Ohne Rücksicht auf Verluste
Der Konflikt um die Verlagerung der meisten Radio-Redaktionen aus dem Studio Bern nach Zürich steht vor der Entscheidung, kommende Woche will der SRG-Verwaltungsrat über die Verlegung entscheiden – und könnte damit einen grossen Fehler begehen, denn die Umzugsidee ist offenkundig ein Schnellschuss.
«Was löst dieser Text bei Ihnen aus?» war die Frage. Die Antwort: «Irritation. Irritation, weil die NZZ als Qualitätszeitung einen hohen Stellenwert hat.» So die Antwort von Christoph Ammann, Volkswirtschaftsdirektor des Kantons Bern. «Umso unbegreiflicher ist es für mich, dass man in diesen Artikeln das Thema reduziert auf einen Anti-Zürich-Reflex, eine regionalpolitisch motivierte Störaktion in der Art eines Saubannerzugs aus Bern. Dabei habe ich, wie die ganze Berner Regierung, von Anfang an klar gemacht, dass es mir in der Diskussion über das Radiostudio Bern nicht in erster Linie um Arbeitsplätze geht sondern um die SRG als föderalistische Verwirklichung einer ‹Idée Suisse›.»
Irritationen und Bestätigung
Es ging in den zwei Artikeln der NZZ, von denen Ammann spricht, um «Bern Ost», das Projekt der SRF-Direktion und der SRG, rund 170 Radio-Arbeitsplätze vom Radiostudio Bern in das Fernseh- und Onlinezentrum in Zürich-Leutschenbach zu verlagern. Eine Mehrheit der Belegschaft, die SRG-Trägerschaft von Bern, Fribourg und Wallis, Berner Wirtschaftskreise, die Westschweizer Kantone sowie die Politik in Stadt und Kanton Bern haben öffentlich Kritik und Widerstand angemeldet, und die Belegschaft im Berner Studio fürchtet derweil um die Qualität ihres Programms mit Sendungen wie «Rendez-vous » oder «Echo der Zeit». Der renommierte NZZ-Medienexperte Rainer Stadler attestiert ihnen «Dünkel», sein Bericht spricht von «Gezerre», und der Kommentar stellt sich klar auf die Seite der Direktionen von SRF und SRG: «Die SRG muss wirtschaftlich arbeiten».
Die Stimmung ist gereizt zwischen dem Grossteil der Belegschaft sowie der Politik in Bern und den Direktionen von Schweizer Radio- und Fernsehen SRF und der SRG. Dabei hätte SRF-Direktor Ruedi Matter eigentlich wissen können, dass gegen diesen Vorschlag mit starkem und breitem Widerstand zu rechnen ist.
Der Gemeinderat der Stadt Bern hatte vor bald zehn Jahren schon, im Februar 2009, ein Positionspapier zum Thema «Medienkonvergenz» vorgelegt und im November 2011 ein Strategiepapier unter dem Titel «SRG-Hauptstadtstudio Bern» nachgeschoben. Der damalige Stadtpräsident Alexander Tschäppät hat dieses Papier mit SRG-Vertretern mehrfach diskutiert. Mit wenig Erfolg. Die Forderung des heutigen Stadtpräsidenten Alec von Graffenried nach einem «Kompetenzzentrum Information und Politik» war darin schon angelegt. Aber Ruedi Matter und die Generaldirektion der SRG hatten vielleicht von Anfang an gar nicht vor, auf mögliche Forderungen von Stadt und Kanton einzugehen.
Berner Sorgen – Schweizer Sorgen
Dabei sind die Berner Sorgen heute bereits Schweizer Sorgen. Seit 2007 wird die ehemals profiliert vielfältige Berner Presse gänzlich von Zürich aus gesteuert, und seit 2018 wird der grösste Teil von «Bund» und «Berner Zeitung» von der Tamedia-Mantelredaktion aus Zürich geliefert. Also aus jenem Verlagshaus, das in der Suisse romande den Markt weitgehend beherrscht und in der Deutschschweiz als grösstes privates Medienhaus demnächst den Zeitungs- und Online-Markt im Goldenen Dreieck Basel – Zürich – Bern kontrolliert. Bern hat also vor zehn Jahren bereits erlebt, was in der Gegenwart die ganze Schweiz erfährt: Konsolidierung, Konzentration, Zentralisierung bei den privaten Medien.
