von Nick Lüthi

Was die tun, können wir auch

Mit der neuen App von «20 Minuten» unternimmt Tamedia einen wichtigen Schritt in Richtung einer sozialen Medienplattform. Damit dürfte die Gratiszeitungsmarke nicht nur der heimischen Konkurrenz enteilen, sondern auch Facebook im nationalen Markt herausfordern.

Die Konkurrenz schweizerischer Online-Medien komme aus Übersee: Facebook, Google, Twitter. Darum müsse man sich wappnen, den Markt pflegen, um Werbegelder ja nicht ins Ausland abfliessen zu lassen, heisst es allenthalben aus Verlegermund. Aus diesem Grund haben sich Ringier mit SRG und Swisscom zu einer Werbeallianz zusammengeschlossen. Ihr Ziel: Gemeinsam massgeschneiderte Werbelösungen anbieten und damit Geld verdienen.

Tamedia sieht das Joint Venture mit den staastnahen Betrieben kritisch und wollte deshalb nicht mitmachen. Dafür zeigt das Zürcher Verlagshaus jetzt auf andere, handfestere Art und Weise, wie man der scheinbar übermächtigen globalen Konkurrenz entgegenhalten kann. Mit der neuen «20 Minuten»-App bewegt sich der Gratiszeitungsbrand stark in Richtung Social Network. Nicht anders als Facebook setzt auch «20 Minuten» alles daran, die Nutzer möglichst lange auf ihrer Plattform zu halten. Dazu reicht es nicht mehr, nur redaktionelle Inhalte anzubieten. Weiterreichende Nutzerbindung erfordert Interaktionsangebote für die User.

Eigentlich hat «20 Minuten» seine App einfach vervierfacht. Das Nachrichten- und Unterhaltungsangebot gibt es neu in vierfacher Darstellung und Aufbereitung: klassisch, «social», «Play» und personalisiert. Am Deutlichsten sichtbar sind die Neuerungen in der personalisierten Ansicht, wo der User selbst ausgewählten Themen folgen und sich so einen individuellen Newsstream zusammenstellen kann. Bei der Nutzerinteraktion fallen vor allem die Streams mit Leserbildern und Online-Kommentaren auf. Hier ist Bewegung reingekommen. Ausserdem wird mittels Gamification versucht, den Nutzer zum längeren Verweilen anzuhalten, indem er für Interaktionen in der App Punkte erhält, inklusive Auszeichnungen und Rangliste. Bei allen Neuerungen kennen Offenheit und Nutzeraktivierung aber auch Grenzen.

Der Handlungsspielraum des Users wird zwar auch in der neuen App stark von der redaktionellen Logik her definiert. So kann man als Nutzer ein persönliches Profil anlegen und verfügt über ein eigenes Postfach. Aber dort erhält man nur vom System vermittelte Mitteilungen, zum Beispiel eine Benachrichtigung, wenn jemand auf einen Userkommentar reagiert hat oder einen Alert bei einer bestimmten Anzahl Likes zu einem eigenen Kommentar. Ein Chat-System für den direkten Kontakt mit anderen Nutzern gibt es nicht; vorerst noch nicht. Denn Peter Wälty, «20 Minuten»-Digitalchef und Vater der App, hat erklärt, dass ein One-to-One-Messaging sehr wohl auf der Wunschliste stehe. Was dann noch fehlt zu einem ausgewachsenen Social Network, sind die typischen Selbstdarstellungsmöglichkeiten, die über ein eigenes Profilbild hinausgehen.

Auch Watson.ch, die Online-Plattform von AZ-Verleger Peter Wanner, sucht nach neuen Formen der Vermittlung und Distribution und experimentiert auf auch auf dem Werbemarkt mit neuen Formen, etwa Native Advertising. Doch die App als Dreh- und Angelpunkt der immer wichtigeren mobilen Nutzung nimmt sich vergleichsweise wenig «sozial» aus. Rein administrative Nutzerprofile, der klassische Online-Kommentar als zentrales Interaktionsfeature. Ein Grossteil der Publikumsinteraktion lässt Watson auf Twitter und Facebook stattfinden.

