Ein Märchen aus nicht ganz so guten Zeiten
Von wegen «gute alte Zeiten»: Umberto Eco führt in seinem neuen Roman «Nullnummer» zurück in eine frühere Phase der Zeitungskrise und zeigt, dass es auch ohne Internet um die gedruckten Nachrichten nicht zum besten gestanden hatte. Als Medienkritik bleibt das Buch indes zu komödiantisch-oberflächlich.
Einer Legende nach nannten die Einwohner Samoas den Schriftsteller Robert Louis Stevenson, der 1890 bis zu seinem Tod vier Jahre später auf ihrer Insel lebte «Tusitala» – Geschichtenerzähler. In Umberto Ecos neuestem Buch «Nullnummer» wird der Ich-Erzähler Colonna von seiner Geliebten ebenfalls Tusitala genannt. Ansonsten sind die Nachnamen der Protagonisten, wie Eco in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung erklärt, Namen von Schriften älterer italienischer «Word»-Versionen.
Colonna ist 50 Jahre alt und fühlt sich mit seinem «monströsen Wissen» «heimatlos». Ihm fehlt ein akademischer Grad. Vom universitären Betrieb Italiens in den 1950er Jahren sowohl ver- als auch abgestoßen schlägt er sich zunächst recht gut mit Übersetzungsarbeiten aus dem Deutschen durch, verdingt sich dann, als das Deutsche nicht mehr angesagt ist, als Privatlehrer, bewertet danach für einen Verlag unverlangt eingesandte Manuskripte, revidiert Lexikonartikel und liest Fahnen Korrektur und schreibt bedeutungslose Artikel und Rezensionen. Bis ihn ein gewisser Simei anspricht. Dieser soll im Auftrag des Medienunternehmers «Commendatore» Vimercate eine neue, boulevardeske Zeitung entwerfen. Simei zieht Colonna ins Vertrauen: Erscheinen soll die Zeitung in Wirklichkeit nie. Sie dient ausschließlich dazu, Vimercate den Zugang zu wichtigen politischen Entscheidungsträgern und Strippenziehern zu erpressen. Dies wissend, plant Simei danach ein Enthüllungsbuch, welches ihm Colonna schreiben soll. Damit will er seinerseits Vimercate erpressen.
Colonna wirft seine Skrupel über Bord – die erwartete Summe (Schwarzgeld natürlich) ist zu verlockend. In der Redaktionskonferenz, die die erste von mehreren Nullnummern gestalten sollen, sitzen sechs Journalisten, die alle mehr oder weniger aus dem Boulevard- und Klatschjournalismus stammen. Bis auf eine Maia sind es allesamt «Männer ohne Eigenschaften». Maia bekommt früh Skrupel und hält nur durch, weil Colonna mit ihr ein Verhältnis anfängt und beide mit dem Geld eine neue Existenz aufbauen wollen. Abseits der Sitzungen kommt Colonna mit Braggadocio näher in Kontakt. Braggadocio beargwöhnt alles («Argwohn ist nie übertrieben»), kennt die Tricks der Medien («Die Zeitungen lügen, die Historiker lügen, heute lügt das Fernsehen») und ist stets auf der Suche nach Verschwörungen und Komplotten, was durchaus skurrile Züge annimmt, etwa wenn es darum geht ein neues Auto zu kaufen welches seinen Anforderungen entspricht, er aber laufend Lügen und Auslassungen in der Autowerbung entdeckt.
Nach und nach wird Colonna in eine unglaubliche Geschichte gezogen. Demnach sei der faschistische Diktator Benito Mussolini 1945 nicht hingerichtet worden, sondern nur sein Doppelgänger. Seitenlang werden im Buch Braggadocios Indizien hierfür zitiert, unter anderem in allen Details der Obduktionsbericht des «falschen» Mussolini. Tatsächlich habe man den «Duce» mit oder auch ohne Hilfe des Vatikan nach Argentinien verbracht. In den 1950er Jahren entstanden mit Hilfe des CIA in vielen westeuropäischen Ländern paramilitärische, sogenannte «Stay-behind»-Organisationen, die im Falle einer feindlichen (kommunistischen) Besatzung den Widerstand und Sabotageakte organisieren sollten. In Italien hiess diese Organisation «Gladio». Braggadocios Recherchen gehen dahin, dass «Gladio» 1970 die Zeit in Italien für gekommen sah, mit einem Putsch die demokratische Struktur zu beseitigen und durch ein rechts-faschistisches Regime zu ersetzen. Mussolini sollte die Spitze der neuen Regierung übernehmen. Zum Putsch sei es dann nicht gekommen, weil Mussolini unmittelbar vor der Aktion mit 87 Jahren in Argentinien verstorben sei. Immer konspirativer werden die Gespräche zwischen Colonna und Braggadocio. Es ist eine Eigenart des Autors Umberto Eco, dass er der Faszination seiner Komplottgeschichten und Verschwörungstheorien fast selber zu erliegen scheint. So schlüssig erscheint die Indizienkette über die Causa Mussolini, dass alle möglichen Verstrickungen von «Gladio» in die italienische Politik (bis hin zu den Attentaten der «Roten Brigaden») wie logische Folgen daherkommen.