Ausgerechnet aus dem Verlagshaus Tamedia kommt nun im Klartext die Feststellung: «Die Standortfrage ist längst beantwortet.» Die SRG hatte nämlich 2010 unter dem Namen «Konvergenz» Radio, Fernsehen und Online zusammengelegt. Und unter Führung des Projektverantwortlichen Ruedi Matter beschlossen, die Radio- und Fernsehinformation sollten weiterhin getrennte Wege gehen, mit der Fernseh-Chefreaktion in Zürich und der Radio-Chefredaktion in Bern, um «die Binnenkonkurrenz zu wahren.» Das heisst, so Claudia Blumer im «Tages-Anzeiger»: Die Sparmassnahmen sind «kein Grund, kluge medienpolitische Grundsätze über Bord zu werfen, die man vor wenigen Jahren noch hochgehalten hat.»
Man könnte es auch so sagen: Wenn die SRG mit ihrem Service public-Auftrag die Garantie der Vielfalt nicht mehr wahrnimmt – auch und gerade als Monopolbrecherin in den Regionen, wo Zeitungs- oder gar multimediale Monopole bestehen – , verliert sie einen Teil ihrer Legitimation.
Die Lösung und ihre Probleme
Aber der Kampf um das Fortbestehen des nationalen, historisch gewachsenen vielfältigen Rundfunks in der Schweiz ist offenbar nicht zu Ende.
Auch die Mitarbeitenden im Radiostudio Bern haben diesen Kampf geführt, als die Existenz der gebührenfinanzierten SRG zur Debatte stand. Ihre Qualitätsarbeit war für alle ein wichtiges Argument, mit dem sie bis in die Spitze des Unternehmens gefochten haben, bis zur krachenden Niederlage der «No Billag»-Initiative. Die Belegschaft wusste vorher schon, dass es nicht nur um den Erhalt des Bestehenden ging sondern auch um die Bewältigung der grossen digitalen Herausforderung. Und als sie am Abend der Abstimmung die Rede des Generaldirektors hörten, wussten sie, dass harte Massnahmen auf sie zukommen würden. Aber der 100-Millionen-Franken-Sparauftrag war für die Radioleute im Studio Bern eher Ansporn als Bremse, denn die digitale Zukunft reizte sie, sie waren – und sind – überzeugt vom Service public-Auftrag, und sie wollten mitwirken bei der Gestaltung der digitalen Zukunft.
An Eines aber dachten sie nicht: An das Wort des grossen Kommunikationsexperten Marshall McLuhan: «Heute ist folgende künstlerische Strategie unerlässlich: Man beginnt mit der Lösung und dann schafft man das Problem, das diese Lösung herbeiführt.» (In: Wohin steuert die Welt? Massenmedien und Gesellschaftsstruktur. Europaverlag, Wien 1978, S.7. Orig. 1978 by McLuhan Associates)
Die Lösung für die digitale Zukunft des Radios und den Sparzwang gleichzeitig war, so schien es, der «Newsroom». Eine Organisationsstruktur, mit der dieselbe Nachricht sehr schnell über die eigenen Kanäle und Plattformen (Tagesschau, srf.ch, Play SRF) und über fremde Plattformen (Facebook, Twitter, Instagram) in den passenden Formaten in die Welt geschickt werden konnten, versehen mit dem Namen «SRF». Die SRF-Direktion hatte seit mehr als zwei Jahren an diesem Projekt gearbeitet, mit dem das SRF-Fernsehen und die SRF-Online-Redaktion gemeinsam in das digitale Medienzeitalter gehen sollten. Sollte es gelingen, einen grossen Teil der Berner Radioredaktion in den Newsroom in Zürich-Leutschenbach einzugliedern, so könnte man gleichzeitig in Bern rund fünf Millionen Franken einsparen. Das war die Hoffnung der SRF-Direktion im Verein mit der Generaldirektion der SRG.
