SRG: La Suisse n’existe pas
Die Zukunft der SRG liegt in ihrer Geschichte. Belege dafür liefern dieser Tage ein Schreiben der Regierungspräsidenten von Genf und Bern, sowie das Ende der grossartigen Fernseharbeit von Kurt Aeschbacher.
«La Suisse n’existe pas», verkündete die Schweiz vom April bis Oktober 1992 auf der Weltausstellung in Sevilla. Ohne es direkt zu sagen, verkünden die Regierungschefs der Kantone Genf und Bern dasselbe in einem aktuellen Gastbeitrag im Berner Tamedia-Blatt «Der Bund». Der Satz des französisch-schweizerisch-italienischen Künstlers Ben Vautier – «Die Schweiz existiert nicht» – könnte den beiden Politikern jedenfalls als gemeinsames Motto dienen. Denn die Verschiedenheit ist ihre Gemeinsamkeit: Christoph Neuhaus ist Deutschschweizer, geboren, aufgewachsen und wohnhaft im Aaretal, Mitglied der SVP. Antonio Hodgers ist Romand, Secondo, argentinisch-schweizerischer Doppelbürger – der Vater war ein Opfer der argentinischen Militärdiktatur –, Mitglied der Grünen.
Unterschiedlicher könnten die Beiden kaum sein. Und doch haben Hodgers und Neuhaus gemeinsam, laut und deutlich, in einem Gastbeitrag für den «Bund» erklärt: «Nein zur Zentralisierung der SRG!» Sie tun das, weil es die Schweiz nicht gibt als «Einheitsschweiz». Die Gemeinsamkeit der Schweiz ist ihre lebendige und gelebte Vielfalt. So kann es folgerichtig auch keine «SRG-Schweiz» geben, sondern unter dem gemeinsamen Dach der SRG die Sender der Regionen. Die Bindung an die regionalen Sender ist in der Geschichte der SRG tief verwurzelt und auch der Widerstand gegen die Vormacht von Zürich.
Der Widerstand gegen die Medienkonzentration in der Wirtschaftsmetropole Zürich hat grosse Tradition.
In der Gründerzeit ab 1922 haben die vier Radios westlich von Zürich – Basel, Bern, Genf und Lausanne – einen eigenen Verband gegründet, um das Vorhaben der Radiogenossenschaft Zürich zu blockieren, einen nationalen Sender unter Zürcher Führung aufzubauen. Der Widerstand gegen die Medienkonzentration in der Wirtschaftsmetropole Zürich hat grosse Tradition, er wird auch im digitalen Zeitalter nicht so leicht zu brechen sein.
Schon ab 1925 hat zum Beispiel Radio Genève unter der gemeinsamen, parteiübergreifenden Führung des sozialdemokratischen Professors Edmond Privat und des Unternehmers Maurice Rambert seine Eigenständigkeit entschlossen verfolgt, aber gleichzeitig die Zusammenarbeit und den Programmaustausch mit den anderen Radios in der Schweiz angeboten. Eine Einigung insbesondere mit Zürich kam aber nicht zustande, und die Lage blieb blockiert, bis der Bundesrat mit einem klassisch schweizerischen Modell eine Einigung durchsetzte.
«Der Finanzausgleich ist die Existenzgrundlage der SRG», pflegte ein SRG-Direktor zu sagen.
Die SRG wurde gegründet, die Verbreitungstechnik in nationale Kompetenz überführt, die Programmgestaltung in der Westschweiz blieb aber weitgehend autonom, und schliesslich wurde der Finanzausgleich zugunsten der kleineren Regionen von der Landesregierung durchgesetzt. «Der Finanzausgleich ist die Existenzgrundlage der SRG», pflegte später ein SRG-Direktor zu sagen.
Aber das war nicht alles. Radio Bern zum Beispiel arbeitete konsequent an der Programmqualität, wurde 1925 von der britischen «Times» zu «einem der besten Radios von Europa» erklärt, produzierte in den ersten Wochen des Zweiten Weltkriegs das gesamte Programm von Radio Beromünster, und machte das Studio an der Schwarztorstrasse (seit 1931) zum Weltkriegs-Sitz der militärischen «Abteilung Presse und Radio». In Friedenszeiten versorgte das Radiostudio Bern während Jahrzehnten nicht nur das Gebiet des Kantons Bern sondern auch das Oberwallis, Freiburg, Solothurn, die Innerschweiz und einen Teil des Aargaus (Quelle: Radio und Fernsehen in der Schweiz. Geschichte der Schweizerischen Rundspruchgesellschaft SRG bis 1958, Verlag hier + jetzt, Bern 2000). Die sogenannte «Hauptstadtregion», die sich jetzt für das Kompetenzzentrum Radio in Bern einsetzt, hat also eine jahrzehntealte Geschichte seit den Ursprüngen der SRG. Sie ist in den letzten Jahren einfach wiederbelebt worden.
