von Adrian Lobe

Startrampe für den Hass im Netz

Der Anschlag von Christchurch offenbart eine neue mediale Machart des Verbrechens: Die Tat wurde so designt, dass sie maximale Aufmerksamkeit im Netz erzeugte. Eine wichtige Rolle spielte das Online-Forum 8chan, wo der Hass in aller Öffentlichkeit vor sich hin gärt.

Der Terroranschlag auf zwei Moscheen in Christchurch, bei dem letzte Woche 50 Menschen getötet wurden, hat eine Diskussion über die Rolle der (sozialen) Medien entfacht. Der Attentäter, ein 28 Jahre alter Australier, hatte seine Tat live auf Facebook gestreamt. Mehrere Boulevardzeitungen, darunter die «Sun» und «Bild», zeigten Ausschnitte des 17-minütigen Massakervideos. Die «Daily Mail», aber auch der «Tages-Anzeiger», verlinkten auf das Manifest. Auf Youtube war das Video vier Stunden nach der Tat noch immer abrufbar, bevor es von der Plattform entfernt wurde. Youtube musste nach eigenen Angaben mehrere tausend Kopien löschen.

Die Medienkritik zielt in zwei Richtungen. Erstens: Die Medien hätten dem Attentäter eine Bühne geboten. Zweitens: Plattformen wie Facebook, Youtube oder Twitter seien viel zu zögerlich gewesen beim Löschen der Inhalte.

Die automatische Inhaltsprüfung, vor allem Youtubes Content-ID-System, die Gewaltvideos löschen sollte, hätte versagt. Facebook musste eingestehen, dass das Video 4000-mal angesehen wurde, bevor es gelöscht wurde. In den ersten 24 Stunden seien 1,5 Millionen Uploads des Videos entfernt, weitere 1,2 Millionen beim Versuch blockiert worden, die Bilder hochzuladen.

Wer das 74-seitige «Manifest» mit dem Titel «Der grosse Austausch» («The Great Replacement») durchliest, das noch immer im Internet abrufbar ist, stellt fest, dass der Attentäter eine Wette auf den viralen Effekt seiner Tat abgeschlossen hat. Das krude Dokument, das die rechtsextreme Gesinnung des Täters offenbart, ist fast durchgängig als Selbstinterview mit Fragen und Antworten verfasst, als wollte der Autor seine eigene Berühmtheit demonstrieren. Mit der gewählten Darstellungsform bezieht er sich zudem auf die im Internet verbreiteten FAQ (dt. für häufig gestellte Fragen).

«Eine Massenschiesserei aus dem Internet und für das Internet»
Kevin Roose, New York Times

Auf die (selbst gestellte) Frage, warum er Schnellfeuerwaffen als Mordinstrumente auswählte, antwortet er: «Ich habe mich für Feuerwaffen entschieden wegen der Auswirkungen, die sie auf den sozialen Diskurs haben würden, die zusätzliche Medienberichterstattung, die sie bieten würden, und den Effekt, den es auf die USA und deshalb auf die politische Situation der Welt haben würde.» Je grausamer das Verbrechen, so das Kalkül, desto grösser die mediale Aufmerksamkeit. Der perfide Plan ging auf. Der Täter lieferte die Bilder und er bestimmte die Agenda. «Eine Massenschiesserei aus dem Internet und für das Internet», so fasste es die «New York Times» zusammen.

Haben sich die Medien durch die Übernahme der Live-Videos, beziehungsweise mit der Verlinkung des Manifests, zum Komplizen des Täters gemacht? Es ist nicht das erste Mal, dass Verbrechen live in sozialen Netzwerken gestreamt werden. Im April 2017 wurde die Ermordung eines Rentners in Cleveland auf Facebook gepostet (der Mörder wurde als «Facebook-Killer» apostrophiert). Auch der Terrorist, der im Juni 2016 in einem Polizeirevier bei Paris einen Polizisten, dessen Ehefrau sowie eine Sekretärin erschossen hatte, streamte seine Tat live auf Facebook. Dass Kriminelle die Medien als Propaganda-Plattform nutzen, ist kein neues Phänomen. Auch 9/11 war ein Massenmord vor laufenden Kameras. Der Vorwurf des Voyeurismus und des Sensationalismus wurde in der medienethischen Diskussion in der Vergangenheit immer wieder vorgebracht.

