Bitte keinen Bevormundungsjournalismus!
Halten Medien ihnen bekannte Fakten zurück, und sei es in guter Absicht, schaden sie dem Journalismus als Ganzes. Mit ihrer Berichterstattung zur Flüchtlingssituation und den Übergriffen in Köln trugen die öffentlich-rechtlichen Sender Deutschlands nicht eben zur Vertrauensbildung bei.
Die öffentlich-rechtlichen Nachrichtenmedien von ARD und ZDF hatten erst mit mehrtätiger Verzögerung von den Ereignissen in Köln (und anderen deutschen Städten) berichtet. Am 4. Januar war dem ZDF in der «heute»-Nachrichtensendung der Smog und das Teil-Fahrverbot in Indiens Hauptstadt Neu Delhi wichtiger als die Ereignisse in Köln, während die «Tagesschau» am gleichen Tag erstmalig darüber berichtete.
Ein Teil der Bevölkerung zeigt sich verunsichert durch die de facto offenen Grenzen. Die Ablehnung der Politik der Bundesregierung, die im Jahr 2015 rund 1,1 Millionen Flüchtlinge ins Land brachte, bekam durch die eher schleppende Berichterstattung der Ereignisse der Silvesternacht zusätzlichen Auftrieb. Das ZDF entschuldigte sich zwar für die späte Berichterstattung und räumte eine Fehleinschätzung der Ereignisse ein, aber grundsätzliche Kritik auch an der zunehmenden Relativierung der Ereignisse wurde zurückgewiesen. So schmetterte der Vize-Chefredakteur von «ARD-aktuell» Christian Nitsche die Kritik an der Tagesschau mit der fast schon üblichen Arroganz ab: «Auftrag der Nachrichtensendungen ist es, die Realität so gut es geht abzubilden. Diesen Auftrag nimmt ARD-aktuell sehr ernst und wurde ihm auch in der vergangenen Woche gerecht.»
Dennoch hatte die verzögerte und nicht immer offene Berichterstattung das in den letzten Monaten verstärkt aufgekommene Unbehagen den Medien gegenüber noch verstärkt. Berthold Kohler, einer der Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, sprach von einer politisch gewollten «Schweigespirale», die die Migrantenkriminalität nicht thematisieren wolle, um nicht rechtsextremistischen Kräften Nahrung zu bieten. Kohler sieht diese Methode als gescheitert an: «Doch die aus dieser löblichen Absicht hervorgegangene Politik des Schönredens, Bestreitens und Gesundbetens auf dem Feld der Ausländer- und Einwanderungspolitik hat genau den gegenteiligen Effekt: Sie treibt aufrechte Demokraten ins Nichtwähler-Lager und auf die Barrikaden. Dort fühlen sie sich mit einem Äusserungsverbot belegt, als ‹Ausländerfeinde› diffamiert und in ‹die rechte Ecke gestellt›, in der manche dann auch landen.»
Jüngste Berichte zeigen, dass dieses «stillschweigende Abkommen» in den Medien sehr wohl existiert, zumindest informell und punktuell. So kommentierte am 19. Januar der Chef von «ARD-aktuell», Kai Gniffke, in einem Blogeintrag die Vorwürfe der verzögerten Berichterstattung. Seine Bilanz ist identisch mit der von Kollege Nitsche: «Auf der Basis der Informationen, die uns bis zum 3. Januar zur Verfügung standen, würden wir wohl wieder genauso handeln.» Erstaunlicher als dies ist eine andere Aussage, mit der er den Vorwurf einer «Schweigespirale» in Bezug auf Migrantenkriminalität zu kontern versucht . Man habe, so Gniffke, in den «Tagesthemen» vom 3. Januar 2016 «einen Bericht über arabische Clans im deutschen Grosstadtmilieu, über deren Straftaten und über rechtsfreie Räume» im Programm gehabt, und dies «ohne Kenntnis der Ereignisse von Köln». Gniffke rühmt sich sogar noch: «Als hätten wir eine Vorahnung von Köln gehabt…» Diese Aussage ist bemerkenswert, da er in seinem Text zu Beginn durchaus von Meldungen spricht, die die Redaktion erreicht hätten. Insofern wird die Äusserung, man habe «ohne Kenntnis der Ereignisse von Köln» gehandelt, durch den eigenen Text widerlegt.
Am Streit – «Schweigespirale» ja oder nein – zeigt sich deutlich, wie polarisiert die Berichterstattung in den deutschen Medien inzwischen abläuft. Die einen verteidigen die Politik der Bundesregierung die anderen nehmen eine skeptische bis ablehnende Position ein. Erschwerend kommt hinzu, dass sich scheinbare Fakten widersprechen. Mal ist davon die Rede, dass die Masse der Flüchtlinge gut ausgebildet ist, dann wiederum heisst es, mehr als 90% seien mindestens kurzfristig für den längst hochspezialisierten deutschen Arbeitsmarkt nicht geeignet. Die jeweils andere Sichtweise wird praktisch sofort auf der persönlichen Ebene angriffen. Man ist entweder «Populist» oder «Multikulti-Träumer»; wenn nicht gar Schlimmeres. Es gibt kaum noch eine «neutrale» Position. Am Verfasser und/oder Publikationsmedium lässt sich fast zuverlässig ablesen, welcher Seite in Bericht, ein Artikel, ein Kommentar zuneigt. Eine dialektische Entwicklung in einem Text findet kaum noch statt. Im besten Fall werden zwei divergierende Meinungen neben- oder hintereinander publiziert.
