von Nick Lüthi

«Am liebsten würde ich ein Porträt von Erwin Koch oder Margrit Sprecher über Relotius lesen.»

Das Magazin «Reportagen» veröffentlichte fünf Texte des fehlbaren Reporters Claas Relotius. Im Gespräch mit der MEDIENWOCHE erklärt «Reportagen»-Chefredaktor Daniel Puntas Bernet, warum er die nun weitherum hörbare Kritik an der Reportage als Gattung für überzogen hält. Er ist überzeugt: 99,9 Prozent der Reporter machen einen anständigen Job. Mit einem Reportagen-Festival und dem neuen «True Story Award» will Puntas Bernet das öffentliche Vertrauen in den Journalismus stärken.

MEDIENWOCHE:

Was war dein erster Gedanke als du von Relotius‘ Verfehlungen erfahren hast?

Daniel Puntas Bernet:

Ich dachte, das darf nich wahr sein. So ein toller Autor, so ein guter Reporter. Erst dachte ich, der muss irgendwie auf Abwegen gekommen sein, so dass er aus einer Drucksituation heraus möglicherweise ein, zwei «Spiegel»-Geschichten fälschte. Erst nach und nach realisierte ich, dass Relotius‘ Fälschungen System hatten.

MEDIENWOCHE:

Dein Magazin «Reportagen» veröffentlichte fünf Texte von Relotius. Im Rückblick: Hattest du bei deren Publikation je ein komisches Gefühl?

Daniel Puntas Bernet:

Wenn ich zurückdenke, kommt mir schon das eine oder andere wieder in den Sinn. Was ich damals dachte, war aber nicht so stark, dass ich misstrauisch geworden wäre oder ihm nicht vertraut hätte. Aber es gab da auch – und das sehe ich jetzt im Rückblick umso stärker – überall diese kleinen Unsauberkeiten.

MEDIENWOCHE:

Hast du damals Relotius darauf angesprochen?

Daniel Puntas Bernet:

Das habe ich gemacht. Zum Beispiel bei der Reportage «Cowboys im Visier», über arbeitslose White-Trash-Leute in den USA, die via Inserat auf Craigslist ein Opfer suchten und es dann ausraubten und ermordeten. Nach der Veröffentlichung des Texts wies uns ein Leser darauf hin, dass er eine ähnliche Geschichte drei, vier Monate zuvor im «Atlantic» gelesen hatte. Danach fragte ich Claas Relotius, ob er diese Reportage als Quelle genutzt und paraphrasiert habe. Im persönlichen Gespräch erklärte er mir dann, dass er mit der «Atlantic»-Reporterin schon mehrmals zusammengearbeitet habe. Auch für den «Guardian» seien sie gemeinsam unterwegs gewesen. Weiter sagte er, sie seien zusammen im Gerichtssaal gewesen und hätten einander über den Stand ihrer Arbeit ausgetauscht und einander gegenseitig Feedback gegeben. Sie hätten als Team besprochen, wie sie vorgehen würden. Das schilderte Relotius dermassen glaubwürdig und nachvollziehbar, dass ich mich mit dem zufrieden gab.

MEDIENWOCHE:

Hast du die Reporterin kontaktiert?

Daniel Puntas Bernet:

Nein, das habe ich nicht gemacht, ich habe ihm vertraut, dass das stimmt. Wie man jetzt lesen konnte, war das ja eines seiner Merkmale, dass er seine Fälschungen brillant zu vertuschen wusste. Sogar Juan Moreno, der «Spiegel»-Kollege, der mit seiner Nachrecherche Relotius schliesslich auffliegen liess, hatte wahnsinnig grosse Mühe, der Sache auf die Spur zu kommen. Seine Antworten waren dermassen gut, dass Moreno an seinem Verdacht zu zweifeln begann.

MEDIENWOCHE:

Gab es weitere Momente des Zweifels?