Der Newsroom ist ein grosser Beschleuniger und ein grosser Vervielfacher, mit dem auch die jüngeren Nutzerinnen und Nutzer erreicht werden können, die sich vom traditionellen linearen Radio und Fernsehen zunehmend verabschieden. So hofft man, denn der Newsroom bedient im zeitlichen Ablauf zuerst die SRF-eigenen Online-Auftritte und fremde Online-Plattformen und Kanäle wie Facebook oder Twitter. In Zürich-Leutschenbach wurde dieser Newsroom Für Fernsehen und Online mit ziemlich viel Geld in Beton gegossen, und er soll Anfang 2019 voll in Betrieb gehen.
Ist also der «Newsroom» die Lösung für die Medienzukunft, stellt sich dem Management nun die Aufgabe, die 170 betroffenen Menschen in Bern, davon 150 Journalistinnen und Journalisten, zum Umzug nach Zürich zu bewegen. Wobei diese Menschen im Radiostudio Bern unter dem Namen «Informationszentrum» bereits einen kleinen Newsroom haben, der jetzt einfach in den grossen Newsroom am Leutschenbach integriert werden soll, gemäss SRF-Konzept. Das eigene Informationszentrum gibt dem Radio in Bern aber bislang so viel Autonomie, dass in Zürich für das Radio nur ein Verbindungsdock vorgesehen ist. Der «Newsroom 19» in Zürich ist folgerichtig bis heute nur als bimediale Einrichtung für das Fernsehen und die Online-Angebote geplant.
Die Umzugsidee ist offenkundig ein Schnellschuss, zumindest für die Öffentlichkeit und die Mitarbeitenden. Also braucht es Überzeugungsarbeit, ein bisschen Druck und gutes Zureden – kurz, um es mit McLuhan zu sagen: es braucht ein Problem, mit dem man die Menschen in Bewegung setzen. Kann. Das Problem heisst in diesem wie in vielen anderen Fällen: Geld. fehlendes Geld. Aber wie die Umzugsidee war offenbar auch die Begründung ein Schnellschuss:
- Im April hiess es noch, mit einer klugen Immobilienpolitik könne man zehn Millionen sparen. Das steckte ein Fehler drin, also ging man hinunter auf drei Millionen, dann wieder etwas höher auf fünf Millionen, und das ist laut «Management Summary» für den Regionalvorstand Deutschschweiz der SRG auch der aktuelle Stand. Vorausgesetzt, es gelingt, für das Gebäude der Generaldirektion an der Giacomettistrasse mit der teuren Miete von über vier Millionen Franken einen anderen Mieter zu finden. Das ist teuer, also schwierig.
- Das zweite Problem, das Ruedi Matter mit Blick auf das begrenzte Sparpotential im Monat Mai als Begründung für den Studioumzug dann nachschob, war die notwendige enge Zusammenarbeit der noch in Bern ansässigen Redaktionen mit Technologie und Entwicklung in Zürich. Dafür brauche es die physische Nähe zwischen Radioleuten und Technik und Gestaltung, heisst es. Nun erfolgt die technische Entwicklung bei der SRG seit Jahren dezentral, sie erfolgt auch nicht im Schnellverfahren, auf Zuruf von Pult zu Pult. Man kann sich also auch vorstellen, dass sie über das etablierte technische Kommunikationssystem zwischen den Studios koordiniert werden könnte.
Newsroom ohne Alternative
Aber der Umzugsplan wird in Gänze als alternativlos dargestellt. Das Risiko eines Monopolstandorts für einen Newsroom wird nirgends erwähnt. Technische, sicherheitspolitische, medienpolitische, journalistische Risiken werden nicht näher diskutiert – was eigentlich selbstverständlich wäre seit den Forschungen des Informatikers Paul Baran und anderer. Man weiss seitdem, dass die Funktionstüchtigkeit von (Internet-) Kommunikationssystemen abhängig ist von der Redundanz verteilter Knotenpunkte, und die Kybernetik hat schon vor Jahrzehnten erkannt, dass Systeme mit relativ autonomen Subsystemen die grössere Stabilität ausweisen. Das gilt auch für soziale Systeme. In diesem Denken macht ein relativ autonomer Standort Bern als Teil des neuen Newsroom-Kommunikationssystems ausgesprochen Sinn. Allerdings setzt das die Frage voraus, welche Art von Journalismus wo produziert werden soll – eine Frage, die im Distributions- und Marketing-getriebenen Newsroom-Denken nicht einmal aufscheint, obwohl die neue Struktur offenkundig von Anfang an als Organisation für die Aktualität konzipiert ist.