Gemeinsame Opposition gegen weitere Konzentrationsprozesse nun auch bei der SRG ist daher naheliegend.
Die Entscheidungsmacht der Zeitungsverlage in Zürich und die einigermassen rücksichtslos vollzogenen Schliessungen wichtiger Blätter von Zürich aus («L’Hebdo», «Le Matin») hat in der Romandie Schockwellen ausgelöst. Gemeinsame Opposition gegen weitere Konzentrationsprozesse nun auch bei der SRG ist daher naheliegend. Mit der gemeinsamen Erklärung der Regierungspräsidenten über die Sprachgrenze hinweg signalisiert Antonio Hodgers als Präsident des Staatsrats der Republik Genf nun auch, dass die Westschweiz bereit ist, mit der Hauptstadtregion Bern die politischen Kräfte auf nationaler Ebene zu bündeln. Die Koordination über die Sprachgrenze hinweg ist auch bei den Stellungnahmen zur Vernehmlassung über ein neues Bundesgesetz für elektronische Medien erkennbar.
Der Widerstand, der zunächst nur vom Radiostudio Bern ausging, hat damit einen beträchtlichen und politisch wichtigen Teil der Schweiz erfasst. Die gemeinsame Geschichte der Region seit Niklaus von Flüe und den Burgunderkriegen im 15. Jahrhundert hat sich durch wichtige Entscheidungen immer wieder bestätigt, unter anderem bei der Gründung des Schweizerischen Bundesstaats und der Entscheidung für Bern als Bundesstadt vor ziemlich genau 170 Jahren (28.11.1848). Auch das war eine Entscheidung gegen die drohende Übermacht von Zürich, für einen Ort in der Nähe der Suisse Romande und für das Gleichgewicht der Regionen in der Schweiz. Jetzt wird Geschichte in der Gegenwart wiederbelebt.
Man kann diese historischen Strömungen bei Unternehmensentscheidungen einfach ignorieren. Aber wahrscheinlich ist es besser, wenn man sie in Rechnung stellt, denn sie pflegen langfristig zu wirken. Entscheidungen, die sich nur nach Geld und Technologie richten, könnten sonst erhebliche politische Kosten produzieren.
Neuhaus und Hodgers vergleichen die SRG mit dem Zirkus Knie, als eine nationale Institutionen, die seit Jahrzehnten zur jeweils gleichen Zeit in den verschiedenen Regionen auftritt und klar definierte Bedürfnisse befriedigt.
Im Übrigen greifen Hodgers und Neuhaus bei ihrer Deklaration gegen die Zentralisierung der SRG zu einem etwas eigentümlichen Bild: sie vergleichen die SRG mit dem Zirkus Knie. Der Vergleich ist nachvollziehbar, wenn man den Zirkus Knie als nationale Institution versteht, die seit Jahrzehnten zur jeweils gleichen Zeit in den verschiedenen Regionen auftritt und klar definierte Bedürfnisse befriedigt. Das ist der gegenwärtigen Führung der SRG vielleicht nicht so wichtig, denn sie argumentiert in der Auseinandersetzung um die Verlagerung der Berner Redaktionen ja vor allem mit ihrer Autonomie und der Unabhängigkeit von Staat und gesellschaftlichen Gruppierungen sowie mit der wirtschaftlichen Führung des Unternehmens.. Eine deutlich geringere Rolle spielen für die SRG-Spitze offenkundig die Anliegen der Sprachregionen, das heisst auch: die Bedürfnisse des Publikums. Aber möglicherweise unterschätzt die Leitung des nationalen Medienhauses die Möglichkeit, dass der Rückgang und der Abgang von beträchtlichen Teilen des Publikums nicht nur eine Frage der Digitalisierung ist, des zeitversetzten Sehens, der neuen Plattformen und Dienste wie Netflix und unzählige andere. Vielleicht ist insbesondere das Schweizer Fernsehen SRF auch an einem Punkt angelangt, an dem sein Angebot nur noch begrenztes Interesse weckt.