Daniel Puntas Bernet:

Da war noch der Artikel zum «Massaker in Marikana» an Bergarbeitern in Südafrika. Relotius war vor Ort, der Inhalt der Reportage war korrekt. Aber da gab es eine Figur, bei der irgendwas nicht stimmte mit der Entschädigung, die sie vom Staat erhalten sollte. Ein Südafrikanischer Buchautor hat den Text mit Google Translate auf Englisch übersetzt und gelesen. Er schrieb mir dann, dass es da ein paar Dinge gebe, die er komisch finde. Sein Mail habe ich Relotius weitergeleitet und um Stellungnahme gebeten. Der antwortete absolut ausführlich, detailliert, kohärent – brillant. Er schrieb auf Englisch. Ich leite die Mail dem Autor weiter und der sagte: Doch, ist nachvollziehbar. Wenn sogar der südafrikanische Sachbuchautor, der jahrelang zum Marikana-Massaker recherchierte für sein Buch, mit der Antwort von Relotius zufrieden gibt, was kann ich dann hier in Bern noch machen? Und dann gab es noch einen dritten Moment im Zusammenhang mit der ersten Geschichte für «Reportagen»: «Der Mörder als Pfleger». Der Pfleger und der Alzheimer-Häftling duschen gemeinsam und Relotius ist auch unter der Dusche. Als der Kranke in Panik verfällt, beginnt der Pfleger zu singen – und Relotius singt mit. Das beschreibt er so in seiner Reportage. Hollywood pur! Da denkt man dann schon: Das kann doch nicht sein. Ich fragte ihn, und er antwortete, selbstverständlich habe sich das so zugetragen unter der Dusche. Bei der Verleihung seines ersten Reporterpreises, den er für diese Geschichte erhielt, erzählte er in Berlin vor 500 Journalistinnen und Journalisten wie das damals gelaufen war. Er zeigte Bilder vom Gefängnis. Beim CNN-Award, den er für dieselbe Geschichte erhielt, machte er das Gleiche noch einmal. Niemand hätte gedacht, dass das ein Hochstapler ist.

MEDIENWOCHE:

Wer ist Claas Relotius?

Daniel Puntas Bernet:

Das ziemliche Gegenteil eines Tom Kummer. Ein grosser, schlaksiger Typ. Schon das Aussehen: Alte Hamburger Schule. Irgendwie bescheiden, kein Blender, keiner der kommt und sagt: Schaut her, hier bin ich, ich weiss, wo es lang geht, sondern zurückhaltend, fast schüchtern. Das hat das Vertrauen in ihn gestärkt. Als ich vom Fall erfuhr, rief ich eine «Spiegel»-Kollegin an, die eng mit Relotius gearbeitete hat. Sie weinte fast. Drei Jahre sitze sie nun neben ihm und er sei der feinste Kollege, den sie je hatte. Sie stand wirklich unter Schock und konnte nicht glauben, was geschehen war. Durch sein Auftreten, seine Art und seine tollen Geschichten stärkte er das Vertrauen in die Wahrhaftigkeit.

MEDIENWOCHE:

Du hast Relotius einmal als «Hausautor» bezeichnet. Warum passte das, was er schrieb, so gut zu «Reportagen»?

Daniel Puntas Bernet:

Weil er das, was wir suchen, idealtypisch verkörperte, nämlich Geschichten zu erzählen und nicht nur zu berichten. Wir könnten ja auch sagen, die Sache ist eigentlich ganz simpel: Es gibt in Amerika ein Gefängnis, dort werden die lebenslänglich verurteilten Alzheimerkranken von anderen lebenslänglich Inhaftierten betreut, die man zu Pflegern ausgebildet hat. Punkt. Das ist die Geschichte. Die Fakten sind da. Als ich ihn noch nicht kannte, rief mich Claas Relotius an und sagte, er wolle diese Geschichte erzählen. Worauf ich meinte, daraus eine Reportage zu machen betrachte ich als schwierig, denn dafür müsste man ja ins Gefängnis reinkommen und das dürfte nicht einfach sein. Danach hörte ich ein halbes Jahr nichts mehr von ihm. Aber er nahm es als Herausforderung an und war dann tatsächlich im Gefängnis drin.

MEDIENWOCHE:

Das ist belegt?

Daniel Puntas Bernet:

