von Nik Niethammer

Wie gut waren «die guten alten Zeiten»?

Neulich fragte mich eine junge Kollegin, ob die Zeiten früher besser waren für Journalisten, «als die Medien weniger Sorgen hatten als heute.» Ich musste kurz nachdenken. «Es waren andere Zeiten» sagte ich. «Ganz andere.» Darüber will ich heute erzählen.

Ende der 80er Jahre arbeitete ich für die Schweizer Illustrierte. In den Redaktionsstuben wurde geraucht, was die Lunge hergab, die Tischplatten waren übersät mit Brandflecken, die Tastatur schwarz vor Asche. Der Ticker der SDA spuckte Unmengen von Papier aus, der Diaprojektor röhrte bei der Visionierung wie ein alter Diesel, und in der Grafikabteilung zerbarst regelmässig ein Leuchtpult, weil sich wieder einmal einer drauf gesetzt hatte.

Es gab kein Internet. Kein Facebook. Kein Twitter. Kein E-Mail. Kein Handy.

Aber es gab uns, die Reporter (latein. reportare, «zurückbringen»). Wir wurden losgeschickt, zu den Menschen, zum Ort des Geschehens, auf die Alp, ins Kriegsgebiet, nach China und auf den Grund des Genfersees, um Geschichten und Bilder zurückzubringen.

Wer die wichtigste Geschichte recherchierte, bekam DAS Autotelefon. Ein Gerät gross wie ein Koffer und schwer wie zehn Ziegelsteine. Um es in Betrieb zu nehmen, musste man eine Antenne aufschrauben; der Akku reichte für 20 Minuten. Jeder Autotelefonreporter war stolz wie Bolle. Er rief so oft es ging in der Redaktion an, um zu unterstreichen, wie gut er mit der modernen Technik klar kam. Auf der Fahrt von Zürich nach Basel – damals führte die Strasse noch über den Bötzberg – stoppte er also auf der Passhöhe, baute seinen Koffer auf und kabelte ins Pressehaus: «Ja, ich hier. Alles gut. Tolle Verbindung. Bin noch unterwegs. Bis später. Tschüss.»

Als Reporter fühlten wir uns wie Künstler. Wir trugen abgewetzte Lederjacken und hatten Notizblöcke so dick wie Telefonbücher. Diktiergeräte waren uncool – Woodward und Bernstein enthüllten die Watergate-Affäre schliesslich auch ohne. Reiste der Reporter für ein Interview ins winterliche Stockholm, steuerte er vor dem Abflug ein Fachgeschäft an und erstand den beidseitig gesteppten Gebirgsparka mit handverlesener Gänsedauenfüllung Marke «Everest» für 899 Franken. Die Jacke setzte der Reporter später auf Spesen. Vermerk: «Komplementierung der Ausrüstung». Geld, so fand man, sei überschätzt.

Brauchte der Reporter Informationen zum Thema – sagen wir – «Ausbildung von Lawinensuchhunden», besuchte er die Unterwelt – das Archiv. Er stellte sich in die Reihe vor den Tresen, und wenn viel los war, konnte es eine Weile dauern, bis er dran war. «Ist es noch für diese Woche», lautete die Standardfrage, auch wenn man am Dienstagmittag aufschlug. Die Archiv-Recherche wurde mit der internen Post geliefert und umfasste gerne mal ein Kilo Papier. Bis der Stapel da war, war der Reporter längst weg. Bei der Rückkehr konnte er seine Eindrücke mit den Texten abgleichen, die schon früher erschienen waren.

Der Helikopter war ein beliebtes und gerne genutztes Fortbewegungsmittel; früher wurde geflogen, wo heute übermittelt wird. Nach dem Zieleinlauf beim Engadin Skimarathon zum Beispiel flogen Fotograf und Reporter mit einem Heli nach Zürich, landeten bei der Wasserschutzpolizei im Mythenquai, wurden mit einem Schnellboot über den See gesetzt und erreichten eine Stunde später im leichten Laufschritt das Pressehaus. Der Reporter setzte sich ins verrauchte Büro, der Fotograf verschwand in der Dunkelkammer.

Waren das die goldenen Zeiten des Journalismus? Haben wir damals besseren Journalismus gemacht, weil weniger Konkurrenz war, mehr Zeit für Recherche, grössere Redaktionsbudgets?

Es waren spassige Zeiten, keine Frage. Unbeschwerter, weniger atemlos. Aber mehr Qualität? Fehlanzeige. In meinen Texten von damals knirscht und ächzt es an vielen Ecken. Viele von uns waren satt, selbstzufrieden. Und manchmal meilenweit vom Publikum entfernt.

Früher ging der Journalist nach Hause, wenn er seinen Text an die Druckerei übermittelt hatte. Leserbriefe beantwortete der Leserservice. Kam er von einer Reportage zurück, wurde ihm (fast) alles geglaubt, was er erzählte. Es gab kaum Möglichkeiten, eine Geschichte zu überprüfen. Heute genügt ein Klick, um ein Bild zu verifizieren. Viele Journalisten kümmern sich persönlich um den Dialog mit dem Publikum. Funktioniert ein Text nicht, haut ihn das Netz dem Autor um die Ohren.

Trotz Spardruck in den Redaktionen, trotz sinkender Auflagen, trotz Wehklagen der Branche: So seriös, nachhaltig und kompetent wie der Journalismus in der Schweiz heute ist, war er nie. Finde ich!

Leserbeiträge

Somaro 06. Oktober 2015, 12:15

Schöner Beitrag, danke für die ehrlichkeit.

Ja, ich denke, die „Früher war alles besser“Denke kommt nur daher, dass man die Fehler früher gar nicht gefunden hat und am nächsten Tag hatte man es eh vergessen, weil schon wieder neue Nachrichten in der Zeitung standen.
Um es mal mit Cruella De Ville zu formulieren: „Die Zeitungen können mich. Morgen spricht keiner mehr davon!“

Und als Außenstehender denke ich, kann man nicht gewissenhaft für die anvisierte Zielgruppe recherchieren, wenn man zum Spaß mal eben den Monatsgehalt eines Arbeiters auf den Kopf haut. Da wundert es mich dann gar nicht mehr, dass jede Zeitung damals im Grunde für die Reichsten 10 % schrieb, wenn sie vom „kleinen Mann“ sprach. Wer sich finanziell nur in erlesenen Kreisen bewegt, kann auch nur dessen Probleme verstehen.