Umso überraschter war man, als am 8. Januar im konservativ-liberalen Ringier-Magazin «Cicero» Michael Angele kommentierte, der stellvertretende Chefredakteur des links-progressiven, von Jakob Augstein herausgegebenen «Freitag». Der Text ist aus zwei Gründen bemerkenswert. Zum einen gibt Angele wieder, wie man das Magazin «Cicero» bei seinen gleichgesinnten Kollegen ansieht: als «Drecksblatt». Eine derartige Entgleisung aus dem Kantinengespräch in die Öffentlichkeit zu holen, zeigt an, wie polarisiert der Ton in der deutschen Publizistik inzwischen geworden ist. Der zweite Grund, warum man diesen Text unbedingt lesen sollte, ist im Gewölk der Invektiven («Apokalypse des Spiessertums») ganz gut verborgen. Angele entwickelt hier nämlich beiläufig sein journalistisches Credo: «Man muss Dinge, die schwach sind, stärken, und Dinge, die zu stark und mächtig sind, schwächen, das ist mein Ethos als ein Journalist, der nicht Fakten liefert, sondern Interpretationen zu diesen Fakten.»
In den sozialen Netzwerken lässt sich leicht nachlesen, dass Angeles Artikel im «Drecksblatt» grosse Zustimmung fand. Es kann also als ausgemacht gelten, dass zumindest Journalisten, die Angeles Weltbild teilen, nicht mehr Fakten rapportieren, sondern den Rezipienten mit den Interpretationen zu diesen Fakten versorgen wollen. Es ist erstaunlich, dass diese Passage bisher kaum kommentiert wurde. Selbst wenn man «Cicero» und den «Freitag» als unwichtige Presseerzeugnisse abtut, zeigt sich dahinter eine Berufsauffassung, die alle Schmähungen und Ressentiments in punkto medialer Berichterstattung nähren. Was Angele als Ethos bezeichnet ist nichts anderes als der Vorsatz der Manipulation.
Was nicht explizit ausgedrückt wird, aber natürlich auf der Hand liegt: Diese Manipulation wird als Berichterstattung, als Faktum, ausgegeben. Der Rezipient ist nicht in der Lage, die Manipulationen zu erkennen, es sei denn, er liest einen Bericht mit einem anderen Tenor. Da im anderen «Lager» vermutlich nach dem ähnlichen Muster gearbeitet wird, gibt es kaum eine Chance eine halbwegs korrekte Darstellung eines Ereignisses zu erhalten.
Es ist inzwischen eine Binsenweisheit, dass «gut gemeint» oft das Gegenteil von «gut gemacht» bedeutet. Wir brauchen einen Journalismus, der dem Leser, der Leserin, dem Zuschauer, der Zuschauerin die Möglichkeit gibt, seine eigenen Schlüsse zu ziehen. Wir brauchen keinen paternalistischen und bevormundenden Journalismus, der uns vor der «bösen Welt» beschützt. Wir brauchen keinen Meinungsjournalismus, der uns das Denken abnimmt. Wir brauchen keine Interpretationen von Ereignissen – wir brauchen zunächst einmal die Meldung. Demokratie bedeutet Streit; Streit mit Argumenten. Medien sind dafür da, den Bürger mit Argumenten zu bedienen. Hierfür sollen sie korrekt berichten; wenn sie kommentieren, d. h. eine persönliche Sicht eines Berichterstatters wiedergeben, muss dies explizit als solches ausgewiesen werden. Manipulationen, Denkverbote oder falsch verstandene Rücksichtnahmen können gerade das potenzieren, was man verhindern möchte. In anderen Ländern hat dies das Erstarken der ungeliebten politischen Kräfte nicht aufhalten können, sondern womöglich sogar beschleunigt.
Der Vertrauensverlust des Journalismus lässt sich mit heroischen Posen, Durchhalteparolen oder bräsiger Arroganz nicht aufhalten. Wo es darum geht, Grundrechte zu verteidigen, ist die Sichtbarmachung einer klaren Haltung auch für öffentlich-rechtliche Medien legitim. Aber nicht als Freipass für Meinungsmache misszuverstehen. Und dieser Grat dazwischen ist ein schmaler.Was benötigt wird, ist Handwerk. Denn es muss unter allen Umständen verhindert werden, dass sich jeder nur noch in seiner medialen Blase «informiert». Die Auswirkungen dieser Entwicklung auf das politische Umfeld sind fatal.
Matthias Giger 20. Januar 2016, 07:14
Guter Kommentar. Einzig der Begriff Migrantenkriminalität hat mich gestört, weil er Migranten und Kriminalität verknüpft. Treffender wäre doch kriminelle Migranten. So wird zumindest ein zweiter Topf geöffnet, in den die nicht kriminellen Migranten – notabene immer noch die Mehrheit – hinein gesteckt werden können.