Ich rief damals vor sechs Jahren im Gefängnis an und sie bestätigten, dass er dort gewesen war. Über die Feiertage habe ich bei Relotius noch einmal per SMS nachgefragt und er meinte, es gebe ein paar Unsauberkeiten im Text, aber er sei drin gewesen. Mehr kann ich nicht herausfinden. Ich gehe aber davon aus, dass er auch hier übertrieben hat. Die Duschszene wird sich wahrscheinlich nicht genau so abgespielt haben. Aber zurück zur Frage, warum er so idealtypisch zu uns passte. Er hat die relativ schnell erzählte Geschichte vom Alzheimer-Gefängnis aufgrund der Personifizierung von Protagonisten anschaulich gemacht. Das heisst: Du liest nicht einfach einen Sachbericht über Alzheimer oder wie man das Problem im Gefängnis lösen kann, sondern du liest eine Geschichte, die es dir ermöglicht, in die Figuren hineinzufühlen und hineinzudenken. Kommt dazu, dass die beiden Protagonisten Schwerverbrecher sind, also nicht unbedingt liebenswerte Gesellschaftsmitglieder, aber du entwickelst Sympathien für sie, weil der eine gebrechlich ist und der andere ein Helfer, was einem natürlich nahe geht. So läuft es bei all seinen Geschichten. Er hat mit Beschreibungen, was die Leute machen, was sie fühlen und denken, dem Leser ermöglicht, in die Geschichte einzutauchen und sie mitzuerleben.

MEDIENWOCHE:

Relotius war nicht der einzige Fälscher in «Reportagen». Auch Tom Kummer hat euch betrogen.

Daniel Puntas Bernet:

Das ist eine völlig andere Geschichte. Kummer ist vom Typ her einer, der sich über den Journalismus stellt. Er ist ein Künstler, ein Autor, er ist Avantgardist, er ist ein Revolutionär, er ist ein Rebell, er ist vieles. Seine Fälschungen, seine Interviews bis 2000 waren Kunst, das war Literatur und alle haben es geliebt – aber er hat es nicht als Fiktion deklariert. Darum ist er aufgeflogen. Kummer ist ein guter Schreiber und als er eine zweite Chance im Journalismus suchte, gab ich sie ihm. Rückblickend kann man sagen, dass das naiv war von mir. Ich nahm ihm damals das Versprechen ab, dass er nie mehr Interview fälschen oder Sachen erfinden dürfe. Nachdem er es trotzdem wieder getan hatte, meinte er, man hätte ja die Textstellen aus dem «Spiegel» kursiv drucken können. Klar, hätte man tun können – wenn Kummer uns denn vorher gesagt hätte, dass es «Spiegel»-Zitate sind. Hat er aber nicht. Relotius hingegen ist einer, der klein angefangen hat als Lokaljournalist, die Hamburger Journalistenschule [es handelt sich um die Hamburg Media School, die er 2011 mit einem Master abschloss, Anm. d. Red.] so Relotius einen Master absolvierte und dann irgendwann merkte, das ist jetzt meine These, dass er nicht an die Leute ran kommt, die er braucht, um gute Geschichten zu schreiben.

MEDIENWOCHE:

Auch Kummer kam nicht an die Hollywood-Stars heran, zumindest nicht in der Weise, dass sie ihm das sagten, was er gerne von ihnen gehört hätte.

Daniel Puntas Bernet:

Da sehe ich keine Parallele zu Relotius. Kummer sitzt eine Viertelstunde ins Gruppeninterview mit den Stars und hört, was die für Banalitäten erzählen und dann fängt er an zu fantasieren und kreiert eine eigene Welt. Aber Relotius war tatsächlich vor Ort. In Fergus Falls war er 38 Tage! Die Hotelrechnung bestätigt das. 38 Nächte schlief er in einem einfachen Motel. Er hatte 38 Tage Zeit, dieses Städtchen kennenzulernen, mit Leuten zu reden, aber er hat es nicht geschafft. Ich habe das Gefühl, dass er in Wirklichkeit ein scheuer Typ ist und gar kein klassischer Reporter. Ein Reporter muss neugierig sein, muss frech sein, muss vorwärts gehen, muss Menschen anreden können, auf sie zu- und eingehen wollen und sie auch mal fair kritisieren. Auch muss er seine These über den Haufen werfen können und in eine neue Richtung recherchieren, wenn es mal nicht läuft. Diese Grundelemente der Reporter-DNA fehlen Relotius offensichtlich. Ihm schein es an Empathie zu fehlen, mit Menschen in Verbindung zu treten und wirklich etwas aus ihnen herauszuholen. Deshalb, so meine Vermutung, begann er zu erfinden. Als er merkte, dass das funktioniert und niemand einen Verdacht hegt, trieb er es immer weiter. Er wurde auch von extern bestärkt in seinem Vorgehen. Gleichzeitig konnte er sich einreden, dass er ja vor Ort war und der Rahmen stimmt. Seine Reportagen sind ja keine totalen Fakes.

MEDIENWOCHE:

Ist Relotius für dich die Ausnahme, welche die Regel bestätigt, dass eigentlich alles rund läuft?