Solche publizistischen Fragen wären für den Auftrag der SRG wichtig. «Darstellung und Erklärung» wird im Entwurf für ein neues Mediengesetz als Kernaufgabe des Leistungsauftrags formuliert. Wäre es vielleicht sinnvoll, erklärende, vertiefende Beiträge, mehr Vielfalt der Themen, alt-neue grössere Formen wie Podcasts und Audiovisuals räumlich getrennt von den Fernseh- und Online-News zu produzieren – auch zur Sicherung der Themenvielfalt? «Content First»: zuerst geht es um den relevanten Inhalt für das gesamte Publikum: das ist ein Statement, das die SRG in der Debatte um den Service public selber gerne abgibt. Aber diese Debatte verlangt eine freie, offene Diskussion, im Haus und ausser Haus. Das ist nicht immer angenehm.
Repression und Macht
Die Debatte um den Studioumzug unter dem humorigen Titel «Bern Ost» wie das Projekt von der Direktion leicht ironisch genannt wurde – diese Debatte ist durchzogen von Empfindlichkeiten, Lagerdenken, gelegentlich autoritärem Verhalten und offenem Machtanspruch, und man hat – seit Jahren – immer mal wieder den Eindruck, eine offene Diskussion auch über zentrale Fragen des Service public sei nicht das Hauptanliegen der Führung.
Das ist vielleicht eine subjektive Wahrnehmung. Wenn aber die Chefredaktorin des Schweizer Radios SRF im Zusammenhang mit der Studiodebatte das Personal dringend bittet, «die SRF-Verhaltensregeln künftig wieder zu respektieren» und dabei im Einzelnen die «Publizistischen Leitlinien» anspricht, liegt doch eine bedenkliche Verwechslung vor. Die zitierten Leitlinien beziehen sich auf die professionelle journalistische Arbeit, und es ist kein Fall bekannt, in dem diese Regeln in Verbindung mit «Bern Ost» verletzt worden wären. Jedenfalls keine öffentlichen Bemerkungen, die über die Grenzen der Jahrzehnte alten Vorurteile zwischen Radio und Fernsehen hinausgingen. Das Konzept der Arbeitsgruppe «Pro Radiostudio Bern» über «Das Radioschaffen in der digitalen Welt» ist andererseits ein ausgesprochen konstruktiver Diskussionsbeitrag zur Radioentwicklung. Und die Öffentlichkeit hat ein legitimes Interesse an den Diskussionen über die zentralen Aufgaben des gebührenfinanzierten Unternehmens SRG. Es ist nicht bekannt, dass die angesprochene Unternehmensleitung diese Dokument offiziell in den Evaluationsprozess in irgendeiner Form aufgenommen hätte.
Der projektierte Umzug hingegen betrifft wesentliche Belange des Arbeitsvertrags bis hin zu Änderungskündigungen. Das liegt seit der Ankündigung durch den Direktor offen zutage, und es betrifft alle, die im Radiostudio Bern arbeiten. Sie dürfen sich für ihre Arbeitsbedingungen einsetzen, und die Öffentlichkeit verfolgt diese Auseinandersetzung mit berechtigtem Interesse (siehe unten den Abschnitt: Autonomie und Gesellschaft). Das ist ein Teil der Schweizerischen Demokratie.
Im (vom Verwaltungsrat nicht diskutierten) Antrag des SRF-Direktors von Ende Mai kann man lesen, dass man bei einem Umzug mit dem Abgang von bis zu einem Viertel der Mitarbeitenden rechnet. Der Sozialplan ist auf 5.3 Millionen Franken gerechnet. Der Verlust wird kühl, fast zynisch abgehandelt: Eine «hohe Mitarbeitenden-Bindung» zur Erhaltung der journalistischen Qualität wird als wichtige unternehmerische Aufgabe betrachtet, um die Marktstellung zu behaupten und die Arbeitgebermarke SRF zu stärken. Andererseits «besteht das Risiko eines Abwanderns von Know-how (brain drain) bzw. sinkender publizistischer Qualität».