Geradezu symbolischen Wert hat für diesen Gedanken die Verabschiedung von Kurt Aeschbacher vom SRF-Bildschirm. Das ist wie ein Signal am Endpunkt einer Entwicklung: einer Verarmung des Service public der SRG. Und wenn man in Zusammenhang mit dem Abschied des Meisters der unterhaltenden Information oder der informativen Unterhaltung von Service public spricht, muss man gleich festhalten, dass sich der schweizerische Bundesrat schon sehr früh von der Entwicklung der BBC zu einem umfassenden «public Service» hat inspirieren lassen. Als die Radiogenossenschaft Zürich 1924 ihre Sendekonzession erhalten hat, wurde notiert: «Unterhaltung, Bildung und Nachrichten bilden die drei Pfeiler des Programms.» «Unterhaltung» an erster Stelle.
Wer in diesem Zusammenhang auf die Programmgeschichte des Schweizer Fernsehens schaut, stellt fest: Sendungen, welche Unterhaltung und Information auf mutige bis kühne Weise verbunden haben, feierten ihre hohe Zeit im Gefolge der Kulturrevolution von 1968 während knapp zwei Jahrzehnten. Da war das «Karussell», das von 1977 bis 1988 mit Kurt Aeschbacher und anderen auf angenehme und nur leicht provozierende Weise Information, Service und Unterhaltung verband. Da war die «Telearena», später «Telebühne», die zwischen 1976 und 1982 live im Studio Publikumsdiskussionen führte: über Antisemitismus, Sterbehilfe, Homosexualität, Gewalt und Polizeigewalt bei Demonstrationen. Sie tat das unter höchstem Druck von Seiten der Politik und höchstem Druck für die Macher und die Direktion. Da war etwas später wieder Kurt Aeschbacher, der sich mit seiner Talkshow «Grell-pastell» eine Konzessionsverletzung einhandelte, weil die deutsche Theologien Uta Ranke Heinemann den Papst wegen des Kondomverbots trotz der HIV-Übertragungsgefahr als «Mörder» bezeichnete.
All das waren Themen, die bis in die Gegenwart hineinreichen. Und all das lief live und mit vollem persönlichem und politischem Konzessions-Risiko für die Macher. «Grell-pastell» wurde als wohl letzte Sendung dieses Zuschnitts 1994 beendet. Es waren Sendungen, die den Service public der SRG wirklich zum Forum der Citoyens und Citoyennes gemacht haben. Kurt Aeschbachers letzte Talkshow läuft nun also am Ende dieses Jahres.
Mit der Konzentration auf Geld und Technologie – Sparen, Umziehen, Zentralisieren – werden SRG und SRF keine Begeisterung mehr wecken sondern nur mehr Widerstand oder auch gelangweilte Abwendung. «Der SRG weht ein eisiger Gegenwind entgegen», schreiben Hodgers und Neuhaus. Über die Richtung, aus der dieser Wind kommt, sagen sie nichts. Es scheint fast, als ob er gegenwärtig aus allen Richtungen gleichzeitig weht.
Die alten Feinde sind bekannt. Sie arbeiten immer noch an der Reduktion der Gebühreneinnahmen, etwa durch den Verzicht auf die Medienabgabe der Unternehmen. Die alten Konkurrenten aus den privaten Medienhäusern haben sich mit neuen Modellen gezeigt: Peter Wanner und Roger Schawinski wollen eine neue Verteilung des Mediengelds, auch dies zu Lasten der SRG. Und die alten Verbündeten fragen sich, ob der Einsatz für diese SRG sich noch lohnt. Man wird sie wohl nur zurückgewinnen mit einer echten Gesprächsbereitschaft und überzeugenden inhaltlichen Vorstellungen für einen neuen, dynamischen Service public.
Die Forderung nach einer vollwertigen Radioredaktion mit Inlands-, Auslands- und Wirtschaftsredaktion, also einem Kompetenzzentrum für Informationsjournalismus in Bern, wird bestehen bleiben und mit gebündelter Kraft vertreten werden. Desgleichen der Widerstand gegen die Zentralisierung in der Suisse Romande. Das macht die gemeinsame Erklärung von Regierungspräsident Christoph Neuhaus und Staatsratspräsident Antonio Hodgers klar.