Daniel Puntas Bernet:

Es ist ein Fall, den es seit Kummer, der vor 18 Jahren aufflog, so nicht mehr gab. Ich hoffe nicht, dass es wieder passiert, oder dann sollten mindestens wieder 18 Jahre ins Land ziehen. Das Gemeine an dem Fall Relotius ist ja, dass 99,9 Prozent der Reporter einen anständigen Job machen und verzweifeln, weil sie genau die geile Szene oder die spannende Figur mit der reizvollen Biografie nicht treffen, wenn sie auf Recherche sind. Wir werden aber nun sicher nicht ein Dispositiv von Kontrollen hochfahren oder Ähnliches. Die Basis des Reportage-Journalismus bleibt das Vertrauen zwischen Redaktion und Reporter. Wenn ich mich mit meinen Autorinnen und Autoren über ihre Geschichten unterhalte, entsteht eine Beziehung. Wir reden viel zusammen, überlegen uns ständig, ob wir den richtigen Ansatz gewählt haben. Und wenn der Reporter dann vor Ort ist, telefonieren wir, wenn die Geschichte nicht so rund läuft, wie ursprünglich vorgesehen, und suchen im Gespräch neue Lösungen. Ohne Vertrauen in die gegenseitige Arbeit geht das gar nicht.

MEDIENWOCHE:

Wie beurteilst du die bisherige Aufarbeitung des Skandals?

Daniel Puntas Bernet:

Ich habe mich schon gewundert, wieviele Leute nun plötzlich sagen: Ha, wir haben es schon immer gewusst, Reporter sind Egomanen, das sind die Schönschreiber, das sind jene, die sich alle Freiheiten nehmen, das sind gar keine Journalisten, die fühlen sich als Literaten. Das lese ich derzeit überall. Der Fall Relotius beweise, dass Storytelling im Journalismus nichts verloren habe. Im Journalismus gehe es um Fakten, Fakten, Fakten. Nur wegen einem Fall soll eine ganze Gattung, die seit hunderten von Jahren lebt, obsolet werden? Da staune ich schon, mit welcher Heftigkeit man jetzt auf dieser Gattung herumhackt und vergisst, dass Zeitungen täglich Reportagen veröffentlichen und es genau dieses Format ist, dass Lesern einen empathischen Zugang zur Welt verschafft.

MEDIENWOCHE:

Siehst du auch Positives an der bisherigen Debatte zum Fall Relotius?

Daniel Puntas Bernet:

Dass sich die Branche die Grundwerte unseres Job wieder mal vor Augen führt, ist sicher nicht falsch. Aber sonst fehlt uns etwas Entscheidendes für weitere Erkenntnisse: Wir wissen nicht, was den Mann geritten hat. Es sind alles nur Mutmassungen. Auch ich habe vorhin gemutmasst. Vielleicht liege ich damit völlig falsch. Ich weisse es nicht. Ich habe keine Erklärung für sein Vorgehen. Am liebsten würde ich demnächst ein Porträt von Erwin Koch oder Margrit Sprecher über Relotius lesen.

MEDIENWOCHE:

In der Kritik stehen auch Medienpreise, die falsche Anreize setzten. Nun wirst du bald selbst eine Preisveranstaltung organisieren, den «True Story Award» für Reportagen aus aller Welt. Habt ihr nach dem Fall Relotius zusätzliche Prüf- und Kontrollmechanismen eingebaut?

Daniel Puntas Bernet:

Ich werde den Jurys sicher sagen, dass der Druck auf Redaktionen und Juroren im Licht der Relotius-Affäre gestiegen ist. Aber eigentlich müsste ich das gar nicht erwähnen. Jeder Journalist, jeder Redaktor, jeder Juror wird automatisch die Latte höher legen. Die Juroren freuen sich und sind nun richtig geladen.

MEDIENWOCHE:

Wieviele Arbeiten wurden eingereicht?

Daniel Puntas Bernet:

Heute läuft die Frist ab. Es sind knapp 900 Texte aus über 100 Ländern.

MEDIENWOCHE:

Darunter kann es faule Eier haben.

Daniel Puntas Bernet:

Es gibt mehre Triagen. 200 Arbeiten haben wir bereits ausgesiebt, bei denen man auf den ersten Blick sieht, dass sie nicht taugen. In allen Jurys sitzen drei Persönlichkeiten aus dem jeweiligen Sprachraum, die nun zwei Monate Zeit haben, die Texte zu prüfen und die besten zu nominieren. Das ist meine Versicherung. Wenn drei ausgewiesene Profis das alles lesen und in nach eingehender Diskussion unter Berücksichtigung aller Kriterien unseres Preises die drei besten Texte auswählen, dann habe ich als Organisator schon eine recht grosses Gewähr, dass da nicht viel anbrennt.