Das sind emotionslose Feststellungen. Von machtpolitischem Denken durchdrungen ist hingegen eine Risikoanalyse für den Regionalvorstand der SRG Deutschschweiz. In der Kategorie «Bedrohungen» wird der «Kompetenzverlust in der Radio-Information» aufgeführt. Nach einem Umzug rechnet man mit «Abstrafungen in der parlamentarischen Beratung des neuen Mediengesetzes», meint aber gleichzeitig: «Verzicht auf Umzug unter politischem Druck führt zu nachhaltiger Lähmung der SRG».
Dieses Denken ist fatal. Es löst kein einziges Problem. Es ist das Problem. Die ganze Debatte ist in hohem Mass von sachfremden Argumenten besetzt. Vom Sparzwang. Von der technologischen Disruption bei der Distribution. Von medienpolitischen Forderungen. Und von einem fast absoluten Autonomieanspruch der wichtige Kompromisse in Gesprächen und Verhandlungen nahezu ausschliesst. Das endet am Schluss möglicherweise in einem medienpolitischen Machtkampf, in dem es nur Verlierer geben kann. Also könnte sich der Versuch als sinnvoll erweisen, diese Gemengelage ein wenig zu sortieren.
Autonomie und Gesellschaft
Es gab in der Geschichte der SRG immer wieder Machtkämpfe dieser Art, und in den Chefetagen der SRG verkündete der Hausjurist dann gerne den Satz: «Die SRG organisiert sich selbst.» Die Maxime sollte die Selbständigkeit gegenüber Machtansprüchen der Politik und vor allem der Regierungen gewährleisten. Aber sie verführte auch zu einer pauschalen Selbstbehauptung. So lohnt sich in der gegenwärtigen Auseinandersetzung ein Blick in den Entwurf des neuen Bundesgesetzes für die elektronischen Medien BGeM. Der Entwurf erfasst bei diesem Thema sehr viel genauer und differenzierter als ältere pauschale Regeln den Doppelcharakter der SRG. Sie ist privat und doch nicht privat. Privat ist sie als Organisation, aber sie ist öffentlich als Medienunternehmen mit einem Leistungsauftrag.
Die SRG ist kein Privatunternehmen auf einem freien, unregulierten Markt. Sie ist ein privater Verein mit einem öffentlichen Auftrag. Und mit einer (immer gewichtigeren) öffentlichen Finanzierung. In diesem Spannungsfeld bewegt sie sich. Unter diesen Voraussetzungen bekommt sie ihren Leistungsauftrag und ihren Handlungsspielraum. Und dabei gilt: Die SRG ist nicht die Schweiz. Sie repräsentiert eine Idee der Schweiz, die «Idée Suisse», die als Markenzeichen jetzt offenbar wieder belebt werden soll. Aber diese Idee ist nicht zentralistisch, sie ist föderalistisch, sie ist vielfältig. Das ist eine Existenzbedingung der SRG. Wenn sie das nicht mehr bedenkt, gerät sie tatsächlich in Gefahr. Aber unter dieser Bedingung ist die SRG autonom in ihrer Programmgestaltung, und im Rahmen ihres Service public Auftrags gilt diese Autonomie absolut (Art. 21.6 BGeM). Da hat auch die Politik keinen Anspruch, und wenn sie ihn stellen sollte, muss er abgewehrt werden. – Der Entwurf des neuen Mediengesetzes BGeM hält also an den gleichen Grundprinzipien des elektronischen Medienschaffens fest wie das bestehende Radio- und Fernsehgesetz (RTVG).
Infrastruktur als gemeinsamer Gestaltungsraum
Bei der Gestaltung ihrer Infrastruktur hingegen, das heisst: bei der Organisation ihres Kommunikationsnetzes und ihrer Standorte greift die SRG ein in die Gesellschaft und in den Gestaltungsbereich der Politik als Vertretung diese Gesellschaft. So wie die SRG mit ihrem Auftrag gebunden ist an «das Gemeinwohl» und an «den Zusammenhalt und «den Austausch unter den Landesteilen, Sprachgemeinschaften, Kulturen» (Art. 21.3 und 21.4), so hat die Politik für diese Angelegenheiten ihre eigenständige Verantwortung. Die SRG greift also ein in den Gestaltungsbereich der Politik, die deshalb zu Recht die Wahrnehmung auch ihrer Interessen bei der Ausgestaltung der Kommunikations-Infrastruktur in den Gestaltungsprozess einbringt. Es geht ja dabei um die Organisation der öffentlichen Kommunikation im Dienste der vielfältigen direkten Demokratie.
