von Nick Lüthi

Die Scheinvielfalt verwalten

Bei den bezahlten Tageszeitungen von Tamedia bleibt kaum ein Stein auf dem anderen. Mit dem «Projekt 2020» hofft das Zürcher Medienhaus auch «in drei oder fünf Jahren» noch «gute Zeitungen» verlegen zu können. Den höchsten Preis für die Integration in die Einheitsredaktion zahlt die «Berner Zeitung».

Tamedia hat die Lektion von 2009 gelernt. Beim letzten grossen Restrukturierungsvorhaben sorgte vor allem der Abbau von 79 Vollzeitstellen für Schlagzeilen, vom «Mai-Massaker» war die Rede. Der gestern bekanntgegebene Umbau der Tamedia-Tageszeitungen erreicht zwar weit grössere Dimensionen, aber hängen bleiben soll die frohe Botschaft: «Mit der Einführung der neuen Organisation sind keine Kündigungen verbunden.» Das mag für den Moment und bis zum Projektstart am 1. Januar 2018 stimmen, aber in den nächsten Jahren kann Tamedia nur mittels Stellenabbau den prognostizierten Rückgang von Werbeeinnahmen und Aboerlösen auffangen. Bis in acht Jahren könnten weitere 175 Millionen Franken wegbrechen von den heute noch 565 Mio. Ertrag pro Jahr aus dem Tageszeitungsgeschäft. Massenentlassungen lassen sich auch dann vermeiden, wenn verunsicherte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter das Unternehmen aus freien Stücken verlassen. Das dürfte denn auch Teil des Kalküls sein.

«Mein Versprechen an unserer Leser: Die Berner Zeitung bleibt die BZ.» Chefredaktor Peter Jost

Im Zentrum der neuen Formel für die zwölf Zeitungen von Genf bis Winterthur stehen die beiden Mantelredaktionen in der Deutsch- und Westschweiz. Diese Content-Pools werden für die verbleibenden Restredaktionen das Gros der Artikel bereitstellen. Jede Zeitung behält nur noch eine eigene Lokalredaktion, die unter der Leitung eines Chefredaktors steht. Dieser ist auch zuständig für die Positionierung des Blatts, sei dies mittels Auswahl und Gewichtung der Artikel aus dem Content-Pool, sowie seinen Kommentaren. Dem zahlenden Publikum, auf das Tamedia so dringend angewiesen ist, soll damit der Eindruck vermittelt werden, dass sich eigentlich nichts geändert hat. Dafür steht auch das per Twitter geäusserte Versprechen von BZ-Chefredaktor Peter Jost: «Mein Versprechen an unserer Leser: Die Berner Zeitung bleibt die BZ.»

Gerade im Fall der «Berner Zeitung» dürfte dieses Versprechen ungleich schwerer einzulösen sein als bei den anderen Blättern, die schon heute nur noch aus Rumpfredaktionen bestehen. Die BZ dagegen führt die letzte verbleibende Vollredaktion unter den Tamedia-Titeln. Selbst der Tages-Anzeiger teilt einige seiner Ressorts mit der «Sonntagszeitung» und bezieht Kurz-News von «20 Minuten». Die BZ dagegen pochte in den letzten Jahren auf ihre Autonomie innerhalb des Konzern und setzte diese auch durch. Dabei profitierte sie von ihrer Rolle als Mantellieferantin für zahlreiche Regionalzeitungen innerhalb und ausserhalb von Tamedia.

Mit dem Umbau im Rahmen des Projekts 2020 endet die Erfolgsgeschichte der «Berner Zeitung».

Die früher gerne des Lokalboulevards bezichtigte BZ entwickelte sich in den letzten Jahren zu einer der besten Schweizer Regionalzeitungen, in der 38-jährigen Blattgeschichte wohl nur von den aufmüpfigen Phasen in den Gründungsjahren übertroffen. Mit dem Umbau im Rahmen des Projekts 2020 endet diese Erfolgsgeschichte. Tamedia-CEO Christoph Tonini sagt: «Bei weiter rückläufigen Werbeeinnahmen werden nur diejenigen Tageszeitungen fortbestehen, die Teil eines grösseren Netzwerks sind.» Was bisher bereits für die kleineren BZ-Partnerzeitungen galt, gilt nun auch für das Mutterblatt selbst.

Tamedia sieht darin keinen publizistischen Substanzverlust und auch die Aussage von BZ-Chefredaktor Jost, künftig das Gleiche bieten zu wollen wie bisher, weist in diese Richtung. Aus der Leserperspektive mag das sogar stimmen. Denn die Redaktionen werden alles daran setzen müssen, ein Angebot zusammenzuschnüren, das den Abopreise von rund 500 Franken pro Titel und Jahr rechtfertigt. Wenn schon die Werbung wegbricht, kann es sich Tamedia nicht leisten, auch noch die zahlenden Abonnenten zu vergraulen mit einem wahrnehmbaren Leistungs- und Qualitätsabbau.

Die unterschiedliche Gewichtung, Placierung und Kommentierung des Einheitsstoffs in den beiden Blättern sorgt bestenfalls für eine Art Scheinvielfalt.

Aus Sicht des Lesers kann diese Quadratur des Kreises – aus weniger mach mehr – durchaus gelingen. Das zeigte Tamedia vor acht Jahren mit der Teilfusion des «Bund» mit dem Tages-Anzeiger. Im Urteil seiner Leser wurde «Der Bund» nach der Zurückstufung auf eine Filiale des Zürcher Mutterblatts zumindest nicht schlechter als zuvor, manche finden sogar besser. Dem positiven Leserurteil steht allerdings ein Verlust an Meinungsvielfalt gegenüber. Wo früher eigenständige Ressorts unabhängig voneinander ihre Akzente in der Berichterstattung setzten, tut dies heute nur noch eines. Die unterschiedliche Gewichtung, Placierung und Kommentierung des Einheitsstoffs in den beiden Blättern sorgt bestenfalls für eine Art Scheinvielfalt.

Nun wird auch die «Berner Zeitung» ihre eigenständigen Mantelressorts verlieren und die Berichterstattung zu Inland, Ausland, Wirtschaft, Kultur und Sport fortan mit Artikeln aus dem gemeinsamen Redaktionspool bestreiten, so wie das alle anderen zwölf Tamedia-Tageszeitungen auch tun werden. Der Chefredaktor wird für die überregionale Berichterstattung zum Content-Manager degradiert. Als Zeitung mit einer starken Verankerung in der Region Bern könnte sie für die Wahrung eines eigenständigen Profils das Gewicht – zwangsläufig – wieder stärker auf ihr traditionelles Kerngeschäft der Lokalberichterstattung legen. Ob der Rumpfredaktion dafür ausreichend Ressourcen zur Verfügung stehen, darf indes bezweifelt werden. Von einem Ausbau steht nichts in der internen Projektpräsentation.

Bildquelle: Foto & Montage: Marco Leisi

Leserbeiträge

Lahor 29. August 2017, 16:27

Sehr erhellender Artikel, eigentlich der erste Hintergrundbericht zu den „offiziellen“ Verlagsäusserungen, danke.

Ich genoss die Unabhängigkeit und Diversität der BZ, sie war nicht wie Bund/TA stramm auf Rotgrün und Etatismus getrimmt, der „Landteil“ wirkte als angrnehmes Korrektiv.

Aber who knows! Vielleicht rettet die BZ-Lokalredaktion diesen Wert. Es wäre der Zeitung und dem KANTON zu gönnen.