MEDIENWOCHE:

Der Preis ist eingebettet in ein Reportagen-Festival, das im nächsten September in Bern stattfinden wird. Was erwartet das Publikum?

Daniel Puntas Bernet:

Sie werden Menschen erleben, denen sie sonst nie zuhören würden. Und zwar Reporter, Journalisten aus der ganzen Welt, die erzählen, wie sie arbeiten, wie sie einen Text recherchieren und ihre Geschichten erzählen. Wenn zum Beispiel ein indischer Lokaljournalist aus Kerala einem Schweizer Publikum erzählt, wie er einen Korruptionsfall in seiner Gemeinde recherchiert und aufgeschrieben hat, dann hat das eine Qualität und einen kulturellen Zugang, den man so noch nicht erleben konnte.

MEDIENWOCHE:

Was wollt ihr mit dem Festival erreichen?

Daniel Puntas Bernet:

Ich habe das Gefühl, jetzt ist die Zeit reif für ein solches Festival, weil die Leute im Sog des Medienwandels, der Medienkrise, von Social Media und Digitalisierung, verunsichert sind. Alle reden plötzlich von Fake News. Viele Leute lesen heute News nur noch auf Facebook, egal ob von Watson,von der NZZ oder von einem Troll aus Russland. Im Facebook-Stream können das viele gar nicht mehr unterscheiden. Darum ist es gerade jetzt so wichtig, aufzuzeigen, wie seriöse Medien und Journalisten arbeiten. Das ist meine Überzeugung. Und das ist der Antrieb für das Festival und nicht irgendwelche kommerziellen Überlegungen.

MEDIENWOCHE:

Warum braucht es da noch einen Preis?

Daniel Puntas Bernet:

Das ist absolut die richtige Frage. Du hast mich ertappt. Wir wollten immer schon ein Publikumsfestival auf die Beine stellen. Wir haben in einigen Ländern solche Festivals besucht und seit fünf Jahren überlegen wir, wie wir auch so etwas in Bern veranstalten könnten. Aber die Kosten! Die Organisation! Wir fanden keinen Schlüssel. Mit dem Preis ist das alles gelöst. Wenn man jemanden auszeichnet, dann hat er ein natürliches Interesse, anzureisen. Als reine Festivalorganisation ist das viel aufwändiger, das zeigten uns Beispiele aus Frankreich und Italien. Als wir die Preis-Idee hatten, merkten wir rasch, dass es so funktionieren könnte. Wir holen 42 Nominierte, 8 Haupt-Juroren und 14 Vertreter der Sprach-Jurys nach Bern – das sind 64 Reporter. Die haben heute schon Ihr Kommen zugesichert, wir müssen niemandem nachrennen. Aber die Essenz, und der Zweck der ganzen Sache, nämlich Journalismus fürs Publikum erfahrbar zu machen, ist das Festival. Der Preis ist ein Instrument, um dem Festival von Anfang an eine gewisse Flughöhe zu geben.

MEDIENWOCHE:

Sind Festival und Preis auch eine Werbeplattform für «Reportagen»?

Daniel Puntas Bernet:

Auf der Website «True Story Award» kommen wir gar nicht vor. «Reportagen»-Autoren dürfen auch mitmachen beim Preis, weil ich nicht in der Jury sitze. Das war einer meiner ersten Entscheide. Sonst hätte es den Beigeschmack, dass ich meinen Autoren Preise verleihe. Wir nennen das Festival Reportagen Festival Bern. Aber nicht mit unserem Schriftzug. Mit Reportagen ist die Gattung gemeint und nicht unser Heft. Unsere Autoren werden Anlässe moderieren, das Heft wird an einem Stand aufliegen, und natürlich freuen wir uns über neue Leserinnen und Leser. Aber es ist sicher nicht eine Marketingveranstaltung. Das würden die Festivalbesucher gar nicht goutieren.

MEDIENWOCHE:

Das Magazin «Reportagen» gibt es seit sieben Jahren. Ist das inzwischen auch ein lohnendes Geschäft?