Parallel hierzu stehen die eher öden Redaktionssitzungen. Simei charakterisiert zu Beginn die potentielle Zielgruppe der neuen Zeitung mit dem Arbeitstitel «Domani» («Der Morgen»): «Sie haben die Fünfzig hinter sich, sind gute, ehrenwerte Bürger, die Wert auf Gesetz und Ordnung legen, aber sie sind begierig auf Klatsch und Enthüllungen über diverse Formen von Unordnung. Gehen wir davon aus, dass sie nicht das sind, was man starke Leser nennt, im Gegenteil, viele von ihnen haben kein einziges Buch im Hause.»
Und es gibt Einblicke in der das kleine Einmaleins des tendenziösen Journalismus. Etwa wenn es darum geht, Meinungen als Tatsachen auszugeben. Damit nicht allzu plump die Meinung des Journalisten wiedergeben wird, werden Aussagen anderer (z. B. Augenzeugen oder, immer mehr, sogenannter Experten) herangezogen. Diese setzt man in Anführungszeichen und dadurch erhalten «diese Aussagen und Behauptungen den Charakter von Tatsachen, soll heißen, es ist eine Tatsache, dass der Betreffende die und die Meinung geäußert hat.» Indem mehrere solcher «Tatsachen» publiziert werden, entsteht der Eindruck der Vielstimmigkeit und Repräsentativität. Kaum spürbar wird die vorherrschende Meinung des Journalisten übermittelt: Zuerst wird «eine banale Meinung in Anführungszeichen gesetzt und dann eine andere, besser begründete, die der des Journalisten sehr ähnlich ist. So gewinnt der Leser den Eindruck, über zwei Tatsachen informiert worden zu sein, ist aber dazu gebracht worden, nur eine Meinung als die überzeugendere zu akzeptieren.»
Es gehe nicht darum, das zu schreiben was war (der Leser weiss dies aus dem Fernsehen längst), sondern Voraussagen zu machen, zu spekulieren. Zwar werden dabei Wörter wie «womöglich» oder «vielleicht» verwendet, am Ende soll jedoch der Eindruck einer unumstösslichen Tatsache entstehen Simei und Colonna vergattern die Redakteure «Artikel voller Hypothesen und Spekulationen, ruhig auch Insinuationen» zu schreiben. Dabei soll nicht der Journalist die erwünschte Behauptung aufstellen, sondern der Schluss, das Urteil, soll beim Leser entstehen. Es wird vom Journalisten allerdings derart aufbereitet, dass es zwingend ist. Harmlose Tatsachen werden aneinander gereiht, so dass sie in eine bestimmte Richtung interpretiert werden können. Als Beispiel wird ein Untersuchungsrichter genannt, der in einer Korruptionsaffäre ermittelt, die unangenehme Folgen für den Commendatore haben könnte. Der Untersuchungsrichter wird in einem chinesischen Restaurant mit Stäbchen essend gesehen. Simei triumphiert: «Unsere Leser gehen nicht oft in chinesische Restaurants, womöglich gibt es gar keine da, wo sie wohnen, und sie würden sich niemals träumen lassen, mit Stäbchen zu essen wie die Wilden. Wieso geht dieser Typ zum Chinesen essen, werden die Leser sich fragen? Wieso isst er, wenn er ein seriöser Untersuchungsrichter ist, nicht Spaghetti oder Tagliatelle wie wir alle?» (Eco ist genau das passiert: Er ist zum Gegenstand in der italienischen Presse geworden, weil er in einem chinesischen Restaurant mit einem «Unbekannten» [ein Freund von ihm] gegessen hatte.)
«Eine Insinuation ist wirksam, wenn sie mit Fakten operiert, die an sich keinen Wert haben, aber unbestreitbar wahr sind», so die Doktrin. Weiterhin geht es um die die Benutzung sogenannter stehender Redewendungen und Phrasen, die so lange verwendet werden, bis sie dem Leser gar nicht mehr als solche auffallen. Auch den richtigen Umgang mit Richtigstellungen und Gegendarstellungen bekommen die Redakteure vermittelt.
