Thema berichtet, ist nicht falsch. Sie hat auch nichts so formuliert, als dass es nicht stimmen würde. Nur der (mutmasslich von der Produktion gesetzte) Titel des Texts ist spekulativ und hätte anders heissen müssen: «Regierungsquellen beschuldigen Snowden» zum Beispiel, oder «Britische Zeitung portiert Vorwürfe ohne Beweise».

Markierungen in den Zitaten, Übersetzungen: Ronnie Grob