Daniel Puntas Bernet:

Wir schreiben eine schwarze Null. Unsere Einnahmen decken die Ausgaben. Aber damit wir überhaupt zu diesem Punkt gekommen sind, brauchten wir in den ersten Jahren Anfangsinvestitionen, um die Verluste zu tragen. Das heisst, wir sind noch nicht schuldenfrei. Wir haben aber Gläubiger, die nicht zwanzig Prozent Rendite sehen wollen. Es sind aber auch nicht Philanthropen, die sagen nehmt und macht, sondern Leute, die uns helfen wollten, in die Gänge zu kommen. Wenn es mal läuft, schauen wir, wie wir das Geld zurückzahlen.

MEDIENWOCHE:

Aufwändige Erzählformate gibt es inzwischen an jeder Ecke, ob Longreads, Podcasts oder auch Reportagen in Tageszeitungen. Droht «Reportagen» das Schicksal vieler Pioniere zu widerfahren und vom allgemeinen Trend überrollt zu werden?

Daniel Puntas Bernet:

Dafür gibt es keine Anzeichen. Aber es ist natürlich schon eine reale Möglichkeit. Eine entscheidende Frage der Zukunft wird die Print-oder-Online-Frage sein. Aktuell ist es so, dass Reportagen zwar digital auf der Webseite gelesen werden kann, aber 95 Prozent unserer Abonnenten bevorzugen Print. Wir bedienen nicht nur die lange journalistische Form wie andere auch, sondern auch den Sofa-, Ferien- oder Hängematten-Leser, der in dieser Konstellation nicht unbedingt ein digitales Gerät in dann Händen halten möchte. Da kommt ihm ganz zupass, wenn er ein Büchlein in den Händen halten kann.

MEDIENWOCHE:

Wie geht es mit «Reportagen» weiter?

Daniel Puntas Bernet:

Ich wünschte mir zusätzlich zur bestehenden Leserschaft durch einen niederschwelligeren, breiteren Zugang mehr Leserinnen und Leser. Das aktuelle Format in Buchform und mit ausschliesslich Text und keinen Bildern schliesst vielleicht potentiell interessierte Leser aus. Die müsste man anders, zum Beispiel mit einem Zeitungsformat, an Reportagen heranführen. Das zweite ist natürlich das gesprochene Wort. Das ist mir ein besonderes Anliegen. Bei den ersten zehn Ausgaben haben wir die Texte professionell einsprechen lassen. Das hat damals aber niemanden interessiert, das Timing war schlecht. Den erste Podcast-Boom hatten wir verpasst und der aktuelle noch nicht eingesetzt. Unser Angebot hat damals, 2012 und 2013, niemanden interessiert. Das war eine teure Erfahrung. Deshalb liessen wir bis anhin die Finger davon, auch weil wir für Podcasts noch kein Finanzierungsmodell gefunden haben. Ausserdem werden wir mit dem «True Story Award» und dem Reportagen-Festival Bern fürs Erste ausgelastet sein.

Leserbeiträge

Robert Weingart 10. Januar 2019, 22:34

Puntas Bernet gehört zu der Sorte, die wohl nichts daraus lernen. Weil er genau diese Art Journalismus befördert.

Michael von Graffenried 10. Januar 2019, 23:29

ja, ich will auch ein Porträt über Relotius von Margrit Sprecher lesen, wer gibt ihr den Auftrag und würdest Du’s machen Margrit?

christian schmidt 14. Januar 2019, 10:59

Es braucht kein Porträt über Relotius. Er wird sich selbst alsbald mit einem Buch über seine Zeit als Fälscher melden. Das ist aus psychohygienischen Gründen  das Beste, das er machen kann. Ein Verlag wird sich zweifellos finden.

Frank 14. Januar 2019, 20:15

„Wir werden aber nun sicher nicht ein Dispositiv von Kontrollen hochfahren oder Ähnliches. Die Basis des Reportage-Journalismus bleibt das Vertrauen zwischen Redaktion und Reporter. „

Das ist die Antwort eines Magazins auf seinen zweiten Fälschungsskandal?

Und ausgerechnet jetzt Erwin Koch als Autor zu nennen, den man gerne beauftragen würde – jener Autor, der immer so genau zu wissen glaubt, was im Kopf seiner Protagonisten vor sich geht.

Ist das jetzt naiv? Oder dumm? Oder hat das System?

(Zum Thema Faktentreue: Relatius war nicht auf der Hamburger Journalistenschule, womit die Nannen-Schule gemeint ist, sondern auf der Hamburg Media School)