Weil es um eine so grundlegende Infrastruktur für die Gesellschaft geht, ist der Disput um den Umzug von Redaktionen aus dem Radiostudio Bern ins Medienzentrum Zürich nicht nur symbolisch sondern auch real so bedeutsam. Der Historiker Dirk van Laak schreibt in seinem jüngsten Buch über die Geschichte der Infrastrukturen: «Infrastrukturen wurden seit dem 18. Jahrhundert dazu genutzt, Gesellschaften zu modernisieren, sie räumlich, sozial oder kulturell zu integrieren und den Menschen neue Möglichkeiten zu bieten. Zugleich tragen Infrastrukturen dazu bei, die Menschen mehr oder weniger offen zu kontrollieren und zu einem konformen Verhalten zu bringen und sie damit zu binden oder zu steuern. Ausmass und Funktionalität der Infrastrukturen werden bis heute mit Ordnung und guter Regierung in Verbindung gebracht, oft sogar damit gleichgesetzt.» (Alles im Fluss. Die Lebensadern unserer Gesellschaft – Geschichte und Zukunft der Infrastruktur. S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2018, S. 11)
Aus dieser Sicht liegt es auf der Hand, dass die Entscheidung über die anstehende Reorganisation nicht als Machtfrage zwischen dem Medienhaus einerseits und der Politik andererseits abgehandelt werden sollte, sondern als Angelegenheit von gemeinsamem Interesse. Das schliesst auch ein, dass die Politik nicht die Realisierung von Idealvorstellungen über die Gleichbehandlung unterschiedlicher Standorte einfordern kann. Beide Seiten werden sich, wie gute Politik überhaupt, von einem klugen Realitätssinn leiten lassen. Und, nicht zuletzt, es scheint selbstverständlich, dass die offenkundig kompetente betroffene Belegschaft in einen solchen Lösungsprozess einbezogen wird.
Struktur und Substanz: Abbau des Service public
Organisatorische Entscheidungen haben Folgen für die Substanz, das heisst in diesem Fall: für das Angebot des Service public-Unternehmens. Bei der grossen Reorganisation der SRG im Jahr 1991 wurde nicht nur die ziemlich selbständigen Unternehmenseinheiten geschaffen, RTR, RTS, RSI, SRF. Die SRG wurde nach den Regeln des Aktienrechts gestaltet; das soll auch in Zukunft so sein. Diese Organisationsform hat Entscheidungen erleichtert und Missverständnisse produziert. «Von der Anstalt zum Unternehmen!» hiess der Slogan, mit dem in der Deutschschweiz die neue Identität des Schweizer Fernsehens propagiert werden sollte. Er war so erfolgreich, dass er als Leitprinzip der damaligen Entwicklung in eine wissenschaftliche Schweizer Mediengeschichte Eingang gefunden hat. Der Slogan war Teil der Positionierung auf einem neuen Markt, auf den Private wie RTL, Sat1, ProSieben vordrangen. Er begleitete die Einführung des Sponsoring, unterstützte die Gründung des «technology and production center tpc» (englisch!), legitimierte die grosszügigen Vorsorgelösungen für Kader die Einführung von Boni mit höheren Summen für die höheren Kader und niedrigeren für die niederen.
Sog der Strukturen
Das gleiche marktorientierte «unternehmerische» Denken hatte Folgen im Programmbereich. Kurz nach der Bildung der Unternehmenseinheit des Schweizer Fernsehens DRS, einigte sich die Fernsehdirektion mit dem neuen Vorstand des Schweizer Fernsehens DRS (heute: SRF) auf die Abschaffung der drei Abteilungen Dramatik, Kultur und Gesellschaft sowie Bildung (1993), also drei Kernstrukturen des Service public. Einige Elemente von «Kultur und Gesellschaft» schufen sich als «Sternstunden» ein neues, begrenzt beachtetes Renommée als «Sternstunden» am Sonntagmorgen. «Bildung» wurde auf einen «Bereich» reduziert und marginalisiert, und der Rest sollte wenig später im Rahmen einer Sparübung vollends liquidiert werden.