Terror in Zeiten von Suchmaschinenoptimierung und Social Media ist planvoller, kalkulierter – und noch mehr auf seine Inszenierung bedacht.

Neu ist die Machart des Verbrechens von Christchurch: Der Täter hat den Ablauf seines Massakers so «designt», dass sich damit maximale Aufmerksamkeit im Netz erzeugen liess. Zwei Tage zuvor hatte der bekennende Rechtsextreme bereits die Lunte für sein Attentat gelegt, indem er in sozialen Netzwerken Links zu seinem Live-Stream und seinem Manifest postete. Die Tat kündigte er im Online-Forum 8chan an, einem der Schauplätze der Gamergate-Szene, welche die feministische Kritik an der Sexualisierung und Misogynie in Videospielen mit Drohungen und Gewaltaufrufen beantwortete. Terror in Zeiten von Suchmaschinenoptimierung und Social Media hat also nochmal eine ganz andere Qualität: Es ist planvoller, kalkulierter – und noch mehr auf seine Inszenierung bedacht.

Der Attentäter filmte die Tat mithilfe einer Go-Pro-Kamera aus der Ego-Shooter-Perspektive. Unterlegt wurde das Video mit rechtsextremen Musiktiteln wie «Remove Kebab», ein antimuslimisches, serbisch-nationalistisches Propagandavideo. Die Videospiel-Ästhetik – der Stream wirkt wie eine hyperreale Version eines Shooter-Games –, erklärt, warum das Video auf 8chan so viel Beifall erhielt.

Bevor der Attentäter die Waffen im Kofferraum seines Fahrzeugs verstaute und zur Moschee fuhr, rief der Schütze seine Zuschauer auf, den Youtube-Kanal von PewDiePie zu abonnieren – der populäre Youtuber war auch schon wegen antisemitischer Witze in die Kritik geraten. Nach der Empfehlung durch einen Mörder sah sich PewDiePie zu einer öffentlichen Distanzierung gezwungen. Wer von den 90 Millionen Followern des schwedischen Youtube-Stars bis dahin noch nichts über den Massenmord in Neuseeland erfahren hatte, wusste es spätestens jetzt.

«Schockvideos, vor allem mit drastischem Filmmaterial aus der ersten Person, sind der Ort, wo Reality-TV auf gewaltsame Game-Kultur und aufmerksamkeitserweiternde Algorithmen trifft.»
Jonathan Albright, Washington Post

Die Kombination narrativer und dramaturgischer Elemente, in Kombination mit algorithmischen Empfehlungsmechanismen sorgte dafür, dass der Attentäter von Christchurch auf allen Plattformen spielte. Jonathan Albright, Forschungsleiter beim Tow Center for Digital Journalism der Columbia University, sagte der «Washington Post»: «Schockvideos, vor allem mit drastischem Filmmaterial aus der ersten Person, sind der Ort, wo Reality-TV auf gewaltsame Game-Kultur und aufmerksamkeitserweiternde Algorithmen trifft.»

Waren also wieder einmal die allmächtigen Algorithmen verantwortlich für die geradezu obszöne Prominenz des Terroranschlags in den Medien? Diese Erklärung wäre zu einfach. Eine ebenso wichtige Rolle spielten auch althergebrachte Publikations- und Distributionsformen. Auf dem notorischen «Hate-Hub» 8chan wird sekündlich aufgewiegelt und diskutiert, unter anderem über die Ereignisse in Neuseeland. Das Portal, das sich mit dem Label «Dunkelste Reichweiten des Internets» schmückt, besitzt eine ganz eigene Dynamik. Auf der minimalistisch gehaltenen Startseite erscheinen diejenigen Diskussionsstränge zuerst, in denen zuletzt kommentiert wurde. In den Unterforen wimmelt es von rassistischen, antisemitischen und volksverhetzenden Kommentaren. Hitler-Zitate und Holocaust-Leugnungen sind da noch die harmlosesten Äusserungen. Der rassistische und gewaltverherrlichende Exzess wird hier ganz ohne Algorithmen befeuert.