Als Vorbild für andere Schweizer Verlagshäuser dient der Vorstoss von Tamedia in Social-Network-Gefilde indes nur schlecht. Das einzige Medienunternehmen, das über ein ähnliches Potenzial auf dem Nutzermarkt verfügt, ist die SRG. Allerdings verbietet die ungeklärte politische Diskussion zum Spielraum der SRG-Online-Aktivitäten ein verstärktes Engagement in diese Richtung. Ein Vergleich mit anderen Titeln ist aber nur bedingt möglich, wegen der sehr unterschiedlichen Grössenverhältnissen. Am ehesten noch mit Blick.ch, wo man sich aber gerade noch mit anderen Fragen herumschlägt, als mit einer neuen App.

Erst mit der enormen Reichweite von «20 Minuten» in Print und Online, allein die App wurde bisher 3,6 Millionen Mal heruntergerladen, erweist sich ein solcher Relaunch als sinnvoll und erfolgversprechend. Und auch inhaltlich hat sich «20 Minuten» eine ideale Ausgangslage geschaffen für anhaltenden Zuspruch von Millionen Mediennutzern in der Schweiz. Das publizistische Profil gleicht immer mehr dem Themenmix, wie ihn viele Nutzer von Facebook her kennen: das Wichtigste aus Nah und Fern und daneben viel Unterhaltung in Bild und Ton. Auch ist Facebook einer der Taktgeber für die Redaktion: Was bei Zuckerberg gut läuft, lässt sich auf den eigenen Plattformen weiterdrehen.

Mit der neue Version der App leistet «20 Minuten» dem Warnruf seines Digitalchefs Peter Wälty Folge, der vor der Abhängigkeit von Facebook warnte. Also macht man es selber: Interaktion, Personalisierung und Social Media entsprechen einem Nutzerbedürfnis. Befriedigen müssen das nicht die Grossen aus Übersee, zumal man damit auch wertvolle (und geldwerte) Nutzer- und Kundendaten aus der Hand gibt. Und am Ende des Tages geht es darum, die Geldmaschine «20 Minuten» in stürmischen Zeiten des Medienwandels am Laufen zu halten. Nur mit satten Gewinnaussichten lassen sich bei Tamedia die siebenstelligen Entwicklungskosten für die App rechtfertigen. Tatsächlich gibt es dank stärkerer Personalisierung Werbeformen und -angebote, die präziser auf bestimmte Gruppen oder gar den einzelnen Nutzer zugeschnitten sind.

Bis jetzt schrieben Medienunternehmen, die in Social Networks investiert haben, selten eine Erfolgsgeschichte. Sinnbildlich dafür steht die Akquisition von Myspace durch Rupert Murdoch für 580 Millionen Dollar vor zehn Jahren – um die Plattform sechs Jahre später für magere 35 Millionen Dollar abzustossen. In weit bescheidenerem Masse gescheitert ist in der Schweiz Ringier mit youme.net, das nach eineinhalb Jahren wieder vom Netz ging. Etwas länger halten konnte sich die Bleublog-Community bei der 2009 eingestellten Gratiszeitung Le Matin Bleu, wo einst immerhin 5000 Romands ihre persönlichen Aufzeichnungen notierten und mit anderen teilten.

Die neue «20 Minuten»-App steht letztlich auch als Antwort auf die Vorstösse von Facebook und Google in die Medienwelt mit ihren Köderangeboten, denen bisher nur wenige Verlage widerstehen konnten. Tamedia jammert nicht nur über die bösen Grossen, sondern handelt und versucht sie mit den eigenen Mitteln zu schlagen.

Leserbeiträge

André Heller 02. September 2015, 18:47

Die neue App ist durchaus gelungen und bringt spannende Features. Der Vergleich mit Facebook ist aber trotzdem völlig absurd. Es ist ein komplett anderes Nutzerverhalten und hat einen ganz anderen Anspruch. Eine News-Plattform wird das nie, aber auch wirklich gar nie ersetzen können. Die Themen-Tags mit dem Targeting von Facebook und Google zu vergleichen, ist vorsichtig formuliert sehr vermessen.