von Benjamin von Wyl

«Manchmal höre ich zum Schreiben stundenlang dasselbe Lied»

So schreibe ich: Die Journalistin Sarah Jäggi («Zeit» Schweiz) über ihren strukturierten Zugang zum Schreiben und der persönlichen Begegnung als Schlüssel für gelungene Porträts anhand ihres Artikels «Narziss und Goldzahn» über das Filmemacherpaar Lisa Brühlmann und Dominik Locher in den Schweiz-Seiten der «Zeit».

Ein Porträt kann eine Organisation, ein Projekt oder eine Person vorstellen. In «Narziss und Goldzahn» stellt «Zeit»-Redaktorin Sarah Jäggi ein Filmemacher-Paar vor, ihre beiden neue Filme und ihre medial vermittelte wie persönlich erfahrbare Selbstinszenierung. Der Text schafft es die beiden nochmals gemeinsam und individuell abzutasten, nachdem bereits Interviews, Porträts und Kritiken in Tages-Anzeiger, NZZ, WOZ und Watson erschienen sind. Wie schreibt man ein Porträt, wenn eine breite Berichterstattung das Bild der Porträtierten und ihrer Arbeit bereits dominiert?

Leute, die im Umgang mit Öffentlichkeit geübt sind, fallen beim Reden oft in fixe Erzählungen über sich selber. Manchmal so, dass man sich beim Zuhören in einem bereits gelesenen Text wähnt. Ein gutes Porträt ist für mich eines, in dem an solchen Selbst-Erzählungen gerüttelt wird, Brüche und Widersprüche offenbar werden.

Darum sei es gar nicht entscheidend, wie viel bereits über eine Person, oder hier eben: ein Paar, publiziert worden ist. Womöglich ist das bereits Erschienene sogar ein Vorteil – zumindest, wenn man sich wie Jäggi durch alle verfügbaren Medien arbeitet, wozu heute auch Äusserungen in Social Media zählen–. Sich wiederholende Floskeln kann man bei der Begegnung mit den Porträtierten registrieren und läuft nicht Gefahr, zu lange ein Thema abzutasten, das uninteressant ist, da eingerostete Selbsterzählung.

Ich lese alles, rede mit Leuten. Danach versuche ich mich mit einem unbedarften Blick auf die Begegnung einzulassen. In der Hoffnung, dass ich etwas Neues, etwas Anderes sehe oder erlebe. Beim Porträt ist die Wahrnehmung der Schreibenden der Schlüssel. Wenn mit der Begegnung die Recherche abgeschlossen ist, braucht es für mich wieder einen Distanzierungsschritt. Ich arbeite dann an was Anderem weiter und lasse es nochmals brüten.

«Es geht mir darum, das Denken vom Schreiben zu trennen. Einmal geht es um die Frage, welche Geschichte ich erzähle – dann um das wie.»

Dieses Vertrauen auf die Begegnung, also auf eine subjektive Momentaufnahme, geht bei Jäggis Arbeitsansatz einher mit einer klaren Strukturierung ihrer Arbeitsschritte. Auch jenen vor dem Laptop.

Es geht mir darum, das Denken vom Schreiben zu trennen. Einmal geht es um die Frage, welche Geschichte ich erzähle – dann um das wie. Beim Schreiben braucht es eine andere Energie, einen anderen Blick auf das Material, da geht es nicht mehr ums grosse Ganze sondern um Wörter, Sätze. Und um gute Übergänge. Darum entlastet es mich, wenn ich weiss, in welchem Absatz ich was schreibe.

Jäggis knapp 8500 Zeichen langer Text enthält natürlich auch Kurzzusammenfassungen beider Filme und jeweils einen biografischen Abriss. Diese Pflichtelemente sind nicht starr hintereinander gereiht, sondern so verteilt, dass erst nach mehrmaligem Lesen auffällt, wie fokussiert sie ihre Vermittlungsaufgabe erfüllen und wie klar sie sich vom restlichen Artikel abgrenzen lassen.

«Ich bin froh, wenn ich das Schreiben im engeren Sinn am Stück machen kann. Manchmal höre ich dabei stundenlang dasselbe Lied, um richtig einzutauchen. Fast immer im Büro.»

Die Position von Pflichtstücken – etwa die Kurzzusammenfassung ihrer Filme – ergibt sich nicht aus dem Schreiben. Bei längeren Texten erstelle ich Storylines. Die kann man sich wie ein Filmdrehbuch vorstellen. Bei diesem Porträt habe ich mir die Textstruktur in einem Mindmap zurechtgelegt. Das Schreiben ist der letzte Schritt. Dann weiss ich schon, wofür ich 500 und wofür ich 1000 Zeichen benötige. Ich schreibe – mittlerweile – genau auf Länge. Ich bin froh, wenn ich das Schreiben im engeren Sinn am Stück machen kann. Manchmal höre ich dabei stundenlang dasselbe Lied, um richtig einzutauchen. Fast immer im Büro.

Viele «Zeit»-Artikel legen in einem Kästchen offen, welche Leitfrage hinter der Recherche stand. Fragen als Ansatz, die dank Format, Länge und Gestus der deutschen Wochenzeitung auch immer an Essays denken lassen. Bei «Narziss und Goldzahn» fehlt ein solcher Hinweis, trotzdem liess sich Jäggi von einer Frage leiten.

Während ich mich mit allem fülle, was über die Porträtierten existiert, finde ich meine Leitfrage. Bei dem Artikel steht sie auch im Lead: Wie viel vom einen steckt im Werk des anderen? Bei Lisa Brühlmann und Dominik Locher hat sich die Frage geradezu aufgedrängt, denn in ihren beiden Filmen geht es um Beziehungs- und Übergangsthemen. Pubertät auf der einen, Vaterschaft auf der anderen Seite und was das mit Beziehungen macht. Was ist eine Frau? Was ein Mann? Die beiden Künstler inszenieren sich ja auch als Paar – auf Social Media und in Interviews.