Das Online-Forum 8chan ist so etwas wie eine Klickfarm für Hassbotschaften.

Nach Angaben von Facebook stellte ein Nutzer von 8chan einen Link auf eine Kopie des Tätervideos bereit. Die Links im Hass-Forum spielen bei der Verbreitung von Inhalten eine wichtige Rolle. So auch im Fall von Christchurch. 8chan ist so etwas wie eine Klickfarm für Hassbotschaften. Möglicherweise ziehen sich Rechtsextreme auch gezielt in solche Foren zurück, die frei von algorithmischer Regulierung sind.

Auf Drängen der australischen Regierung haben Internet-Provider wie ISP Vodafone, Telstra und Optus den Zugang zu 8chan vorübergehend blockiert. Die Massnahme war nicht unumstritten: Auf Twitter und in den Kommentarspalten der Zeitungen war von Zensur die Rede. Google hat das Problem auf seine Weise gelöst, indem es 8chan bereits 2015 (damals wegen des Verdachts auf Kindsmissbrauch) aus seiner Trefferliste entfernte. Effektiv ist das nicht, weil der erste Suchtreffer weiterhin zum entsprechenden Wikipedia-Artikel führt, wo der Link zum Forum vermerkt ist. Aber zumindest ein erster Schritt, Hetzern keine Plattform zu bieten.

«Zentral für jede Entscheidung bei der Berichterstattung muss der potenzielle Nachrichtenwert des Inhalts sein, über den man berichtet oder worauf man verlinkt.»
Susan E. McGregor, Journalismus-Professorin

Wie sollen Journalistinnen und Journalisten mit solchen extremistischen Foren umgehen? Darüber berichten? Gar daraus zitieren? Oder soll man sie ignorieren? Für die Berichterstattung spricht das Argument, dass man das Milieu, aus dem ein Täter kommt, ausleuchten sollte, um mehr über die Motive zu erfahren. Dagegen spricht, dass man bei bestimmten Personen ein Interesse weckt und mögliche Nachahmungstäter animiert. Für die Journalismus-Professorin Susan E. McGregor, die an an der Columbia Universität in New York forscht, ist das immer eine Einzelfallentscheidung. Auf Anfrage der MEDIENWOCHE teilt sie mit: «Zentral für jede Entscheidung muss der potenzielle Nachrichtenwert des Inhalts sein, über den man berichtet oder worauf man verlinkt.» Bei einem Manifest stelle sich die Frage, ob der Inhalt «einzigartige oder unübliche Einsichten in den Vorfall» bringe und so aufbereitet werden könne, dass der Leser ein Gefühl für die Motive des Täters bekommt, ohne diese zu verbreiten. «In den meisten Fällen verwenden Journalisten keine direkten Zitate. Genauso wenig sollten komplette Interviews veröffentlicht werden, wenn man sie nicht selbst geführt hat.» Statt direkt zu verlinken könne man Inhalte auch zusammenfassen und nur so viel wie nötig davon übernehmen, so McGregor.

Um zu verhindern, dass Medien von Terroristen als Sprachrohr missbraucht werden, rät die Forscherin auf Kriterien wie Nachrichtenwert und Relevanz zu achten. «Ich würde argumentieren, dass das Vertreten extremer Ansichten einen Einzelnen oder ein Ereignis noch nicht nachrichtenwert macht.» In den USA hätten die Medien viel über eine rechtsextreme Kundgebung im August 2018 berichtet, wo lediglich ein paar Protestteilnehmer versammelt waren, kritisiert McGregor. In einer Zeit, wo Medien von extremistischen Gruppen instrumentalisiert würden, sei es «essenziell, dass Journalisten sorgfältig den Substanzwert der Berichterstattung prüfen, bevor sie ihnen eine breitere Plattform gewähren.»