von Nick Lüthi

Das Internet von gestern und das Mediengesetz von morgen

Was hat der erfolglose Bildschirmtext aus den 1980er-Jahren, in der Schweiz bekannt als Videotex, mit dem neuen Mediengesetz zu tun? Mehr als man meint. Der Internet-Vorläufer sorgte für einen Verfassungsartikel, der heute die Grundlage bietet für eine mögliche finanzielle Unterstützung von Online-Medien.

In der überhohen, mit unzähligen Exponaten vollgestopften Glasvitrine fällt das Gerät nicht speziell auf. Es ist ein Objekt, wie man es in einem Museum für Kommunikation erwartet und ihm darum entsprechend geringe Beachtung schenkt.

Das Modell mit der Markenbezeichnung Ascom Vittel 100 sieht aus wie ein Personal-Computer aus früheren Zeiten: Anspruchsloses Design, cremefarbenes Gehäuse, klobige Tastatur, gewölbter Glasbildschirm – so weit so bekannt. Auf den zweiten Blick erst fällt der Telefonhörer auf, der oberhalb der Tastatur seinen Platz findet. Dabei handelt es sich um das Herzstück des Geräts. Denn über die Telefonleitung gelangte man mit dem Apparat von Ascom ins «Internet der damaligen Zeit», wie sich heute Nostalgiker ausdrücken, die ihre Erinnerungen an den Bildschirmtext online dokumentieren. Das «Internet» der 1980er-Jahre hiess in der Schweiz Videotex und nahm vieles vorweg, was wir heute im Internet für selbstverständlich halten.

Was der Museumsbesucher beim Blick auf das historische Kommunikationsgerät nicht erfährt, und wohl auch kaum erahnen würde, ist dessen anhaltende Wirkung auf die schweizerische Medienpolitik.

Einer der vielen umstrittenen Punkte bei der Neugestaltung der schweizerischen Medienordnung, ist jener nach der Regulierungskompetenz des Bundes im Internet, beispielsweise: dürfen und sollen Online-Medien finanziell unterstützt werden, ähnlich dem gebührenfinanzierten Radio und TV. Während der Bundesrat in seinem Vorentwurf zum neuen Gesetz über elektronische Medien auch Online-Medien für förderungswürdig hält, sehen regulierungskritische Kreise keine Grundlage in der Verfassung für ein obrigkeitliches Eingreifen ins Internet.

Beide berufen sich auf den Medienartikel in der Bundesverfassung:

Art. 93Radio und Fernsehen
1 Die Gesetzgebung über Radio und Fernsehen sowie über andere Formen der öffentlichen fernmeldetechnischen Verbreitung von Darbietungen und Informationen ist Sache des Bundes.

Entscheidend ist die Auslegung der Passage: «… sowie über andere Formen der öffentlichen fernmeldetechnischen Verbreitung». Ist damit auch das heutige Internet gemeint? Gegner dieser Auslegung weisen darauf hin, mit den «anderen Formen» könne sicher nicht das Internet gemeint sein. Schliesslich sei der Medienartikel zu einem Zeitpunkt in die Verfassung aufgenommen worden, als es weit und breit kein Internet gegeben habe.

«In den 1980er Jahren, als der Rundfunkartikel redigiert wurde, war in keiner Weise voraussehbar», schreibt die Rechtskonsulentin des Verbands Schweizer Medien, «dass sich durch die Vernetzung einzelner Computer, vor allem zu wissenschaftlichen und militärischen Zwecken in der USA, wenige Jahrzehnte später das revolutionärste interaktive Medium der Geschichte entwickeln würde. Diese Entwicklung konnte der Verfassungsgeber, also das Stimmvolk, nicht in seinen wildesten Träumen voraussehen, und somit auch nicht in die Regelung über Rundfunk und Radio einbezogen haben wollen.» Auch Rechtsprofessoren teilen diese Einschätzung und behaupten, der Verfassungsartikel beziehe sich ausschliesslich auf Radio und Fernsehen. In der Vernehmlassung zum geplanten Gesetz über elektronische Medien äusserten regulierungskritische Akteure diese Meinung.

Wer verstehen will, was der historische Gesetzgeber Mitte der 1980er-Jahre mit diesen «anderen» Formen gemeint haben könnte, findet im sogenannten Bildschirmtext die Antwort, in der Schweiz unter der Markenbezeichnung Videotex bekannt. «Bei der Schaffung des Radio- und Fernsehartikels wurde Videotex immer wieder als Beispiel für eine ‹andere Form› erwähnt. Dies erfolgte im Bewusstsein, dass es bei diesem Dienst nicht um Radio oder Fernsehen ging, sondern um ein Angebot mit interaktiven Möglichkeiten», schreibt etwa Martin Dumermuth, Medienrechtler und Direktor des Bundesamts für Justiz.

