von Carmen Epp

Gesunder Menschenverstand statt Experten

Der Vierfachmord von Rupperswil lässt uns unweigerlich fragen: Was ist das für ein Mensch, der zu so einer brutalen Tat fähig ist? So sehr wir gerne eine Antwort darauf hätten: Es gibt sie garantiert nicht auf die Schnelle. Trotzdem lassen Medien dazu Experte um Experte zu Wort kommen. Die bestätigen aber bestenfalls das, was der gesunde Menschenverstand uns ohnehin schon vorgibt. Oder sie liegen gar komplett daneben.

Der Mord von Rupperswil hält die Schweiz seit Ende des vergangenen Jahres in Atem. Vier Personen waren getötet und in Brand gesteckt, eines der Opfer, ein 13-jähriger Junge, zuvor sexuell missbraucht worden. Die Polizei fand DNA-Spuren am Tatort, die Täterschaft hingegen schien während Monaten unauffindbar.

Schon bald liessen Medien allerhand Experten zu Wort kommen. Sie sollten der damals noch unbekannten Täterschaft ein Gesicht, ein Profil geben, und damit mögliche Antworten liefern auf die Frage: Wer um Himmels Willen ist zu so einer brutalen Tat fähig? So sehr diese Frage auch unter den Nägeln brannte, so sehr war deren Beantwortung von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Dies zumal das, was die zitierten Experten zum Besten geben konnten, das Publikum wenig zu überraschen vermochte.

Kaum ein Leser, Hörer oder Zuschauer hatte wohl ernsthaft vermutet, dass es sich bei der Täterschaft um einen oder mehrere psychisch intakte Affekttäter handelte, der oder die seither von Reue geplagt sich jede Nacht in den Schlaf weinte. Im Gegenteil: Es entspricht dem gesunden Menschenverstand, dass jemand, der vier Menschen kaltblütig ermordet und in Brand steckt, ein gefühlskalter Psychopath ist – dafür brauchte man weder Gerichtspsychiaterin noch Forensiker zu sein.

Doch nicht nur das Publikum wurde mit solchen Experten-Interviews und -Einschätzungen für dumm verkauft. Auch das 40-köpfige Ermittlerteam, das derweil jeder Spur auf nachging, dürfte höchstens ein müdes Lächeln übrig gehabt haben für den kläglichen Versuch der Medien, der Täterschaft ein Gesicht zu geben.
Am 12. Mai waren die Ermittlungen schliesslich erfolgreich. Der mutmassliche Täter wurde gefasst und ist gemäss Aussagen der Staatsanwaltschaft geständig. Je mehr über den Gefassten publik wurde, desto klarer wurde, dass er nicht dem entsprach, was man üblicherweise von einem Mörder erwartete: Der mutmassliche Täter ist weder vorbestraft noch sonst irgendwie aufgefallen – der scheinbar nette Nachbar von nebenan. Dass jemand aus dem vermeintlichen Nichts zur «Bestie» werden konnte («Blick»), trugt wenig zur Klärung bei. Wenig erhellend waren auch die von den Medien befragten Experten. Zum Einen zeigte sich nun, wie willkürlich und letztlich falsch die Mutmassungen gewisser Experten im Vorfeld gewesen waren. So hatte sich der forensische Psychiater Thomas Knecht noch im Dezember überzeugt gezeigt, dass es sich um mehrere Täter handeln müsse. Zum selben Schluss war auch der forensische Psychiater Frank Urbaniok gekommen. Diese Einschätzung wurde daraufhin auch von anderen Medien dankbar aufgenommen, wie zum Beispiel hier, hier oder hier. Dass Urbaniok offenbar falsch lag, hat die Redaktionen dann aber nicht mehr interessiert; eine Konfrontation mit der Fehleinschätzung findet sich nirgends. Das wertet nicht nur die Information, sondern auch den Journalismus empfindlich ab.