Es brauchte für die Verankerung des Bildungsauftrags in der Bundesverfassung die parteiübergreifenden politischen Anstrengungen eines Erziehungsdirektors (FDP), einer Ständerätin (CVP) und zweier Nationalrätinnen (FDP und SP) und die Unterstützung der Räte für eine entsprechende Motion, um wenigstens einen kleinen Rest von «Bildung» zu retten: das Schulfernsehen (heute: «my school»), eine gesellschaftspolitisch geprägte Sendung «Bildung« um Mitternacht und am Samstagmorgen, und die kleine Einheit für die Untertitelung der Nachrichtensendungen zugunsten der Hörbehinderten. Nebenbei gelang es den vereinten Politikerinnen, im Rahmen der Totalrevision der Bundesverfassung im Artikel 93 die Bildung als Teil des Auftrags von Radio und Fernsehen unterzubringen (1999 – tatsächlich!). Gegen das intensive Lobbying der SRG.
Dem Sog des auf Quote und Reichweite ausgerichteten Denkens folgten weitere Entwicklungen: der Einkauf internationaler Formate, die zuvor den Erfolg der kommerziellen Konkurrenz ausgemacht hatten. Die Entwicklung des Fernsehkanals von SRF 2 zu einem Sport- und Serienprogramm, das auch auch als Teil eines kommerziellen Senders laufen könnte.
Es hat in den letzten Jahren auch Korrekturen gegeben. Es gibt wieder, spät nachts, ein elegantes Auslandmagazin, es gab (auch aus Spargründen) den Verzicht auf die teuren Unterhaltungsshows und den Abbau bei den Rechten an der Champions League. Das Nachrichtenmagazin «10vor10» hat an Qualität zugelegt. Aber die Radio-Flaggschiffe «Rendez-vous » und «Echo der Zeit » sind immer noch die beneideten Spitzenreiter im wissenschaftlichen Qualitätsrating.
Die Matrix des Newsrooms
Der Markt, die Reichweite, die veränderten Nutzungsgewohnheiten des «Publikums», das ins Internet abwandert, und die zahlreiche private und kommerzielle Konkurrenz für das klassische Radio und Fernsehen und für die Plattformen des Service public sind die zentralen Argumente für den Newsroom. Treiber dieser Entwicklung sind die digitale Technologie und die globalen Unternehmen, die immer stärker direkt in den Medienmarkt eindringen. Die Reichweiten-Verluste von Medienunternehmen des Service public wie die SRG sind erheblich.
Der Newsroom ist die organisatorische Antwort auf diese Entwicklung. Er antwortet auf den Rückgang im Radiomarkt mit neuen Audioformaten neben dem klassischen linearen Fliessprogramm. Er produziert auch im Service public «intensive Hörerlebnisse» gegen die vernetzte kommerzielle Konkurrenz. Und weil die Finanzen knapp sind unter dem Spardruck, will SRF nun also das Audio-Angebot mit dem Fernsehen und der Online-Redaktion im Newsroom zu einem «trimedialen» Medienzentrum verschmelzen.
Der SRF-Newsroom ist eine Infrastruktur für die Bearbeitung, Verbreitung und Beobachtung der Nutzung von Nachrichten. Er besorgt im Wesentlichen die Distribution von News auf den eigenen und auf fremden Kanälen und Plattformen, von SRF bis zu Twitter und Facebook. Und weil es dabei in erster Linie um die Präsenz der SRG auf allen Kanälen geht, ist das Risiko offenkundig: die technokratische Verkehrung. Vertrieb und Marketing bestimmen den Inhalt, der ohnehin schon stark durch die technischen Formate der Kanäle und Plattformen formatiert ist, oder, wie Marshall McLuhan sagte: «Das Medium ist die Botschaft». In der heutigen Form müsste man sagen: Das Mediensystem ist die Botschaft.
Struktur und Inhalt
«Die Schweizer Politik-Inhalte werden in Bern hergestellt und zugeliefert an die Radiosendungen, deren Senderedaktionen in Zürich sitzen», sagt SRF-Direktor Ruedi Matter. Er betont damit die Rolle der in Bern verbleibenden Fachredaktionen Inland, Bundeshaus und Regionales. Die genauere Analyse zeigt aber, dass die abschliessenden Entscheidungsstrukturen im Newsroom Zürich-Leutschenbach angesiedelt sein werden: Das Decision Desk, das Planungsdesk, die Senderedaktionen von «Heute morgen, «Rendez-vous» und «Echo der Zeit» und, nicht zuletzt, die Chefredaktion Radio. Sie sind zurzeit noch in Bern angesiedelt.