«Nicht die Nachrichten machen die Zeitung, sondern die Zeitung macht die Nachrichten». Dies ist die Maxime, unter der diese Zeitung stehen soll. Aber Simei muss einige Initiativen der Redakteure bremsen. Einige Themen sind entweder «irrelevant» (zu kompliziert bzw. zu intellektuell) oder einfach «zu heiß». Mit der Polizei oder der Mafia will man es sich dann doch nicht verscherzen. Auch ein anderer Widerspruch wird deutlich. Zum einen wird gegen die Intellektuellen gewettert, «die uns immer sagen wollen, wo’s langgeht». Zum anderen lautet eine Devise Simeis: «Die Zeitungen lehren die Leute wie sie denken sollen».
Am Ende präsentiert Eco noch einen Krimi. Braggadocio wird ermordet aufgefunden. Kurz vorher hatte er Simei mit seinen Recherchen über Mussolini und Gladio ins Vertrauen gezogen. (Vielleicht, so die Vermutung des Lesers, war genau dies sein Fehler.) Der Polizei wird von Nachforschungen im Rotlichtmilieu erzählt. Das Zeitungsprojekt wird auf Anordnung des Commendatore sofort eingestellt, die Redakteure ausbezahlt. Colonna und Maia verlassen überstürzt Mailand und verschanzen sich auf dem Land. Sie haben Angst um ihr Leben.
Eco bietet in «Nullnummer» Einblicke in das Geschäft des Zeitungsmachens im Jahr 1992. Damals gab es kein Internet, kaum Mobiltelefone (Simei erklärt sogar, dass diese keine Zukunft hätten), keine sozialen Netzwerke. Der Satz Simeis «Die Leute wissen zuerst nicht, was sie wollen, dann sagen wir’s ihnen, und sie merken, dass sie es längst gewollt hatten» schlägt die Brücke zur Gegenwart; den Schluss überlässt Eco dem Leser – gute Journalistentradition – selber.
In einigen Besprechungen wird «Nullnummer» als Persiflage oder gar Abrechnung mit dem System Berlusconi gesehen. Der Commendatore in dem Buch hat zweifellos Züge von Berlusconi. Übersehen wird dabei allerdings, dass Berlusconi erst 1994 an die Macht kam. Die Verwerfungen im Journalismus haben ihre Ursachen tief im «alten» politischen System. Der Zeitpunkt 1992 ist von Eco aus zwei anderen Gründen gewählt. Zum einen befand sich Italien Anfang der 1990er Jahre in einem politischen Umbruch. Viele traditionelle politischen Parteien – allen voran die jahrzehntelang regierende und heillos in Korruptions- und Staatsaffären verstrickte «Democrazia Cristiana» – zeigten Auflösungserscheinungen. Das politische Umfeld erodierte. Berlusconi stieß mit seinem Medienimperium und den «richtigen» Kontakten in dieses Vakuum. Der zweite Grund ist, dass im Sommer 1992 in der BBC ein über zweieinhalbstündiger Dokumentarfilm ausgestrahlt wurde, der detailliert und glaubwürdig die Verstrickungen von Politik und Geheimdiensten mit der Organisation «Gladio» dokumentierte. Der Film rettet Colonna und Maia, da alles außer der Mussolini-Geschichte bestätigt und publik geworden ist. Sie brauchen keine Anschläge mehr zu fürchten und können ein neues Leben anfangen.
So endet der Roman wie ein Märchen. Aber es ist ein in vielerlei Hinsicht gescheitertes Buch. Als Medienkritik ist es zu komödiantisch-oberflächlich. Das Komplott über «Gladio» wird durch die Realität eingeholt. Das (von Eco frei erfundene) Mussolini-Anhängsel wirkt aufgesetzt. Die Kriminalgeschichte um Braggadocio ist lieblos erzählt. Literarisch ist es vollkommen anspruchslos und gleicht eher einer Reportage. Aber es zeigt einen Aspekt, den man sich durchaus in das Gedächtnis zurückrufen kann: Der Zeitungsjournalismus ist nicht durch das Internet befragt oder gar zerstört worden. Die Zeitungskrise, so Eco im SZ-Interview «begann schon in den frühen Fünfzigerjahren, mit der Ankunft des Fernsehens. Bis dahin erzählte die Zeitung am Morgen, was bis zum Abend des Vortages geschehen war. Danach erzählte sie, was die Leute bereits seit dem Vorabend wussten.» Immerhin wird deutlich, dass die «gute alte Zeit», die inzwischen in Redaktionen so sehnsüchtig wie inbrünstig beschworen wird, schon damals nicht mehr existierte.