Immerhin im «Talk Täglich» auf TeleM1 wurde Urbaniok auf die Fehleinschätzung von ihm und seiner Kollegen im In- und Ausland angesprochen. Der Forensiker erklärte sie damit, dass es sich um eine «sehr extreme Ausnahmetat» handelte, die «sehr unwahrscheinlich» sei. Er wies aber auch auf die Problematik hin, an der der Versuch, die unbegreifliche Tat begreiflich zu machen, meiner Meinung nach immer krankt: Dass man sich auf Informationen berufen muss, ohne den Täter zu kennen, was immer verschiedene Interpretationen offen lasse. Jetzt, da der mutmassliche Täter gefasst sei, werde man die Frage nach dem Warum genauer beantworten können als man das zuvor gekonnt habe, so Urbaniok.

Die Botschaft von Urbaniok schien bei Medienschaffenden und auch bei seinen Kollegen jedoch nicht anzukommen. Statt auf das Gutachten zu warten, das ein Psychiater nun nach Gesprächen mit dem mutmasslichen Täter erstellen wird, betreiben die Medien die Expertitis zum Fall Rupperswil munter weiter – mit teilweise skurrilen Zügen. Thomas Knecht betont im Interview mit Watson, wie «abgebrüht» der mutmassliche Täter gewesen sein muss und stellt schon mal eine mögliche Diagnose in den Raum. Im «Blick» wird derselbe Forsensiker mit Sätzen zitiert wie: «Die Tat deutet auf einen kaltblütigen, vegetativ stabilen und skrupellosen Täter hin. Ihm fehlt es komplett an Empathie, nur seine Gefühle zählen für ihn» oder «Dass sich der Täter in der Hochrisiko-Situation noch sexuell befriedigen konnte, ist sehr erstaunlich und bei Menschen mit ‹normaler› psychischer Konstitution undenkbar.» Kaum ein Medium, das solche oder ähnliche Aussagen nicht schon publiziert hätte.

Obwohl der Erkenntnisgewinn gering ist. Nicht nur, weil es sich erneut um Ferndiagnosen handelt, sondern weil der Inhalt wenig überrascht. Der Mörder von Rupperswil, ein kaltblütiger, skrupelloser Mensch ohne Mitgefühl, psychisch krank? Geschenkt. Dass damit etliche Zeilen und Sendeminuten gefüllt werden, kann also wenig damit zu tun haben, dem Leser, Hörer oder Zuschauer etwas zu vermitteln, das er noch nicht weiss. Vielmehr geht es darum, den Fall Rupperswil, der nach wie vor Klicks und Leserzahlen generiert, weiter zu bewirtschaften. Dass es Forensiker gibt, die bereitwillig Auskunft geben, obwohl sie wissen, wie willkürlich ihre Aussagen sind, entschuldigt nicht die Tatsache, dass damit das Publikum für dumm verkauft wird. Gesunder Menschenverstand – das zumindest sollten Medienschaffende ihren Lesern zutrauen.

Leserbeiträge

MONIKA BRUNSCHWILER 06. Juni 2016, 19:48

Sehr guter Artikel. Für mich aber echt hm – ich weiss noch nicht – habe mir meine Meinung noch nicht machen können. Nach Brand und Feuer DNA Spuren und hm – und die Verhaftung der Mutter des angeblichen Täters, und das schnelle Geständnis, irgendwie sieht es schon fast zu perfekt aus, für mich. Und seit ich nicht nur den Fall Ignaz Walker kenne, auch Erich Schlatter und den Fall X (da darf ich den Namen nicht sagen) – alles 3 Menschen welche in den Zeitungen wie dieser Mensch hier nun ist; als Mörder.
Ich hoffe die Serien-Irrtümer der Schweizer Polizei kommen je länger je mehr ans Licht und was hier ist, warum die Polizei die Mutter verhaftet hat, wird einfach mal totgeschwiegen, die Verhaftung der Mutter ist für mich hier noch nie plausibel gewesen, irgendwie habe ich da noch sehr sehr viele Fragen.