Die Leseerfahrung wird von dieser Frage geprägt. Jäggi spielt mit den Ebenen, überträgt auch stilistisch, wie Privates, die Selbstdarstellung des Privaten, das Filme machen und die Filme bei Brühlmann und Locher zum Kontinuum verfliessen. Etwa wenn Brühlmann eine Nebenrolle als Kassiererin in Lochers Film spielt und Jäggi nach der Schilderung davon durch einen Vergleich die Filmszene mit der erlebten Begegnung verbindet: «Nun sitzt sie im weichen Sofa des Café Mandarin in Zürich, die Verkäuferinnen-Locken aus Goliath sind ausgekämmt (…)» Diese Kniffe sorgen dafür, dass man die inhaltlichen Sprünge nicht als Sprünge liest.

Das Porträt lässt bewusst Leben, Filme und das Filmemachen miteinander verfliessen. Das Spiel mit den Rollen, das auch in unsere Begegnung reingewirkt hat, wollte ich transparent machen. Mir war aber von Anfang an klar, dass ich beide für sich würdigen und keinesfalls in einem Paar aufgehen lassen möchte.

Die Filme von Brühlmann und Locher erzählen von Schweizer Mittelland-Existenzen. Auch das Porträt von Jäggi schwenkt durch die Landesteile und setzt auf Lokalkolorit. Sogar eine Einschätzung von Lochers Dialekt fand in den Text. Vorkenntnisse über erwähnte Orte – etwa Dulliken zwischen Aarau und Olten – werden keine gefordert, wenn man sie aber kennt, entstehen beim Lesen zusätzliche Bilder.

«Es gehört zum Konzept der drei Schweiz-Seiten der ‹Zeit›, dass wir uns auf allen Ebenen an diesem Land abarbeiten, in dem wir leben.»

Ich habe bei der Arbeit an einem solchen Text keinen kulturjournalistischen Zugang, so wie ich auch keinen sportjournalistischen Zugang habe, wenn ich über eine Sportkletterin schreibe. Ich bin keine Filmjournalistin, die Beurteilung des Films nimmt wenig Raum ein. Es gehört zum Konzept der drei Schweiz-Seiten der «Zeit», dass wir uns auf allen Ebenen an diesem Land abarbeiten, in dem wir leben. Auch in einem solchen Porträt. Deshalb interessieren uns die Leute mindestens so sehr wie ihr Werk.

Jäggi stammt aus einem Dorf am Jurasüdfuss, was sie auch einmal für die Schweiz-Seiten der «Zeit» reflektiert hat. 6,5 Jahre war sie Redaktorin der az Limmattaler Zeitung. Jäggis Werdegang wirkt in ihre Arbeit als Redakteurin der Schweiz-Seiten der «Zeit», weil sie auf die Facetten der Schweiz ausserhalb der grossen Städten sensibilisiert ist. Wie ihre Arbeit gelesen und eingeschätzt wird, habe sich aber verändert:.

Dass man manchmal eine Woche oder einen Monat an einem Artikel arbeiten kann, ist ein Privileg. Vieles mache ich noch genau gleich wie vor Jahren, als ich im Lokaljournalismus war. Es wird einfach anders betrachtet, weil es anderswo erscheint.

In den letzten drei Absätzen zoomt die Journalistin in «Narziss und Goldzahn» vom nahen Porträt raus in eine kritische Einordnung der Traumpaar-Selbstinszenierung. Bemerkenswert ist, dass sich der Artikel sogar selbst kommentiert: «Sie wollen auch darüber entscheiden, welches Bild von ihnen in der Zeitung erscheint. Setzen ihre PR-Agentin darauf an. Vergebens.» Nach dem Lesen dieses Satzes verändert sich die Wirkung des grossen Fotos, das in der Mitte der Seite prangt.

Diese Abschnitte hab ich bewusst an den Schluss genommen, eine Art Schlusspointe, die der Erzählung über die beiden ein neue entgegensetzt. Ich wusste, dass ich mich damit unbeliebt mache. Das gehört zum Beruf. Solche Urteile bringe ich aber nur, wenn ich nebst meiner Wahrnehmung weitere stützende Belege habe. In diesem Fall war das eine andere Berichterstattung. Das Zitat im zweitletzten Abschnitt findet sich fast wörtlich in einem WOZ-Interview. In unserem Gespräch hat Dominik Locher das Thema von sich aus angesprochen.

Wie viel Macho steckt in dem aufgeklärten Mann mit Goldzahn, der das Macho-Thema in seinem Film aufnimmt und trotzdem damit kokettiert? Jäggis letzter Absatz besteht aus zwei kritischen Fragen. Die zweite würdigt in ihrer kritischen Stossrichtung gegenüber Locher persönlich gleichzeitig das Leitthema von Lochers Werk: «Oder blitzt da etwas auf, was Locher in seinem Film Goliath zeigen will: das „«letzte, verzweifelte Aufbäumen des Patriarchats, wo Männer, wenn Frauen Kinder kriegen, nicht nur die Lust am Beschützen entdecken, sondern auch jene am Besitzen?» Das Verfliessen der Ebenen wird hier nochmals durchgespielt. Jäggi entlässt die Lesenden so mit einer Frage, die es ohne stilistische und inhaltliche Verzahnung von Film, Realität und (Selbst-)Inszenierung nicht gäbe.

Foto: Lea Hepp