von Lothar Struck

20 Punkte für einen Skandal: Aufregung um «Sachbuchliste»

Weil ein «Spiegel»-Redaktor das Juryreglement ausreizte und ein neurechtes Pamphlet in die «Sachbuchliste» von NDR und Süddeutscher Zeitung gehievt hat, läuft das deutsche Feuilleton Sturm. Davon profitiert der Verlag des geschmähten Werks.

Ausser den üblichen Verdächtigen des Betriebs – Journalisten, Verleger, Buchhändler, Autoren – dürfte die seit knapp 15 Jahren monatlich publizierte «Sachbuchliste» von Süddeutscher Zeitung und Norddeutschem Rundfunk NDR bisher eher weniger interessant für die breite Leserschaft gewesen sein. Hier bewerten Juroren unabhängig voneinander nach einem Punktesystem literarische Neuerscheinungen auf dem deutschsprachigen Buchmarkt. Die Differenz zu gängigen Bestsellerlisten ist beabsichtigt: Qualität statt Quantität soll in den Fokus rücken. Die «Sachbuchliste» praktiziert dies mit Sachbüchern.

Mit der Liste vom Juni 2017 rückt nun diese Einrichtung durch einen Skandal in den Fokus einer breiten Öffentlichkeit. Auf Platz 9 der Juni Liste steht ein Buch des 2016 verstorbenen Autors Rolf Peter Sieferle, mit dem Titel «Finis Germania». Es ist im «Antaios Verlag» erschienen, der dem neurechten Publizisten Götz Kubitschek gehört. Kritiker stellen nun heraus, dass das Buch rechtsradikale These vertrete und somit auf einer Empfehlungsliste nichts zu suchen habe. Sieferles Buch besteht aus 30 lose miteinander verbundenen Texten auf nur 104 Seiten, in denen ein eher düsteres Bild der Zukunft der deutschen Gesellschaft entworfen wird.

Losgetreten wurde der Skandal von einem Artikel in der taz. Der Autor begnügte sich nicht mit dem Hinweis, sondern stellt sofort das gesamte deutschsprachige Feuilleton auf den Prüfstand. Mit den blumigen Worten «Das Sag- und Wählbare hat sich in der Bundesrepublik nach weit rechts verschobenen» beginnt er seinen Text. Unklar bleibt dabei, ob er überhaupt nur einen einzigen Satz des Buches gelesen hat.

Marc Reichwein rückt in der «Welt» das Verfahren in den Fokus nachdem die Bücher für die «Sachbuchliste» bewertet werden. Die Jury besteht aus 25 Personen, überwiegend aus den Redaktionen überregionaler Zeitungen und des öffentlichen Rundfunks. Jurysitzung gibt es keine, kommuniziert wird per E-Mail. Die Juroren sind offensichtlich frei in der Bestimmung der Bücher; auf eine Short- oder Longlist wird verzichtet. Stattdessen vergibt jeder Punkte für die von ihm favorisierten Bücher. Hieraus wird dann eine Reihenfolge ermittelt. In der Auswertung wird dann die Punktzahl genannt.

«Jeder der 25 Juroren kann monatlich vier Bücher eigener Wahl mit 8, 6, 4 oder 2 Punkten versehen», so Reichwein. Das Problem ist, dass Juroren ihre Punkte auch kumulieren können. Im vorliegenden Fall hat dies ein Juror gemacht: er hatte die ihm zur Verfügung stehenden 20 Punkte einem einzigen Buch vergeben.

Theoretisch könnte ein Buch so maximal 200 Punkte erreichen. Was beim Studium der vergangenen Listenresultate auffällt ist die Punktzahl für den Sieger und die grosse Punktdichte. So genügen für Platz 1 häufig zwischen 28 und 30 Punkte; Platz 10 bekommt dann immer noch 18 oder 19 Punkte. Bei 25 Juroren sind 30 Punkte für den Sieger relativ wenig. Wenn dann ein Juror seine Punkte «aufheben» kann, ist schnell eine Platzierung unter den Top Ten möglich.

Die Nachteile dieses Verfahrens liegen auf der Hand. Zum einen können wenige Juroren mit ihren Voten ein Buch weit nach vorne bringen. Zum anderen bleibt sowohl für das Publikum als auch für die Jury selber unkenntlich, wer für welches Buch gestimmt hat.

Der Abstimmungsmodus war jedoch nur ein Aspekt der Behandlung des Skandalons. Wie immer begann sofort das übliche Distanzierungsspielchen; als sei plötzlich die Verbindung zu dieser «Sachbuchliste» ehrenrührig. Obwohl er mit der Auswahl des Buches nichts zu tun hatte, trat Jens Bisky, Feuilletonredaktor der Süddeutschen Zeitung, aus der Jury aus. Das half immerhin ein wenig den Medien aus der SZ/NDR-Liste eine NDR-Liste zu machen. Alle anderen Jurymitglieder distanzieren sich natürlich ebenfalls von dieser Empfehlung.