Die Arbeitsteilung, die mit dem Konzept des «Newsroom 19» verbunden ist, hat bei dem direktorial geplanten Umzug zur Folge, dass die inhaltlichen Prozesse auseinandergerissen und die finalen Entscheidungen nicht am Ort der Produktion des publizistischen Inhalts getroffen werden sondern am Ort von Distribution und Marketing. Man nennt das in der Epoche der Digitalisierung: Disruption. Und zwar ist es in diesem Fall nicht eine Disruption des Businessmodells. Es ist Disruption des Service public. Das kann aber nicht die richtige Massnahme für die Erfüllung des Sparauftrags sein.
Es ergibt sich vielmehr, dass nicht nur aus wirtschafts-politischen Gründen sondern auch im Interesse des Service public das «Kompetenzzentrum» Information (und Politik)» in Bern die wohl einzige folgerichtige Lösung sein müsste für ein Service public-Unternehmen. Auf der Basis des schon bestehenden Informationszentrums und mit dem Zusammenschluss von Produktion, Distribution und publizistisch-technologischen Entscheidungen für die Audio-Produktion an einem Ort: in Bern. Denn die Totalverlagerung nach Zürich kommt ja wohl kaum in Frage.Und die Berner Belegschaft hat ihre digitale Kompetenz bereits unter Beweis gestellt.
Am Ende der langen Denkarbeit steht also das Resultat, dass der bimediale Newsroom für Fernsehen und Online in Zürich von Anfang an der richtige Ansatz war. Es zeigt, dass der Audio-Newsroom «Kompetenzzentrum Information» in Bern (wie Sport auf der eigenen Etage und Kultur in Basel) zurzeit die richtigen Lösungen ist, kombiniert mit der Vernetzung («Docks») im «Newsroom 19».
Das dürfte angesichts der minimalen Einsparungen und der erheblichen Beeinträchtigungen durch den ganzen Umzug kein grösseres Problem sein. Es gewährleistet den Binnenpluralismus bei SRG/SRF und den regionalen Pluralismus für die Medienschweiz. Und es zeigt die verkehrte Welt dieser Debatte. Die publizistisch Verantwortlichen reden über Geld und Technologie und die politisch Verantwortlichen über die Publizistik.
Mit anderen Worten: Die richtigen Leute ziehen die falschen Schlüsse, und die falschen Leute stellen die richtigen Forderungen. – Aber das macht nichts, wenn am Schluss das Ergebnis stimmt.
Neuer Aufbruch
Schwierig ist wahrscheinlich nur, dass die Beteiligten jetzt den Rückweg aus der verkehrten Welt antreten müssen. Sie müssen sich daran erinnern, dass es im Service public um «Content first!» geht. Und dass Strukturen langfristig aufbauende oder zerstörerische Folgen haben können.
Sie müssen sich darüber klar werden, dass ein «Newsroom» kein umbauter Raum sein muss sondern, wie die Newsroom-ein Netzwerk ist, das der Produktion, Gestaltung, Formatierung, Verbreitung und dem Controlling (mit «C») von Medienbotschaften («messages») dient.
Sie sollen bei der Ausgestaltung des grossen Newsrooms «Deutschschweiz» machtpolitische sowie (anti-)autoritäre Denk- und Verhaltensweisen aus dem Spiel lassen, stattdessen vertrauensbildende Massnahmen und fachliche Kompetenz ohne Ansehen von Hierarchien beziehungsweise Funktionen ins Spiel bringen.
Sie müssen bereit sein, in diesem Kommunikationsnetz die Inhalte der unantastbaren Verantwortung des Medienhauses zu überlassen und bei der Struktur des Netzwerks der Gestaltungsaufgabe der demokratiepolitisch Verantwortlichen Raum zu geben.
Und schliesslich wäre zu wünschen, dass sie eine gemeinsame Freude an der Verwirklichung der demokratischen, föderalistischen «Idée Suisse» in der öffentlichen Kommunikation entwickeln.