Paywall-Premiere im Tessin: «Corriere del Ticino» baut um und stuft Zeitung zurück
Der «Corriere del Ticino» hat diese Woche einen neuen Newsroom in Betrieb genommen und auf Online-First umgestellt. Gleichzeitig führt der «Corriere» als erste Tageszeitung der italienischen Schweiz eine Bezahlschranke ein. Neue Abläufe bringen auch neue Hierarchien mit sich.
«Ab heute gilt: Digital first, smart print», schreibt Paride Pelli im Editorial des Corriere del Ticino vom 3.Dezember 2018. Und erklärt den mit Englisch weniger vertrauten Lesern im Tessin, was das bedeutet. Die digital produzierten und online verbreiteten Inhalte erhalten Priorität und werden intensiviert, die Website um multimediale Inhalte erweitert. Die gedruckte Zeitung steht für Hintergründe und Kommentare, kurzum vertiefende Inhalte. Damit will man sich den Lesegewohnheiten und jüngsten Entwicklungen im Zeitungswesen anpassen.
Die digitale Wende ist bei der Verlagsgruppe des Corriere del Ticino, der auflagenstärksten Tageszeitung im Tessin, auf Anfang Woche in Kraft getreten, gleichzeitig mit der Inbetriebnahme des neuen Newsrooms am Firmensitz in Muzzano bei Lugano. Dort sitzen nun Journalisten aus den unterschiedlichen Ressorts, des News-Portals Ticinonews und von cdt.ch, der Website der Zeitung, sowie Verantwortliche der Printausgabe beieinander. Hier werden die Inputs, die etwa aus den regionalen Aussenredaktionen kommen, gefiltert und verteilt. Teleticino und Radio 3i, die zur Unternehmensgruppe um den «Corriere» gehören, bleiben weiterhin am bisherigen Sitz der Sender in Melide tätig.
Der Corriere del Ticino hat rund 1,5 Millionen Franken in den neuen Newsroom investiert.
Das neue Newsroom-Konzept ist ein Vermächtnis des ehemaligen Verwaltungsratsdelegierten der Corriere-del-Ticino- Gruppe, Marcello Foa. Dieser ist mittlerweile (und trotz lauter Kritik an seinem Faible für Verschwörungstheorien) doch noch Präsident des italienischen Staatssenders RAI geworden. Der Corriere del Ticino hat rund 1,5 Millionen Franken in den neuen Newsroom investiert.
Eine Premiere für das Tessin ist die Einführung einer Bezahlschranke für die Online-Inhalte, so wie es bei anderen Titeln in der Schweiz schon länger üblich ist. Lesern der Webseite cdt.ch und der App leuchten überall rote Sterne entgegen. Diese signalisieren, dass der Inhalt nur gegen Bezahlung oder für Abonnenten frei geschaltet wird. Für die Premium-Inhalte gibt es bis Ende Dezember eine Aktion. Für 1 Franken sind alle Inhalte zugänglich. Am ersten Tag mit Bezahlschranke sollen die Clicks auf der Homepage eingebrochen sein, doch ist klar, dass die Nutzer für eine solche Umstellung einige Zeit brauchen.
Roter Stern heisst kosfenpflichtig.
Was das offizielle Editorial nicht sagt: Die Arbeit im Newsroom mit dem Online-First-Gebot verschiebt nicht nur die Abläufe, sondern auch die Hierarchien im Hause des Corriere del Ticino. Neuer starker Mann ist Paride Pelli, der publizistisch nach aussen bisher kaum in Erscheinung trat. Er verantwortete bisher den Webauftritt des Corriere und war Chefredaktor des Nachrichtenportals Ticinonews. Als Chefredaktor des Newsrooms hängt nun insbesondere von seinen Entscheidungen ab, was in den Online-Kanal und was in die Printausgabe beziehungsweise hinter die Bezahlschranke fliesst. Zum stellvertretender Chefredaktor des Newsrooms wurde Gianni Righinetti ernannt, der als Chef des Kantonsressorts in den letzten Jahren stark in Erscheinung getreten ist und auch auf Teleticino, dem TV-Sender der «Corriere»–Gruppe, die wichtigen politischen Diskussionssendungen führt.
Mit der digitalen Wende vollzieht der «Corriere» einen Generationenwechsel an der Spitze.
Der seit Januar 2016 als Chefredaktor des Corriere del Ticino amtierende Fabio Pontiggia wurde de facto herabgestuft, auch wenn sein Name nach wie vor als «Direttore responsabile» prominent auf der Front der Printausgabe der grössten Tessiner Tageszeitung prangt. Pontiggia, Jahrgang 1958, ist ein guter Analytiker, liberal-konservativ, einst persönlicher Mitarbeiter der rechtsfreisinnigen FDP-Staatsrätin Marina Masoni, hat aber mit den neuen Entwicklungen der Medienbranche seine liebe Mühe. Bezeichnend ist, dass das Editorial zur digitalen Wende des Corriere von Paride Pelli und nicht von Fabio Pontiggia geschrieben wurde. Erstaunlicherweise haben sich auch Verlagspräsident Fabio Soldati und Generaldirektor Alessandro Colombi nicht im Blatt zur neuen strategischen Ausrichtung geäussert.
Doch es ist klar: Mit der digitalen Wende vollzieht der Corriere einen Generationenwechsel an der Spitze. «Altgediente und erfahrene Printredaktoren der Ü50-Generationwie Pontiggia, Vizechef Bruno Constantini oder auch Hintergrund-Ressort-Leiter Carlo Silini werden in Richtung Abstellgleis manövriert», ist aus internen Quellen zu vernehmen. Denn die Print-Ausgabe hat nicht mehr oberste Priorität.
Mit Paride Pelli als Chef des Newsrooms ist die Familie Pelli zum bedeutendesten Player beim Corriere geworden. Sein Bruder Matteo Pelli, der als begabter TV-Entertainer bei RSI Karriere machte, ist mittlerweile Chef vom TV-Sender Teleticino und Radio 3i, die ebenfalls zur Verlagsgruppe gehören. Die beiden Brüder sind Söhne von Erasmo Pelli, dem ehemaligen FDP-Stadtrat von Lugano. Paride Pelli legt Wert darauf, die Familienbande nicht als Vitamin B für seine Berufskarriere zu interpretieren. «Non raccomandato» schreibt er auf seinem Twitter-Profil. Will heissen: «Ich bin nicht empfohlen/vermittelt worden.» Dort zeigt sich der neue starke Mann vom Corriere im Übrigen wenig aktiv. Der letzte Tweet stammt vom 7. November. Aktiver ist er auf Instagram, wo er dieser Tage schrieb: «Wähle die Arbeit, die du liebst, und du wirst in deinem Leben nicht mehr einen einzigen Tag arbeiten.»