Zum Zeitpunkt von Biskys Demission war noch nicht bekannt, wer für Sieferles Buch gestimmt hatte. Als sich herausstellte, dass es der «Spiegel»-Redaktor Johannes Saltzwedel war, trat auch dieser ebenfalls sofort aus der Jury aus. Er rechtfertigte zwar noch die Nominierung dahingehend «bewusst ein sehr provokantes Buch der Geschichts- und Gegenwartsdeutung zur Diskussion bringen [zu] wollen», aber für einen Redaktor, der seit Jahrzehnten mit den Gepflogenheiten der Branche vertraut ist, klingt dies sehr naiv. Natürlich rückte auch der «Spiegel»-Chefredaktor Klaus Brinkbäumer, Saltzwedels Chef, von seinem Redaktor ab. «Ich habe nach der Lektüre der wesentlichen Kapitel kein Verständnis dafür, dass der Kollege Saltzwedel dieses Buch empfohlen hat», gab er zu Protokoll. Immerhin hat Brinkbäumer einige Kapitel gelesen; woher er weiss, dass es die «wesentlichen» sind, bleibt ungeklärt.

Mit dem Rücktritt Saltzwedels aus der Jury war die Angelegenheit jedoch noch nicht geklärt. So erklärte der NDR, die «Sachbuchliste» «bis zur vollständigen Aufklärung der Frage, wie es zu dieser gravierenden Fehleinschätzung der Jury kommen konnte» auszusetzen und sich von der Jury – zu distanzieren. Um dies noch besonders deutlich zu machen wurde – und das ist kein Scherz – wird jetzt die Punktzahl des Buches nicht mehr veröffentlicht.

Dies Formulierung des NDR mutet sehr beflissen an, denn die Frage, wie es zu der Entscheidung kommen konnte, war zu diesem Zeitpunkt längst geklärt: Juror Saltzwedel hatte das Verfahren derart verwendet, dass er alle verfügbaren 20 Punkte für ein Buch vergab. Der NDR suggeriert jedoch, dass es sich um eine Fehlentscheidung der Jury handelt und führt eine Kollektivhaftung ein, obwohl die anderen 24 Juroren vor der Publikation der Liste von Saltzwedels Votum nichts wissen konnten.

Und wie verträgt sich eigentlich die immer wieder vollmundig angepriesene Unabhängigkeit von Jurys, wenn dann Voten für strittige und schwierige Bücher derart hysterisierend kommentiert werden? Warum kann ein politisch abwegiges Buch nicht als Diskussionsgrundlage dienen und sei es denn auch nur um die hierin verwendeten Thesen argumentativ zu widerlegen?

Wer hat das Buch überhaupt in Gänze gelesen? In Deutschlandfunk Kultur bekennen die Moderatoren ihr Unwissen, haben aber immerhin schon «viel drüber gelesen». Als Kronzeuge der Anklage fungiert dort Gustav Seibt. Er hatte nach Sieferles Freitod im September 2016 diesen als «unerschrockenen, immer rationalen Denker, der sich auch dann nicht aus der Ruhe bringen liess, wenn er apokalyptische Möglichkeiten erwog» gewürdigt. Auch im Gespräch mit dem Deutschlandfunk fand Seibt noch milde Worte für den Autor, aber «Finis Germania» sei eine wüste Schimpferei und primitiv. Er findet zahlreiche Stellen, benennt sie auch, aber die Moderatoren können natürlich mangels Kenntnis des Inhalts nicht widersprechen oder einhaken.

Das Buch sei nichts für den «Gabentisch» und auch nicht als Flugzeug-Lektüre geeignet, so Seibt. Warum ich ein solches womöglich polemisch triefendes und politisch abstruses Buch nicht im Flugzeug lesen soll, bleibt unklar. Und warum davon eine «Störung des öffentlichen Gesprächs» ausgeht auch. Es sei denn, die oberste Priorität wäre, generell unbelästigt bleiben zu wollen mit sehr unbequemen oder gar hässlichen Thesen. Ist denn Ruhe wieder die erste Bürgerpflicht? Dann sollte man vielleicht besser ein paar Regionalkrimis ins Flugzeug nehmen.

Wie immer in solchen Fällen profitiert das skandalisierte Medium. «Finis Germania» ist aktuell auf Platz 1 der Amazon-Bestsellerliste «Bücher». Im Moment werde, so der Verlag, nachgedruckt. Und wie fast immer wird in zwei Jahren kaum noch jemand wissen, wie dieses «Skandalbuch» geheissen hat.

Bildquelle: By Gregor Julien Straube (Own work) [CC BY-SA 3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)], via Wikimedia Commons