Worum es sich beim Videotex handelt, beschrieb der Bundesrat in seiner Botschaft zum neuen Radio- und Fernsehartikel im Juni 1981 so: «Beim Telefon-Bildschirmtext (Videotex) werden Texte und Grafiken, die in Datenbanken gespeichert sind, über das Telefonnetz auf den Fernsehbildschirm gebracht. Dieses Verfahren erlaubt dem einzelnen Benutzer, die Inhalte von verschiedenen Datenbanken beliebig abzurufen und auch selber Meldungen in die Speicher einzugeben. Ein Austausch von Texten und Meldungen ist auch zwischen einzelnen Teilnehmern möglich.» Die Möglichkeiten seien «kaum absehbar». Sie reichten «bis zum bargeldlosen Ferneinkauf und zur ärztlichen Ferndiagnose». Die Analogie zum Internet liegt auf der Hand.

Grosses Interesse am Videotex zeigten die Zeitungshäuser. Eine Arbeitsgruppe des Verlegerverbands, bestehend aus Vertretern aller grossen Schweizer Medienunternehmen, präsentierte 1980 an der Frühjahrsausstellung BEA in Bern eine «Bildschirmzeitung». Die von der Berner Zeitung BZ bereitgestellten Nachrichten konnten allerdings nur auf Geräten in den Ausstellungshallen selbst gelesen werden. Das Ganze fand unter dem Patronat der PTT statt, die im Rahmen eines Pilotversuchs mit dem neuen Medium auf Tour ging durch die Schweiz.

Am 2. Dezember 1984 nahmen Volk und Stände mit 69% Ja-Stimmen den neuen Medienartikel an und hiessen damit eine erstaunlich weitsichtig formulierte Grundlage gut, die bis heute einen sinnvollen Rahmen für ein Mediengesetz hergibt.

Wer den Dienst privat nutzen wollte, musste sich bei den PTT ein Videotex-Gerät mieten für rund zehn Franken im Monat. Der Apparat glich den frühen Personalcomputern mit Tastatur, Bildschirm, integriertem Modem oder Akustikkoppler für den Telefonhörer. In späteren Jahren konnten auch handelsübliche PCs mit entsprechender Software und einem Modem das Netzwerk nutzen. Damit konnten die Nutzerinnen und Nutzer auf ein «ein elektronisches Telefonbuch, Chat-Plattformen, eine Art E-Mail, Online-Shopping bei Jelmoli und ein Telebanking, das sich vom heutigen E-Banking nur unwesentlich unterschied» zugreifen, schrieb Swisscom vor zwei Jahren in einem Rückblick auf das Pioniermedium ihrer Vorgängerin PTT. Ganz billig war der Spass nicht. Abgerechnet wurde nach Nutzungsdauer.

Die hohen Kosten waren denn auch einer der Gründe, dass sich das Interesse in überschaubaren Grenzen hielt. Mehr als 100’000 Abonnenten erreichte Videotex nie. Nach einer kurzen Blüte Ende der 1980er-Jahre, versank das System in der Bedeutungslosigkeit, erst recht, nachdem das Internet mit dem damals neuen World Wide Web Anfang der 1990er-Jahre durchzustarten begann. Das WWW bot von Anbeginn attraktivere Angebote als der Bildschirtmtext. Am 31. September 2000 zog die Swisscom als Nachfolgerin der PTT den Stecker, Videotex war Geschichte.

Trotz seiner geringen Verbreitung entfachten sich am und um den Videotex lebhafte Debatten über Sinn und Nutzen neuer Telekommunikationsformen. Streitschriften wurden verfasst, kritische Artikel geschrieben, dabei ging es um Datenschutz, um Hacker-Angriffe, um Pornografie und immer auch um die Rolle des Staates als Regulator – alles Fragen, die uns heute im Zusammenhang mit dem «richtigen» Internet beschäftigen. Die Journalistengewerkschaft SJU forderte gar ein Videotex-Gesetz, um «Fragen wie Haftung, Kontrolle und Sanktionen bei Missachtung des Datenschutzes» klar zu regeln.

Auch wenn es die Verfassung zulässt, Online-Medien zu fördern, heisst das noch lange nicht, dass das auch so gemacht werden muss. Aber der Medienartikel ermöglicht, so wie er ist, eine breite Diskussion über mögliche Fördermassnahmen. Das ist angebracht angesichts der ernüchternden Einsicht, dass es nur für ganz wenige grosse, reichweitenstarke Online-Medien eine nachhaltige Finanzierung über Abos und/oder Werbung gibt.