Wenn man plötzlich fordern statt liefern muss
Für eine einzige Zeitungsausgabe übernahm unser Kolumnist eine neue Rolle: Bei ihm liefen die Fäden für eine Sondernummer zur Eröffnung des Gotthard-Basistunnels zusammen. Warum er dabei «auf die Welt kam» – und warum ihn stets das schlechte Gewissen begleitete.
Bei aller gewünschten Selbstbestimmung als Journalist kann es eine durchaus willkommene Entlastung sein, wenn einem ein Entscheid abgenommen wird. So erging es mir, als ich Anfang April nach einem dreimonatigen Aufenthalt in Nicaragua wieder in den Redaktionsalltag der Aargauer Zeitung einstieg. Gleich bei der ersten Sitzung wurde mir mitgeteilt, dass wir die Ausgabe vom 28. Mai monothematisch der Eröffnung des Gotthard-Basistunnels widmen werden. Und vor allem: Dass ich dafür verantwortlich sein soll – sozusagen als Blattmacher für eine Nummer.
Natürlich hätte ich mich dagegen wehren können, aber warum auch? Ganz ohne Bauchschmerzen verliess ich die Sitzung dennoch nicht. Auch wenn es noch weit weg war, ahnte ich: Das wird eine komplett neue und mit vielen Unwägbarkeiten verbundene Aufgabe.
Wie geht man solch ein Projekt an? Ja, wie soll so eine Sondernummer überhaupt aussehen? An dieser Stelle nicht unwichtig zu erwähnen: Es liefen bei mir zwar die Fäden zusammen, aber die grundlegenden Entscheidungen fällte ich nicht in Eigenregie, sondern in Absprache mit dem eisenbahnaffinen Chefredaktor und seinem Stellvertreter, seines Zeichens Blattmacher im normalen Tagesgeschäft. Das letzte Wort war stets bei ihnen.
Wir definierten: Die Mantelbund der Zeitung kommt praktisch monothematisch daher. Das wären inklusive Werbung dann also fast zwanzig Seiten Gotthard. Dafür bringen wir im Vorfeld kaum Artikel zum Thema, wie das andere Zeitungen gemacht haben. Die Aktualität und die notwendigste Vorschau, etwa auf den gleichentags stattfindenden Champions-League-Final, findet auf maximal vier Seiten am Ende des Bundes statt. Die klassische Einteilung nach Ressorts entfällt und die Front- und Backpage müssen so aussehen, dass die Leser zwar merken, ihre angestammte Zeitung in den Händen zu halten, gleichzeitig aber sofort das Sonderkonzept erkennen.
Für die Feinplanung setzten wir auf Basisdemokratie. Eines Montags – einen guten Monat vor Publikationsdatum – sassen alle Ressortleiter zusammen und brachten ihre Ideen ein. Ich sammelte, ergänzte und schrieb endlich ein Konzept, das jede Seite mitsamt dazugehörigen Artikeln definierte.
Das alles brauchte Zeit – Zeit, die ich normalerweise im Redaktionsalltag nicht habe. Meine Vorgesetzten haben mich stets ermuntert und es mir ermöglicht, dass ich sie mir auch nehmen konnte. Auch von Seiten meiner Redaktionskollegen kam nie ein negatives Wort. Dennoch begleitete mich ihnen gegenüber an vielen Tagen, an denen ich mich ausschliesslich der Sonderausgabe widmete, ein schlechtes Gewissen. Grundlos, ich weiss. Und dennoch vorhanden. Denn während ich abklärte, ob die Werbung auf Seite 13 vielleicht in den Regionalbund verlegt werden könnte, damit die Kulturredaktorin den «Mythos Gotthard» in angemessener Zeilenzahl erklären konnte, schrieben meine Kollegen wie üblich Inland-Artikel für den Folgetag. «Ich arbeite heute an der Gotthard-Nummer, sorry», geht einem nicht ganz einfach über die Lippen, wenn an der nachmittäglichen Redaktionssitzung noch ein Autor für den Front-Kommentar gesucht wird.
Von solchen Tagen gab es einige. Denn mit dem Konzept alleine wars natürlich noch nicht getan. Was ich sonst immer nur aus umgekehrter Perspektive erlebte, blühte mir jetzt selbst: Plötzlich war es an mir, für die verschiedenen Ideen Autoren zu suchen (sofern sie sich nicht selbst schon gemeldet hatten), mit ihnen die Stossrichtung ihrer Artikel abzusprechen, sie auf die nahende Deadline hinzuweisen, Grafiker zu instruieren, mit der Foto-Redaktion Bilder auszuwählen, Texte gegenzulesen und Anmerkungen anzubringen. Stets musste ich die Gesamtausgabe im Hinterkopf haben, damit keine inhaltlichen und gestalterischen Doubletten entstanden. Kurz: Ich musste fordern und nicht wie üblicherweise einfach nur liefern.
Auch der Web-Auftritt musste besprochen werden. Online können Überthemen naturgemäss weniger gut zurückgehalten und portioniert werden, wenn man sich nicht – mehr noch als bei der Zeitung – den Vorwurf machen will, es zu verpassen. Einige Erzählformen, etwa das Quiz, das im Print auch stattfand und natürlich Bewegtbilder, eignen sich digital besser. Dennoch ist nicht wegzudiskutieren, dass der Fokus auf der gedruckten Ausgabe lag. Nicht zuletzt, weil wir uns erhofften, dass manche Leser die Sonderausgabe zur Seite legen und aufbewahren.
Zum ersten Mal in meinem Berufsleben musste ich überdies finanzielle Überlegungen anstellen: Was kriegt ein altgedienter Historiker für sein Lesestück über die Geschichte der alpenquerenden Eisenbahnverbindungen? Und darf man auf die Forderung eines Fachverlags eingehen, ein Foto gratis verwenden zu dürfen, sofern man das dazugehörige Buch mitsamt Coverbild am Ende des Artikels erwähnt? Fast wäre es mir zum Verhängnis geworden, dass ich neben einem längeren Artikel auch «Beigemüse» wie die Leserservice-Seite oder das Gotthard-Quiz selbst verfassen wollte – denn die Zeit dafür lief mir davon.
Wie immer, wenn man eine Deadline hat – diese Kolumne lässt grüssen! – geht es am Ende ja dann doch irgendwie. Es ging sogar ziemlich gut, sowohl redaktionsintern wie auch von aussen gab es überwiegend positive Rückmeldungen auf die unübliche Samstagsausgabe. In der Nacht auf Sonntag schlief ich wie ein Stein. Ob ich vom Gotthard träumte, weiss ich nicht mehr.